DIE ZEIT/Feuilleton
© 1968 DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer
Schreibschrift
DER JOURNALISMUS des bedingten Reflexes durfte sich
wieder überschlagen. Lesern des
Hamburger Abendblattes beispielsweise wetterte er so entgegen: "Die
haßerfüllte Besessenheit Ulbrichts, möglichst alle Gemeinsamkeiten im
geteilten Deutschland zu beseitigen, hat eine neue Blüte getrieben ..." Was hat "Ulbricht" angestellt? In der DDR wird mit dem beginnenden Schuljahr im September eine vereinfachte "Schulausgangsschrift" eingeführt. Von der Leipziger Graphikerin Renate Tost entwickelt, wurde
sie sieben Jahre lang an einer Reihe von Schulen erprobt; sie sehe
ordentlicher aus, heißt es, sei leichter lesbar und rege die Schüler,
anders als die bisherige Kurrentschrift, weniger zum Abmalen als zum
selbständigen Schreiben an.
Ein Fachmann, der Hamburger Pädagoge Hans Ricklefs, Vorsitzender der
Arbeitsgemeinschaft Schrift und Schreiben im Hamburger Landesverband der
Lehrergewerkschaft, als er die neue DDR-Schrift sah: "Sie ist wirklich
schön, sie ist zügig, sie ist vernünftig ..."
Wer sehen kann, kann sich davon überzeugen: Es ist eine klare, eine
nüchterne, eine flüssige, eine wohlproportionierte Schrift. Die kleinen
Buchstaben sind wenig verändert; die Majuskeln sind stark der
lateinischen Druckschrift angepaßt – sie wurden aller überflüssigen
Ondulationen beraubt, die, ohne funktionalen Sinn, eine Erinnerung an
jene endgültig vergangenen Zeiten darstellten, als Kaufherren ihre
Kontobücher mit kratzenden Federn in Schönschrift erstellen ließen.
Denn machen wir uns doch nichts vor: So angesehen, daß eine Veränderung
einem Sakrileg gleichkommt, ist unsere alte Schreibschrift nicht. Im
Gegenteil, wer all die Kringel ihrer Ks und Hs und Bs säuberlich
nachmalt, handelt sich leicht den Ruf der Infantilität ein. Sie scheinen
der Allgemeinheit heute, da das kalligraphische Ideal verblaßt ist, wie
dazu geschaffen, fortgelassen zu werden.
Das Lamento aber über den Keil, den der haßerfüllte Ulbricht mit der
Neuerung zwischen die Deutschen getrieben haben soll, ist schon darum
lächerlich, weil die Annahme, nun würden kommende Generationen von
Bundesdeutschen irgendeine zusätzliche Mühe haben, die Briefe aus der
DDR zu entziffern, barer Unfug ist.
Es ist lächerlich aber noch aus anderem Grund. Auch bisher galt in der
Bundesrepublik und der DDR nicht etwa die gleiche Schulausgangsschrift,
jene Normalschrift, die 1941 Hals über Kopf eingeführt wurde, als Martin
Bormann vom Obersalzberg aus dekretierte, die bis dahin als erste
Schulschrift übliche "deutsche" Schreibschrift sei gar nicht deutsch,
sondern bestehe aus "Schwabacher Judenlettern". Diese NS-Schrift blieb
in der DDR länger unverändert als in der Bundesrepublik, wo sie, auf
Empfehlung des "Iserlohner Schreibkreises", 1953 revidiert wurde (vor
allem verschwanden ihre steifen Rundungen, und die Kleinbuchstaben
erhielten Anstriche – Merkmale, die die neue DDR-Schrift nun ebenfalls
konsequent übernimmt). Wenn man will, wären also wir die Spalter
gewesen. Die beiden "Sütterlin-Anleihen" bei den Kleinbuchstaben der
neuen Leipziger Schrift, das t und das ß (immer ein
Verlegenheitsbuchstabe), sind übrigens nicht neu: Sie sahen auch im
bisherigen DDR-Abc so aus, nur hat es niemand bei uns gemerkt.
Lächerlich schließlich ist das Lamento auch darum, weil seit Jahren in
der Bundesrepublik viele Fibeln in einer Alternativ-Leseschrift
angeboten werden, die einen sehr geglückten Kompromiß zwischen
Schreibschrift und Druckschrift darstellt, der 1957 von der
Schriftgießerei Stempel entwickelten "Prima". Prima-Schrift aber und
neue DDR-Schrift: sie unterscheiden sich kaum. Die DDR also hat etwas Vernünftiges getan, etwas, was viele unserer Schriftpädagogen wahrscheinlich selber gern täten, nur daß in dem föderalistischen Kompetenzendschungel es alle Reforminitiativen schwer haben. Jene Kommentatoren aber, die alles, was die DDR unternimmt, von vornherein und ohne Ansehen der Sache verdammen, dienen nicht, wie sie meinen, der Verständigung zwischen den beiden Teilen Deutschlands (von Wiedervereinigung nicht zu reden: das bleibe vorerst den Sonntagsrednern überlassen), sie hintertreiben sie am sichersten.
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