DIE ZEIT/Feuilleton, Nr.44, 25. Oktober 1974, S.26-27 Titel: "Der Streit um die Intelligenz (III) ‒ Grenzen, die die Gene setzen ‒ Wie die Erbforschung zu ihren Hypothesen kam" © 1974 DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer
Die IQ-Kontroverse, 1974 III Von Dieter E. Zimmer
DIE FRAGE, ob und inwieweit die Erbanlage die Intelligenz bestimmt, ist schon gut hundert Jahre alt. Sir Francis Galton, besorgt um die genetische Veredelung der Menschheit, Begründer diverser Wissenschaften und auch der Psychometrie, warf sie 1869 mit seinem Buch Erblichkeit des Talents auf. Völlig exakt und zweifelsfrei wäre sie nur unter Laborbedingungen zu beantworten, wie sie niemals bestehen werden. Es müßten eine große Anzahl von Personen mit identischer Erbanlage (eineiige Zwillinge also) aus dem gesamten Intelligenzspektrum in verschiedenem Lebensalter und über verschieden lange Zeitspannen den verschiedensten Milieueinflüssen ausgesetzt und dabei ständig beobachtet werden. Selbst in einer Wissenschaftsdiktatur, wo keine Skrupel derartige Experimente an Menschen verhinderten, wäre der Versuch nicht durchführbar. Weder ist bekannt, welche anderen Persönlichkeitsmerkmale Entwicklung und Nutzung der Intelligenz hemmen oder fördern, und in welchem Maß sie das tun; sie alle aber müßten mit durchgetestet werden. Noch ist bisher genau bekannt, welche wirksamen Umweltfaktoren hier eigentlich im Spiel sind. Wirksam sind zweifellos viele. Aber welche, und welches Gewicht hat jeder? Sozioökonomischer Status? Bildung? Intaktheit der Familienverhältnisse? Ausreichende Ernährung, vielleicht sogar pränatal? Zuwendung in den ersten Jahren, ja Wochen und Tagen des Lebens? Geborgenheitsgefühl? Anreiz zur Leistung? […] Daß solche Laborbedingungen niemals bestehen werden, heißt nun aber nicht, daß die Frage für alle Zeiten zurückgestellt werden muß. Aufschlüsse lassen sich auch aus Daten über Menschen gewinnen, die ihr normales Leben führen; und mit Hilfe der raffinierten Methoden statistischer Mathematik, vor allem der Korrelationsrechnung und der Faktorenanalyse, kann man Schlüsse riskieren. Sie haben nicht den Charakter endgültiger Beweise, an vielen Einzeluntersuchungen wurde mehr oder weniger schroffe methodische Kritik geübt (Jensen selber relativiert die von ihm ausgewerteten Befunde immer wieder). Was die Psychologie anbieten kann, sind Hypothesen. Wenn eine Vielzahl verschiedenartiger Untersuchungen auf ähnliche Ergebnisse hindeutet, so gewinnen diese trotz eventueller einzelner Fehlerquellen immerhin eine gewisse Wahrscheinlichkeit. Über eines muß jedoch immer Klarheit herrschen, da sonst haarsträubenden Mißverständnissen Tür und Tor offenstehen. Dieser Forschungszweig macht keine Aussagen über "die Menschheit" insgesamt, gestern, heute und morgen, und genausowenig macht er Aussagen über das Individuum. Er macht Aussagen über bestimmte Bevölkerungsgruppen (Populationen) zu bestimmten Zeiten. Wenn sich also zeigen sollte, daß eine Untergruppe der Population der Mehrheit um durchschnittlich 15 IQ-Punkte unterlegen ist, so kann daraus niemand ableiten, diese Gruppe sei immer und überall weniger intelligent als die Mehrheit. Genausowenig kann ein einzelnes Mitglied der Mehrheitsgesellschaft einem einzelnen Angehörigen der Untergruppe in dem überheblichen Glauben begegnen, er sei intelligenter ‒ es könnte sein, daß dieser Einzelne ihn in jedem IQ-Test schlägt. (Schon das Vorausgefühl der Überlegenheit wäre ein Indiz dafür, daß es um die Intelligenz des betreffenden Mehrheitsmitglieds nicht gut bestellt sein kann). Die 'Erblichkeit' nun: was ist das? Der Volksmund versteht darunter nicht das gleiche wie der Verhaltensgenetiker. Für diesen ist sie ein technischer Begriff, ausgedrückt durch eine Zahl, die angibt, zu welchem Teil die in einer Population tatsächlich beobachteten (also die phänotypischen) Unterschiede durch Unterschiede in der Erbanlage (dem Genotyp) erklärbar sind. Sie liegt zwischen 0 und 1. Eine Erblichkeit (Heritabilität) von 0,75 besagt, 75 Prozent dieser Unterschiede ließen sich durch eine unterschiedliche genetische Ausstattung erklären. Errechnet wird die Erblichkeit durch nicht unkomplizierte und nicht unumstrittene mathematische Formeln, in denen die tatsächlich vorhandenen und gemessenen Unterschiede in Beziehung zu den Werten gesetzt werden, die man erhielte, wenn nichts als die Erbausstattung den Phänotyp bestimmte. Erblichkeit ist also ein populationsstatistischer Terminus technicus, eine Aussage über eine Gruppe, nicht über ein Individuum. Eine Erblichkeit von 80 Prozent bedeutet also nicht etwa, um das gröbste und primitivste Mißverständnis zu nennen, dass ein Mensch mit einem IQ von 100 Punkten 80 seinen Genen und damit letztlich seinen leiblichen Eltern verdankt, 20 seiner Umwelt. Es führt kein Weg von der Aussage über eine Gruppe zum Einzelnen. Niemand kann sagen, bei ihm selber sei der IQ nur zu 25 Prozent erblich. Was vielen zunächst nur schwer einleuchtet, ist dies: daß sich die Erblichkeit von Gruppe zu Gruppe, von Zeitabschnitt zu Zeitabschnitt, von Merkmal zu Merkmal ändert. Sie ist eine relative Größe, obwohl der biologische Mechanismus der Vererbung immer gleich bleibt. […] [Man weiß heute nicht, wie sich der IQ mehr als marginal erhöhen ließe, ob er sich überhaupt je substantiell erhöhen lassen wird. Prinzipiell jedoch ist es vorstellbar, dass irgendein neuer Umweltfaktor die Heritabilität auslöschte, ohne dass sich an dem Mechanismus der Vererbung das mindeste änderte. Man denke sich irgendeinen noch unbekannten Agenten, etwa eine neue chemische Substanz, die allen nach der Geburt zuteil würde und wundersamerweise ihren IQ auf 100 je nachdem boostet oder drückt. Dann wären alle gleich, es gäbe in der Population keine Unterschiede mehr, und mit ihnen verschwände auch die Erbvarianz und mit ihr deren Komplement, die Umweltvarianz, so dass sich über die relative Wirkung von Genen und Umwelt, von Natur und Kultur nichts mehr aussagen ließe. Erhielten nun aber die Teilnehmer des Gedankenexperiments verschiedene Dosen oder Qualitäten jener Wunderdroge, so blieben möglicherweise doch Unterschiede zurück. Sie gingen sämtlich auf diese eine Umweltintervention zurück, und die Umweltvarianz wäre 1 – es sei denn, die Droge wäre individuell so dosiert gewesen, dass sie den Beitrag der Erbanlage in jedem einzelnen Fall genau neutralisiert hätte. Dann wären vom Ergebnis her gesehen die Varianz wieder Null und eine Aussage über die Erblichkeit unmöglich, aber um die Droge entsprechend zu dosieren, hätte man wissen müssen, mit welcher Kraft die Gene sich jeweils dem angestrebten Zielwert von 100 widersetzen, die individuell angepasste Umwelt-Dosis wäre also nichts anderes als ein Spiegelbild der Erbanlage gewesen. Da es kein absolutes Maß für so etwas wie Intelligenz gibt, kann die Verhaltensgenetik immer nur das relative Gewicht der gen- und der kulturbestimmten Unterschiede bestimmen, nie aber die absolute Höhe des Beitrags von Natur und Umwelt. Ob die tatsächlichen Unterschiede auf einer absoluten Skala minimal oder riesig sind, immer addieren sich genetische und nichtgenetische Faktoren zu 100. Darum lässt sich keiner Erb-/Umweltvarianz-Statistik entnehmen, ob eine bestimmte Umweltintervention Wirkung zeitigt. Es lässt sich nur an den objektiven absoluten individuellen Fort- oder Rückschritten ablesen. Wenn eine Umweltintervention individuelle IQs konkret erhöht (oder herabsetzt), dann war sie wirksam, egal wie die Erblichkeitsrechnung in diesem Augenblick ausgeht. Und man kann es nur gebetsmühlenartig wiederholen: Wie alle anderen Merkmale braucht die Intelligenz beides, Gene und Umwelt. Ohne Umwelt brächten die Gene keinerlei Intelligenz hervor, und ohne Gene fehlte der Umwelt das biologische Substrat, auf dem sie Intelligenz entstehen lassen kann. Mengenangaben wären bei dieser Lage nur ein Bluff.] Nähme man eine Gruppe von Transitpassagieren auf einem internationalen Flughafen beiseite und untersuchte sie auf die Dunkelheit ihrer Hautfarbe, so wären große Unterschiede zu bemerken: Es wären Schwarze dabei, Orientalen, Japaner, braungebrannte hellhäutige Weiße auf der Rückreise aus dem Urlaub, blasse dunkelhäufige Weiße, die von Tagungen zurückkommen ‒ eine äußerst heterogene Gruppe, was die Erbanlagen wie ihre Umwelt angeht. Havarierte ihr Flugzeug nun nahe einer sonnigen einsamen Insel, wo sich die Passagiere unter für alle identischen Lebensbedingungen durchzuschlagen hätten, so verschwänden die Unterschiede etwa in der Hautfarbe natürlich nicht, bis sich alle miteinander reproduktiv vermischt hätten ‒ sie blieben über Generationen hinweg erhalten. Aber da der Faktor Umwelt egalisiert worden wäre, wären sie nur noch genetisch zu erklären. Die Erblichkeit der Hautfarbe hätte zugenommen. Je homogener die Umwelt einer Population in bezug auf ein Merkmal, desto größer die Erblichkeit dieses Merkmals. Gerade die Egalisierung also erhöht die genetische Komponente. Setzte man eine Gruppe von Zehnjährigen zum erstenmal an ein Klavier, so würden sie alle gleich stümperhaft darauf klimpern. Gäbe man ihnen drei Jahre lang Klavierunterricht, so stiege ihr Niveau insgesamt, aber es begännen sich immer größere Unterschiede zwischen den musikalisch stärker und schwächer Begabten herauszubilden. Daß sie alle dem gleichen Umweltfaktor (Klavierunterricht) ausgesetzt wurden, machte sie nicht gleicher, sondern ungleicher. Die Position der Erbtheoretiker ‒ oder, um ein altes Wort wiederzubeleben: der "Nativisten" (der Forscher, die von der Wichtigkeit angeborener Anlagen überzeugt sind) ‒ beruht auf einer Grundvermutung und vier Hauptforschungssträngen. Die Grundannahme: Ungezählte menschliche Merkmale ‒ von der Körpergröße über die Haut-, Haar- und Augenfarbe bis zur Konsistenz des Ohrenschmalzes ‒ sind offensichtlich und unbestritten erblich. Wie alle Körperzellen werden auch die des Zentralnervensystems von den Genen konstruiert. Wenn ausgerechnet die kognitiven Fähigkeiten, bei denen es doch nicht weniger manifeste Unterschiede gibt, der Vererbung nicht unterliegen sollten, müßte das Gründe haben. Solche Gründe sind bisher nicht namhaft gemacht worden. Der erste Forschungsstrang kümmert sich um Verwandtschafts-verhältnisse. Wenn die Hypothese stimmt, daß Intelligenz zu einem erheblichen Teil erbbedingt ist, ist zu erwarten, daß nahe Verwandte sich in der Intelligenz (wie in der Körpergröße) stärker ähneln als fernere Verwandte. Wie groß die durchschnittliche wahrscheinliche Übereinstimmung ist, läßt sich auf Grund der Mendelschen Erbgesetze vorausberechnen. IQ-Untersuchungen an Verwandten haben diese Berechnungen bestätigt. Jensen hat die Resultate aus 111 einschlägigen Studien an Zehntausenden von Personen zusammengetragen. Die Korrelation zwischen Eltern und Kind zum Beispiel müßte theoretisch bei 0,49 liegen; tatsächlich liegt sie bei 0,5. Die Korrelation zwischen Geschwistern müßte bei 0,52 liegen; tatsächlich beträgt sie bei zusammen aufgewachsenen Geschwistern 0,55, bei getrennt aufgewachsenen 0,47. Bei Vettern ersten Grades steht ein theoretischer Wert von 0,18 einem tatsächlichen von 0,26 gegenüber. Der zweite Hauptuntersuchungsstrang betrifft getrennt aufgewachsene eineiige (monozygotisehe) Zwillinge. Da sie genetisch identisch sind, müßten sie den Testfall der Erbtheorie schlechthin abgeben können. Sie sind jedoch nicht zahlreich genug für Untersuchungen in großem Umfang. Es gibt nur vier größere Studien; die einwandfreieste ist die von Sir Cyril Burt aus dem Jahr 1966, weil ihr Sample der allgemeinen IQ-Verteilung sehr nahe ist und er die schiefen Zahlen, die sich aus einer möglicherweise überdurchschnittlichen Übereinstimmung der Milieus ergeben, in denen die Kinder aufwachsen, korrigieren konnte. Falls die Annahme der Nativisten in vollem Umfang zutrifft, müßte der IQ identischer Zwillinge sich auch dann sehr ähnlich bleiben, wenn sie in verschiedenen Milieus aufwachsen (die Erbtheorie sagt einen perfekten Korrelationskoeffizienten von +1 voraus). Falls die Annahme der Milieutheoretiker zutrifft, daß die Umwelt den IQ bestimmt, müßte sich dagegen eine niedrige Korrelation ergeben, da sie ja in verschiedenen Milieus aufwachsen. Die tatsächliche Korrelation ist eine der höchsten, die in der Psychologie vorkommen. Sie liegt zwischen 0,75 und 0,87. Drittens wurden Kinder untersucht, die nicht bei ihren Eltern aufwachsen. Die Erbtheorie sagt voraus, daß ihr IQ stärker mit dem ihrer natürlichen Eltern übereinstimmt als mit dem ihrer Adoptiveltern; die Milieutheorie das Gegenteil. Tatsächlich korreliert der IQ zwischen Stiefeltern und adoptierten Kindern nur mit 0,2, also etwa wie zwischen Cousins ersten Grades, zwischen Kindern und natürlichen Eltern aber, wie vorhergesagt, mit 0,5, selbst wenn die Kinder nicht bei ihnen aufwachsen. Der vierte Strang schließlich betrifft ein interessantes Phänomen, das einen Namen trägt, welches den Laien verschreckt, obwohl das, was der Ausdruck meint, allen geläufig ist und den Alltag mancher Familie belastet: die sogenannte "Regression zum Mittel". Die Genetik behauptet, daß wie viele andere komplexe Merkmale auch die Intelligenz durch die Kooperation einer größeren Anzahl von Genen bestimmt wird. Diese Kombinierung der Gene favorisiert mittlere Werte und macht höhere oder niedrigere um so unwahrscheinlicher, je mehr sie sich vom Mittel entfernen. Den Erbgesetzen zufolge ist zu erwarten, daß der IQ eines Kindes nicht etwa dem Durchschnitt seiner Eltern entspricht, sondern sich zum Mittel der Bevölkerung hin verschiebt. Hat zum Beispiel die Mutter einen IQ von 140, der Vater von 120, so liegt der wahrscheinlichste IQ ihres Kindes nicht bei 130. Vielmehr ist die Differenz zwischen dem elterlichen IQ-Durchschnitt (130) und dem Bevölkerungsmittelwert 100) mit dem für die Erblichkeit des IQ angesetzten Wert zu multiplizieren und die so erhaltene Zahl zu 100 zu addieren. Bei einer Erblichkeit von 60 Prozent wäre das 0, bei einer von 70 Prozent 0,7, und so fort. 130 minus 100 mal 0,6 plus 100: Die wahrscheinlichste Prognose sagt dem Kind also einen IQ von 118 voraus, 12 Punkte unter dem Mittel seiner beiden Eltern. Das heißt nicht, daß das Kind nicht irgendeinen anderen IQ haben kann, sondern nur, daß die Wahrscheinlichkeit um so geringer wird, je weiter sich der Wert von 118 entfernt; und wenn man eine große Zahl von Fällen mit demselben elterlichen Durchschnitts-IQ überprüfte, ergäbe sich 118 als Durchschnittswert. Je größer die Erblichkeit, um so kleiner die Regression; je extremer die IQ-Werte der Eltern, um so größer. Hochintelligente Eltern haben also häufig weniger intelligente Kinder ‒ und setzen ihnen mit unerfüllbaren Leistungsansprüchen zu. Weniger Intelligente haben oft intelligentere Kinder ‒ und kein Verständnis für deren Ambitionen, die sie zu bremsen versuchen. Der Durchschnitt dagegen ist relativ sicher, daß die Kinder nicht "aus der Art schlagen". Nach der Milieutheorie dürfte es dieses Regressionsphänomen gar nicht geben: Der IQ des Kindes müßte recht genau dem der Eltern entsprechen, denn Eltern und Kinder teilen ja das gleiche Milieu. Tatsächlich aber ist die Regression ein empirisches Faktum. Solchen Befunden haben die Milieutheoretiker bisher wenig entgegenzusetzen gewußt. In einer wissenschaftstheoretischen Analyse der Kontroverse har der Londoner Philosoph Peter Urbach darum von der "Degeneration" ihres Forschungsprogramms gesprochen: Dem, was mit ihren Annahmen nicht übereinstimmt, begegneten sie mit ad hoc erfundenen, unüberprüfbaren Vermutungen. So will J.M. Thoday das IQ-Defizit einer bestimmten Untergruppe mit einem bisher unbekannten "Faktor X" erklären, der alle Angehörigen dieser Gruppe gleich benachteilige. Urbach: "Alle Daten der Welt können mit jeder Theorie vereinbart werden, wenn man namenlose und unüberprüfbare Faktoren mit ins Spiel bringt Thodays Hypothese ist absolut unwissenschaftlich." Die alles auf die Umwelt setzen, konnten bisher kein der statistischen Analyse ähnlich zugängliches Gegen-Forschungsprogramm lancieren. Es fällt auch auf, daß sie oft widersprüchliche Argumente zur Verteidigung ihrer Position bemühen müssen: Um der Tatsache zu begegnen, daß zusammen aufwachsende, nicht miteinander verwandte Kinder eine niedrige IQ-Korrelation (0,24) aufweisen, müssen sie mit mikroskopischen Umweltunterschieden operieren ‒ das Adoptivkind habe eine andere Stellung in der Familie als ein natürliches Kind, also auch eine andere Umwelt. Um andererseits mit der hohen IQ-Korrelation zwischen getrennt aufwachsenden eineiigen Zwillingen fertigzuwerden, müssen sie makroskopische Umwelteinflüsse geltend machen: Die Geschwister gerieten zwar in verschiedene Familien, aber es seien immer ähnliche Familien ‒ eben solche, die die Neigung zur Adoption teilen ‒, und darum ähnelten sich ihre Umwelten trotz der Trennung. Die Fachdiskussion beschäftigt sich längst mit den Feinheiten statistischer Rechenkunst. Sie berücksichtigt die Auswirkungen der Dominanz bei der Vererbung. Sie filtert rechnerisch die Effekte dessen heraus, was auf englisch assortative mating, auf deutsch etwas verblasen 'Gattenwahl' heißt: der Tatsache nämlich, daß Ehen nicht der reine Zufall schließt, sondern daß sich die Partner meist in vielem, auch in der Intelligenz, gleichen. Sie fragt, wie homogen ein untersuchtes Sample ist: Ist seine Umwelt überdurchschnittlich homogen, so ergeben sich irreführend hohe Werte für die Erblichkeit; stellen die Getesteten eine genetisch überdurchschnittlich homogene Gruppe dar, so fallen die Umwelt-Werte zu hoch aus. Sie fragt weiter, inwieweit Kinder intelligenter Eitern einen sich kumulierenden doppelten Vorteil (den der Gene und den der Umwelt) genießen, Kinder weniger intelligenter Eltern einen sich kumulierenden Nachteil ‒ die Biometrie nennt das "Kovarianz". Sie fragt weiter, ob sich der Milieufaktor auf allen Intelligenzstufen gleich auswirkt oder auf den unteren vielleicht stärker als auf den oberen ‒ das wäre eine "Interaktion". Das Faktum einer erheblichen Kovarianz ist unbestritten; umstritten ist nur, ob man sie auf die Seite der Erb- oder die der Umwelteinflüsse zu rechnen hat. Dass sich Erb- und Umweltfaktoren nicht auf allen Intelligenzstufen in gleicher Höhe addieren, ist ebenfalls unbestritten; umstritten ist die Größe dieses Faktors, den Jensen sehr niedrig, eine Psychologin wie Sandra Scarr-Salapatek recht hoch veranschlagt. Diese Fragen müssen der weiteren Forschung vorbehalten bleiben. Arthur Jensen ist vieles vorgeworfen worden: daß seine rein operationale Definition der Intelligenz (Intelligenz ist, was Intelligenztests messen) unbefriedigend sei (Hunt); daß der Mensch eine gewisse "Ich-Autonomie" besitze, die dazu führe, dass sich ein und dieselbe Umwelt auf verschiedene Menschen ganz verschieden auswirken kann (Elkind); dass die Zeit für eine Bewertung einzelner kompensatorischer Programme viel zu kurz war (Elkind, Hellmut Becker). Daß das, was IQ-Tests messen, überwiegend erbbedingt sei ‒ diese Folgerung der "Jensenisten" wurde davon nicht erschüttert. Ob die Erblichkeit bei 50, 60, 70, 80 oder gar 85 liegt, ist für die Fachwelt interessanter als für die Allgemeinheit. "Die Intelligenz-Unterschiede zwischen den Individuen sind teils auf Erbfaktoren, teils auf Umwelteinflüsse zurückzuführen. Das ist keine Meinungsfrage mehr, das ist eine Tatsache", sagte der angesehene französische Psychologe René Zazzo. Für die Bevölkerung von Paris schätzt er die Erblichkeit der IQ-Unterschiede auf 75 Prozent. Zazzo ist Marxist, seit vierzig Jahren Mitglied der Kommunistischen Partei. "Die Ignoranz der Rechten wundert mich nicht mehr. Aber ich finde es bedauerlich, daß Linke sich einfach weigern, Tatsachen zu akzeptieren, die ihre Denkgewohnheiten stören." Die Hypothese von der überwiegenden Erbbedingtheit des IQ besagt nicht, daß dann eben nichts zu machen sei: Die Dummen seien dumm geboren, die Schlauen schlau, basta. Sie läßt Raum für Umwelt-Interventionen. Jensen weist auf den Kaspar-Hauser-, Eysenck auf den Pygmalion-Effekt hin: Kinder, die in extremer kultureller, sprachlicher und sensorischer Isolierung aufwachsen, können mit einer Anhebung ihres IQ um 60 bis 70 Punkte rechnen, wenn sie in eine günstigere Umwelt versetzt werden. Bei stark benachteiligten Kindern kann der IQ durch spezielle Förderungsmaßnahmen um 20 bis 30 Punkte gehoben werden. Daraus entwickelte Jensen seine (nicht kohärent begründete) Schwellen-Theorie: "Unterhalb einer gewissen Schwelle kann die Umwelt den IQ spürbar drücken. Oberhalb dieser Schwelle aber ist der Einfluß der Umwelt auf die Intelligenz relativ gering." Daß ein Kind ohne die dem Mittelstand zugänglichen Annehmlichkeiten des Lebens auskommen muß, werfe es noch nicht hinter diese Schwelle zurück. So unwürdig das Leben in einem Minoritäten-Ghetto auch sei: die Intelligenz sei dagegen ziemlich immun. Den spektakulärsten kompensatorischen Erfolg reklamiert Rick Heber, Professor an der Universität Wisconsin. Sein noch nicht abgeschlossenes "Milwaukee Project" wurde als einer der größten bildungspolitischen Kraftakte überhaupt und als Widerlegung Jensens gefeiert ‒ als das Wunder von Milwaukee. Er suchte sich Kleinkinder aus dem schwarzen Ghetto, deren Mütter IQs unter 70 hatten, und teilte sie in zwei Gruppen auf. Der einen ließ er ein intensives Ganztagsprogramm mit speziell ausgebildeten "Ersatzmüttern" zuteil werden, die Kontrollgruppe überließ er sich selber. Die geförderte Gruppe erreichte nach vier Jahren einen IQ von über 120, die andere blieb bei 90. Die genaueren Umstände des Experiments sind bis heute nicht publiziert, so daß es nicht wiederholt und überprüft werden konnte. Heber selber hat Zweifel daran geäußert, ob die IQ-Steigerung von Dauer sei und nicht vielmehr auf ein gezieltes Einüben der Testaufgaben zurückgehe. Die Kinder waren sehr klein, ihre Intelligenz noch nicht gefestigt. Kritiker haben den Verdacht geäußert, die beiden Gruppen seien von Anfang an ungleich gewesen. Jensen selber fühlt sich durch Hebers Experiment nicht widerlegt. Der Anstieg liege durchaus noch im Rahmen seiner Berechnung ‒ und wenn Hebers Erfolg sich auch nur annähernd substantiieren lassen sollte, dann habe er tatsächlich "etwas ganz Phantastisches" erreicht. Die Gene, so behaupten auch die Nativisten, fixieren den Einzelnen nicht. "Was die Gene wirklich bestimmen, sind die Reaktionsweiten, welche genetisch mehr oder minder gleich ausgestattete Individuen über die ganze Skala möglicher Milieus hinweg an den Tag legen. "Erblichkeit ist kein Status, sondern ein Prozeß", schreibt der angesehene Erbbiologe Theodosius Dobzhansky in seinem Buch Intelligenz — Vererbung und Umwelt (1973). Die Gene sind nur ein Potential; es bleibt ein Spielraum; nichts entschuldigte den, der ihn nicht voll ausgenutzt sehen wollte. Kein Wort von Jensen oder Herrnstein oder Eysenck deutet darauf hin, daß sie ihn nicht ausschöpfen wollten. Nur: dem, was sich durch solche Interventionen erreichen läßt, setzen die Erbanlagen Grenzen. Es ist viel weniger als alles und mehr als nichts ‒ also kein Stoff für Schlagworte wie "Doof bleibt doof" oder "Doof geborn ist keiner". Den Glauben an die unbegrenzte Plastizität des Menschen, an die Omnipotenz des Gesellschaftlichen hat die IQ-Debatte der siebziger Jahre nachhaltig erschüttert. Die Natur spielt wieder mit.
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