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DIE ZEIT/ Feuilleton

Nr. 51, 22. Dezember 1967

 

 

Noch einmal anfangen können

Ein Gespräch mit Max Frisch

Von Dieter E. Zimmer

 

 

In Ihrer Schillerpreis-Rede, 1965, skizzierten Sie eine neue Dramaturgie: eine „Dramaturgie des Zufalls“ gegenüber der herkömmlichen „Dramaturgie der Fügung“. Diese, sagten Sie, erbrachte „unentwegt den Beweis, daß es so und nicht anders habe kommen müssen“; die andere, neue hätte im Gegenteil zum Vorschein zu bringen, „daß mit den gleichen Figuren auch eine ganz andere Fabel hätte stattfinden können“. Ihr neues Stück, die „Biografie“ – das ist doch eine praktische Erprobung dieser neuen Dramaturgie?

MAX FRISCH: Ich verkünde keine neue Dramaturgie. Natürlich reflektiert man seine eigene Arbeit, aber was dabei herauskommt, meine ich nicht als Postulat für andere ... Ich hatte seit einiger Zeit einfach Mühe mit dem Theater. Die Frage nach der Beliebigkeit jeder Geschichte, eine Frage, die ich nicht beantworten kann – drum drängt sie mich ja zur Darstellung, darstellen heißt auskundschaften – mein Thema also und die Dramaturgie, die ich gelernt habe, das ging nicht zusammen. Daher drängte das Thema mich vorerst in den Roman; aber das Spiel mit Varianten, wie es „Gantenbein“ betreibt, ist im Grunde anti-episch, eigentlich Theater. Kein Zufall, daß Theaterproben mich mehr faszinieren als die fertige Aufführung: weil Varianten eines Vorgangs mehr offenbaren als der Vorgang in seiner endgültig-einzigen Form. Die Frage ist nur: Wie etablieren wir die Variante dramaturgisch? Das Theater begann mich zu langweilen. Warum? Jeder Verlauf, der dadurch, daß er stattfindet, alle anderen möglichen Verläufe ausschließt, mündet in die Unterstellung eines Sinns, der ihm nicht zukommt (heißt es in dem Text, den Sie zitieren), das Gespielte hat einen Hang zum Sinn, den das Gelebte nicht hat. Von daher verstehe ich den Versuch der Happenings, die, um jeder Dramaturgie der Fügung zu entgehen, die Bühne ganz verlassen. Nur gehen diese Versuche weiter als mein Versuch, sie heben das Theater überhaupt auf, während wir es weiter mit dem Theater versuchen: ohne die Dramaturgie der Fügung. Aber wie gesagt, nehmen Sie diese theoretischen Notizen nicht als Postulate, sie reflektieren lediglich die eigene Arbeit.

Erbringt das Stück nun aber nicht gerade den Beweis, daß es sehr schwer ist, eine bestimmte Biografie loszuwerden? Ihrem Verhaltensforscher Kürmann, dem Sie die Möglichkeit geben, sein Leben nachträglich zu revidieren, gelingen doch – da er weder seine Anlagen noch die Verhältnisse ändern kann – trotz aller Mühe nur zwei bescheidene Korrekturen seiner Biografie: Eine eheliche Ohrfeige fällt aus, und er tritt der KP bei – das aber nicht aus Überzeugung, sondern nur um der Veränderung selbst willen. Sind Sie also bei der Erprobung der Zufalls-Dramaturgie zu dem Ergebnis gekommen, daß eine Lebensgeschichte doch eine ziemlich hartnäckige Zwangsläufigkeit besitzt?

FRISCH: Ich wollte nicht etwas Vorgedachtes beweisen, sondern ein Spiel durchführen, um zu erfahren, wie ich erlebe. Schreiben als Selbsterfahrung. Man hat sein Credo oder Non-Credo, es kann durch Darstellen bestätigt oder widerlegt werden. Das verstehe ich unter Auskundschaften. Schreiben ist ein abenteuerliches Unternehmen, man setzt sich seiner Erfahrung aus.

Hat die Erfahrung Sie überrascht?

FRISCH: Zeitweise war ich geradezu bestürzt. Ich dachte auch, daß ein Mensch, wenn er nochmals anfangen und nochmals wählen kann, eine ganz andere Geschichte vorlegt, etwas Verblüffendes, so daß er kaum wiederzuerkennen sein würde. Das erwartet wohl jedermann, der sagt: Wenn ich nochmals anfangen könnte ...! Die Frage nach der Beliebigkeit jeder Geschichte, ins Spiel gestellt ohne Garantie, daß dabei Gott herausschaut, und infolgedessen das Mißfallen an einer Dramaturgie, die nur den zwangsläufigen Ablauf als glaubhaften Ablauf anbietet und damit unterstellt, daß eine Geschichte (Biografie oder Weltgeschichte) nur so und nicht anders habe verlaufen können; andererseits die Faszination des Theaters, wenn probiert wird, die Proben-Einsicht, daß Varianten eines Vorgangs mehr offenbaren als der Vorgang in seiner endgültigen Form, und infolgedessen die Suche nach einer Möglichkeit, die Variante dramaturgisch zu etablieren, und infolgedessen, eins aus dem andern, der simple Einfall: Ein Mann, der nochmals anfangen und wählen kann – so konsequent mag es erscheinen; der Schreiber selbst erlebt es nicht so, wenn er einem Einfall nachgibt. Offenbar spielt sich hier schon ab, was zum Thema des Stücks gehört: Inwiefern wählen wir das Thema, inwiefern sind wir, wenn wir zu wählen meinen, gesteuert und vertuschen es vor uns selbst, indem wir im nachhinein plausibel machen, warum wir das und das „gewählt“ haben? Je wacher einmal der Verdacht, daß wir gesteuert sind, um so lebhafter wird das intellektuelle Bedürfnis, dieses Kürmann-Bedürfnis, noch einmal anzufangen und in seinem Leben irgend etwas anderes zu machen, und sei’s auch nur, um sich den Nachweis zu erbringen, daß wir wählen können. Auch dem Stückschreiber könnte dieser Registrator sagen: Warum wählen Sie denn jedesmal dasselbe Thema? Worauf ich wie Kürmann sagen möchte: Fangen wir noch einmal an! Nur geht das eben in der Wirklichkeit nicht; die Genehmigung, daß einer nochmals anfangen kann, gibt nur das Theater.

Woran liegt es denn, daß Kürmann größere Varianten kaum in den Sinn kommen und auch die kleineren mißlingen?

FRISCH: Das liegt – kein Zweifel – an mir. Indem man ein Stück schreibt, indem man eine Spielsituation durchführt, scheint jede Willkür gestattet zu sein. Erlaubt ist, was gelingt. Aber es gelingt nur, was ich nachvollziehen kann, was mir selbst noch glaubhaft ist. Alles andere fällt aus, indem es einfach nicht gelingt. Was mir selbst noch glaubhaft wird, so daß ich’s darstellen kann – in dieser Limitierung entlarvt sich die Selbsterfahrung.

Also Ihr altes Thema: die vergeblichen Versuche, seiner Rolle zu entrinnen? So wie Stiller sich selber zu entfliehen versuchte, Don Juan nicht Don Juan wollte, ein Staatsanwalt sich in den Grafen Öderland mit der Axt verwandelte, um als Oberbürokrat zu enden, Philipp Hotz trotz seiner großen Wut seiner Ehe doch nicht entging ... Und die gleiche Angst vor der Wiederholung bei Kürmann wie bei Stiller. Lesern macht es ja Spaß, solche Parallelen zu ziehen: aber verdecken sie nicht gerade das Neue?

FRISCH: Das ist nicht meine Sorge. Das Neue? Es würde mir schon genügen, wenn das Neue in einem reineren Gelingen bestünde ... Aber Sie haben recht: es gibt Leute, sehr gescheite Leute, die sofort Parallelen sehen, Parallelen zu ihren alten Erkenntnissen, und die es dem Schriftsteller verargen, daß sie infolgedessen nichts Neues finden können bei aller Treue zu ihren alten Erkenntnissen.

Die „Biografie“ sollte Anfang Oktober schon in Zürich uraufgeführt werden, dann kam es zu dem nun schon berühmten Zerwürfnis zwischen Ihnen und dem Regisseur. Dabei hatten Sie sich für ihn entschieden und er sich für die „Biografie“. Was genau verlangte er von Ihnen? Und an welchem Punkt haben Sie Ihre Mitarbeit aufgekündigt?

FRISCH: Rudolf Noelte, gerühmt als hervorragender Regisseur, hat das falsche Stück gewählt. Daß wir beide es zu spät gemerkt haben, kommt von der gegenseitigen Hochschätzung.

Das heutige Theater, hört man oft, sei das Regisseurtheater. Der Autor habe in die Aufführung nicht hineinzureden. Könnten Sie sich mit der Rolle des Lieferanten eines szenischen Vorwands abfinden?

FRISCH: Schreiben heiße auskundschaften, sagte ich, und wenn es sich um ein Stück handelt, so gehört zum Auskundschaften natürlich auch noch die Aufführung. Die Bühne als Prüfstand. Die Proben sind die letzte, im glücklichen Fall produktive Phase unsres Unternehmens. Ich kann mich nicht beschweren; ich habe Regisseuren viel zu danken. Es ist das erste Mal, daß jetzt ein Regisseur gegen mich prozessiert. Stücke werden bekanntlich erst auf der Bühne fertig; der Gang eines Schauspielers kann zur Einsicht führen, daß er den Text, den ich geschrieben habe, gar nicht braucht und daß er einen andern Text braucht, damit zum Ausdruck kommt, was das Stück will an dieser Stelle und im ganzen. Das ist die Erprobung eines Stücks, das wiederum gemeint ist als Erprobung einer Existenzerfahrung. Ich will also, wenn ich ein Stück schreibe und es zur Aufführung gebe, etwas auskundschaften – nicht irgend etwas aufführen, damit ich mich nach zwei Stunden oder sechs Jahren endlich wieder einmal im Rampenlicht verbeugen kann. Dazu bin ich zu eitel. Wenn ich mich öffentlich aussetze, tue ich’s, um etwas zu erfahren, und vielleicht erfahren andere sich dadurch auch. Das wenigstens ist die Hoffnung. Tritt das ein, was Sie als Regisseurtheater bezeichnen, so erfahre ich lediglich, daß der Regisseur ein Genie ist oder auch nicht – dafür brauche ich nicht zu schreiben.

Die „Biografie“, sagten Sie, hätten Sie als Komödie gemeint. Gegen Ende lassen Sie Kürmann nach einem Lebenslauf, der ihm selber verfehlt erscheint, an Krebs zugrunde gehen. Ist Ihnen das Stück über eine Komödie hinausgewachsen?

FRISCH: Daß einer zu sterben hat, besagt nicht, daß ein Stück über die Komödie hinauswächst. Sonst gäbe es überhaupt keine Komödie mit Menschen. Sie haben aber recht: eigentlich ist in diesem Spiel von Kürmann, der sein Leben revidieren möchte, alles vom Tod her gesehen. Eben drum erscheint es mir als Komödie, Leben mit der Gewißheit des Todes ohne Jenseits. Vielleicht ist’s nicht immer zum Lachen.

In einem früheren Interview sagten Sie einmal, das Theater sei in buchstäblichem Sinn eine politische Anstalt, Und viele haben erwartet, daß Sie sich auf dem Theater weiter – wie in den politischen Modellstücken „Biedermann“ und „Andorra“ – politischer, öffentlicher Gegenstände annehmen würden. Nun aber, in der „Biografie“ wie in dem voraufgegangenen, ihr verwandten „Gantenbein“-Roman, sozusagen eine Reprivatisierung (ich meine das in durchaus positivem Sinne; aber ich weiß, daß die allgemeine Strömung dem im Augenblick entgegenläuft). Heißt das, daß Sie heute Literatur mit politischen Ambitionen noch skeptischer beurteilen als früher?

FRISCH: „Biedermann“ und „Andorra“ sind Parabeln. Ein bewährtes Verfahren, um dem Imitiertheater zu entgehen, jener hoffnungslosen Art von Theater, das sich Realität durch Imitation von Realität verspricht. Das Verfahren der Parabel: Realität wird nicht auf der Bühne imitiert, sondern kommt uns zum Bewußtsein durch den „Sinn“, den das Spiel ihr verleiht; die Szenen selbst geben sich offenkundig als ungeschichtlich, als Beispiel fingiert, als Modell und somit aus Kunst-Stoff. Das geht; es hat nur einen Nachteil: Die Parabel strapaziert den Sinn, das Spiel tendiert zum quod erat demonstrandum. Es hilft dann wenig, wenn ich mich durch Untertitel verwahre: „Lehrstück ohne Lehre“. Die Parabel impliziert Lehre – auch wenn es mir nicht um eine Lehre geht. Vielleicht ist es mir nie in erster Linie darum gegangen. Daher das Unbehagen in der Parabel. Und daher die Suche nach einem andern Verfahren, Theater zu machen.

Das Theater als Tribunal – davon haben Sie sich (auch in der schon erwähnten Schillerpreis-Rede) nicht viel versprochen. War das vor der „Ermittlung“? Was halten Sie von der „Ermittlung“? Hat sie Ihre Ansichten über das Dokumentar-Theater verändert?

FRISCH: „Die Ermittlung“ von Peter Weiss ist für mich – Sie verzeihen, daß ich mich zu so indiskreten Auskünften verführen lasse! – kein Anlaß, nach dem ich meine intellektuelle Entwicklung datiere.

Sie sagten 1964, das Publikum des absurden Theaters würde einen Diktator entzücken: weil es keine Aufklärung von Ursachen will, sondern zu genießen wünscht, was es ängstigt. Ein Jahr später nannten Sie den Auftritt der Kahlen Sängerin dennoch eine Wohltat. Haben Sie Ihre Meinung vom absurden Theater (oder um das verlegene Schlagwort zu vermeiden: von Ionesco) revidiert?

FRISCH: Das war ein Aperçu. Wenn wir auch noch unsere Aperçus revidieren – das ist ja schauerlich, Herr Zimmer, dann nimmt man sich selbst zu ernst.

Tatsächlich entzückt Ionescos Theater die Diktatoren offenbar nicht, und gerade in Diktaturen unterlegt man ihm einen politischen Sinn. Widerspricht das nicht der These von seiner Verwertbarkeit als Instrument der Unterdrückung?

FRISCH: Fragen Sie etwas anderes. Eben haben wir vernommen, daß die Diktatoren in Athen, die von Sophokles nicht entzückt sind, sich immer noch an der Macht halten durch NATO-Waffen. Von Ionesco finde ich „Die Stühle“, zum Beispiel, ein ganz herrliches Theater. Wissen Sie zufällig, wie es Wolf Biermann geht?

Der Boykott hält an – lückenlos. Was er kann, das darf die Öffentlichkeit also vorläufig noch nicht erfahren. Trotzdem bleibt er Kommunist. Aber zum Thema zurück. Einige Ihrer Stücke haben Sie wiederholt umgeschrieben, aber keinen Ihrer Romane, soviel ich weiß, von Kürzungen für Auslandsausgaben abgesehen. Wie erklärt sich das?

FRISCH: Das ist einfach. Stücke, als Text, sind Projekte, Grundrisse für die Aufführung. Kein Haus, wenn Sie’s noch einmal erstellen, würden Sie genau so bauen lassen wie vor zehn Jahren; schließlich haben Sie drin gewohnt. Der Roman ist kein Projekt, sondern ein fertiges Bild, fertig (mit allen Fehlern) als Text.

Ich könnte mir vorstellen, daß Sie wie manche Ihrer Figuren gegen das Bild rebellieren, das man sich von Ihnen macht. Nun ist sehr viel über Sie geschrieben worden, ja Ihr Werk scheint in besonderem Maße Kommentare zu provozieren, die zu wiederholen suchen, was Sie geschrieben haben, nur sehr viel unverständlicher. Wie finden Sie sich damit ab?

FRISCH: Gäbe es, nachdem man seit zwanzig Jahren sich veröffentlicht, überhaupt keinen Kommentar dazu, wäre ich doch irritiert. Da Kommentare vorliegen, finde ich mich ab – zum Beispiel damit, daß ich ein spätbürgerlicher Humanist bin, von Osten gesehen, oder ein Brecht-Erbe, von Westen gesehen. Mein literarisches Warenzeichen, ich weiß, ist das Identitätsproblem. Daß ich mich mit dem Warenzeichen nicht identisch fühle, kommt noch hinzu. So finden wir uns gegenseitig ab.

Es scheint, als griffe heute gerade unter Literaten eine gewisse Literaturmüdigkeit um sich. Man spricht der Literatur die Zuständigkeit in vielen Fragen ab, die man der Wissenschaft zuweist, manche Schriftsteller halten die Literatur gerade in politischen Dingen für untauglich und bevorzugen die direkte Aktion. Was bleibt Ihrer Meinung nach die Domäne der Literatur?

FRISCH: Wenn ich etwa einem Biologen zuhöre, kann es allerdings passieren, daß mir die Literatur überflüssig erscheint, nicht die Musik, aber ein beträchtlicher Teil der Literatur. Die Musik hat sich nie eine Funktion aufschwatzen lassen, die sie in Konkurrenz bringt mit Biologie, mit Soziologie, mit Physik und so weiter, auch Maler und Bildhauer sind kaum je aufgetreten als Verkünder, die mehr verkünden als Kunst. Zuständigkeit der Literatur? Die Erkenntnisvorstöße, die unser Jahrhundert bewegen, verdanken wir nicht der Literatur. Wer von der Literatur erwartet, daß sie das Weltbild bestimme, wird also von einem gewissen Minderwertigkeitsgefühl nicht verschont bleiben. Zwar spiegelt die Literatur, die diesen Namen verdient, die Verwandlungen unseres Bewußtseins, aber sie spiegelt nur; die Anstöße zur Verwandlung unseres Weltbildes kommen anderswoher. Erübrigt sich somit die Literatur? Zuweilen habe ich den Eindruck, daß es dieses gewisse Minderwertigkeitsgefühl ist, was zum sogenannten Engagement nötigt. Keiner von uns läßt sich sagen, er wohne im Elfenbeinturm. Die Frage, ob Literatur sich erübrigt, nötigt auch Leute, die im Grund kein politisches Temperament haben, zum Bekenntnis, daß die Literatur eine gesellschaftliche Funktion haben müsse. Das ist unsere Selbstrechtfertigung, auch wenn die Gesellschaft gar nicht überzeugt ist, daß sie unser Engagement braucht. Wir brauchen es. Der Biologe hingegen, dem ich zuhöre, braucht es nicht; der kommt mit Entdeckungen. Manche Schriftsteller, sagen Sie, halten die Literatur gerade in politischen Dingen für untauglich und bevorzugen die direkte Aktion – ich denke: zu Recht. Das geht zugunsten der Politik und zugunsten der Literatur. Der schriftstellerische Erfolg, der sich durch Verbreitung manifestiert, stiftet eine Hochachtung auch in Kreisen, wo man nicht genau weiß, was den Mann eigentlich auszeichnet, und schon entsteht die falsche Autorität. Kein Schriftsteller, der’s bis zur Taschenbuchausgabe gebracht hat, entgeht der öffentlichen Befragung, was er zu Vietnam meint oder zur Wiedervereinigung oder zum Notstandsgesetz. Er braucht nur auf das Mißverständnis hereinzufallen, die Mikrophone sprießen von allen Seiten. Das ist nicht ohne Komik. Das literarische Werk gibt Autorität auf einem Gebiet, wo man sich nicht ausgewiesen hat. Daß ein Schriftsteller gescheiter ist als dieser oder jener Minister, halte ich für möglich, aber es heißt noch nicht, daß er deswegen ein Politiker ist. Ich meine jetzt nicht Günter Grass. Der politische Schriftsteller ist eine Möglichkeit, aber nicht zu verwechseln mit dem politisierenden Schriftsteller, den sein literarischer Ruhm verleitet zum Selbstmißverständnis, daß er deswegen auch politisch eine Autorität darstellen müsse. Nicht jeder, der schreiben kann, ist Jean-Paul Sartre ... Die Domäne der Literatur? Fast wage ich zu sagen: das Private. Was die Soziologie nicht erfaßt, was die Biologie nicht erfaßt: das Einzelwesen, das Ich, nicht mein Ich, aber ein Ich, die Person, die die Welt erfährt als Ich, die stirbt als Ich, die Person in allen ihren biologischen und gesellschaftlichen Bedingtheiten, also die Darstellung der Person, die in der Statistik enthalten ist, aber nicht zur Sprache kommt und im Hinblick aufs Ganze irrelevant ist, aber leben muß mit dem Bewußtsein, daß sie irrelevant ist – das ist es, was wenigstens mich interessiert, was mir darstellungswürdig erscheint, aber darüber müßte man länger reden, um Mißverständnisse auszuräumen – die Domäne der Literatur: alles was Menschen erleben, Geschlecht, Technik, Politik als Realität und als Utopie, aber im Gegensatz zur Wissenschaft bezogen auf das Wesen, das erlebt ... Es erschreckt mich nicht, Herr Zimmer, wenn Sie sagen: „Reprivatisierung“.

 

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