DIE ZEIT/Feuilleton, Nr.31, 25. Juli 1975, S.31 Titel: «Dichter auf windigen Wegen – Eine Lyrikpreisverleihung, ungefähr im Stil Petrarcas erzählt» © 1975 DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer
Ersteigung des Mont Ventoux Von Dieter E. Zimmer
GESTERN HABEN wir den höchsten Berg dieser Gegend bestiegen, den man nicht unverdientermaßen den Windigen nennt und der unter seinem heutigen Namen Mont Ventoux Besucher der Provence in großer Zahl lockt, insbesonders schweißliebende Zweiradfahrer. Dabei trieb mich nicht einzig die Begierde, die ungewöhnliche Höhe dieses Flecks Erde durch Augenschein kennenzulernen. Vielmehr trieb mich der Wunsch, Zeuge zu sein bei einer Zeremonie, die aufzufallen versprach durch Sonderbarkeit. Es sollte auf dem Berge ein neuer Preis verliehen werden, der durch nun wiederum seine ungewöhnliche Höhe, von nämlich zwanzigtausend Mark, unter den Lyrikpreisen der Welt herausragt und der alljährlich einem Dichter deutscher Zunge zuteil werden soll, insgesamt fünfmal. Angestiftet zur Stiftung dieser Auszeichnung wurde ein junger, begeisterungsfähiger, wohlhabender Freund der Künste, Hubert Burda, Sohn des zu Offenburg residierenden Verlegers bunter Druckwaren, und zwar von dem Verlagslektor und Dichter Michael Krüger und von Bazon Brock, dem in Hamburg ansässigen Lehrer für die Kunde vom vorschriftsfreien Schönen (in der Sprechweise unserer Zeit Professor für nichtnormative Ästhetik genannt), der ob seiner frappierenden Aktionen einst der Beweger geheißen wurde und seit einiger Zeit dem Studium der Vergangenheit ergeben ist. Diese beiden beriefen in ihr Preisgericht ferner die Dichter Peter Handke, Nicolas Born und Urs Widmer, und bei der bekanntermaßen heftigen Feindschaft, die unter deutschen Dichtern herrscht, nimmt es wunder, daß ihre auseinanderstrebenden Temperamente sich am Ende doch auf einen Berufsgenossen einigen konnten, wenn auch auf einen toten, den vor einigen Wochen in London von einem Automobil überfahrenen Rolf-Dieter Brinkmann. Wie aber kam es zu der Übergabe des Preises auf dem windigen Berg der Provence? Man gedachte, das viele Jahre lang verrufene Gedicht und mit ihm das Erkenntnismittel Subjektivität aufzuwerten und erkor zum Namenspatron des Preises den Widersacher der Scholastik, den italischen Poeten Francesco Petrarca, der viele Jahre lang, unweit der Päpste von Avignon, in dieser schönen Gegend weilte und am 26. April des Jahres 1336 den Mont Ventoux erklomm. Noch am Abend des selbigen Tages schrieb er einen in der Weltliteratur berühmt gewordenen Brief an einen väterlichen Freund namens Francesco Dionigi, der zu Paris lehrte, in welchem er Bericht gab von dem Abenteuer des Aufstiegs und dessen Stil bequemerweise ein wenig nachzuahmen ich mir hier nicht versagen kann. Die Alpinisten feiern jene Epistel als erstes Zeugnis ihrer Leidenschaft, die Christen als Zeugnis des Bemühens, einer zu ihrer Zeit höchst ungewöhnlichen sportlichen Anstrengung allegorische Bedeutung abzugewinnen: nämlich den "von irdischen Trieben geblähten Begierden", dem ”Schmutz der irdischen Abscheulichkeit" zu entkommen, die Seele dem Himmel ein Stück näher zu bringen und hinfort "dem Guten, Wahren, Sicheren, Dauernden" zuzukehren. Petrarca hatte sich vor seinem beschwerlichen Fußmarsch die Frage vorgelegt, wer geeignet sei, mit ihm zusammen die Erklimmung des Berges zu wagen. Der eine schien ihm zu langsam, der andere zu schnell, der eine zu schwerblütig, der andere zu fröhlich, der eine zu schwächlich, der andere zu schwerfällig, der eine zu leise, der andere zu laut, der eine zu stumpfsinnig, der andere zu gescheit; schließlich wählte er sich seinen Bruder als Weggefährten. Er brach im Morgengrauen vom Dorfe Malaucène auf, gelegen gut zwanzig Wegkilometer zu Füßen des Passes der Stürme, erreichte nach mühsamem Marsche am Nachmittag den Gipfel, kehrte abends ins Dorf zurück, setzte sich hin und schrieb noch am selbigen Abend jene Epistel nieder, so er nicht log. Jenen Aufstieg nachzuvollziehen, gebrach es den deutschen Dichtern und ihren Begleitern durchaus an Rüstigkeit. Auch war die Notwendigkeit entfallen, führen doch heute zwei Asphaltstraßen und im Winter mehrere Skilifts auf die kahle Höhe des Mont Ventoux, wurde doch inzwischen auch der Autobus ersonnen. So brachen wir am Vormittag von Carpentras aus im Charterbus auf: die Witwe des Preisträgers, die Preisrichter, der Mäzen und allerlei Volk, dem die Berichterstattung obliegt, darunter nicht weniger als drei Fernsehmannschaften, zwei vom Ersten Programm (ein kleines Beispiel dafür, daß auch die vielberufene Knappheit der Geldmittel die Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands schwerlich zu Absprachen untereinander bewegt), eine vom Zweiten, zornig ob der Aussicht auf einen späteren Sendetermin. Daß aber die Idee als solche, so merkwürdig sie auch zunächst anmuten mag, doch nicht völlig abwegig gewesen sein kann, daß auch die totgesagte Poesie immer noch am Leben ist, ward schlagend durch den Umstand erwiesen, daß fünf- bis sechshundert Männer und Frauen, der Dichtung oder dem Alpinismus oder der alpinen Dichtung ergeben oder zugetan, gern den Aufstieg mitvollzogen hätten und nur abgehalten wurden durch den Mangel an Unterkünften, der heutzutage während der Sommerzeit an diesem Fleck Erde herrscht. Eine kurze Wegstrecke unterhalb des Gipfels, von dem aus der Blick unverändert über die von Petrarca beschriebene Weite schweift, auch wenn die Spitze selbst von einer weltraumbahnhof-artigen Einrichtung der Luftarmee geziert wird, entließ uns der Bus, und wir wanderten einen Pfad durchs Geröll hinan gen Gipfel. Peter Handke rief Erstaunen und Sorge hervor, als er, ganz auf Poetenart einer spontanen Eingebung gehorchend, abseits des Weges plötzlich einen Purzelbaum vollführte, dessen Erläuterung er den Wandergesellen schuldig blieb. Er schien aber heil geblieben zu sein. Im Windschatten einer Kapelle verkündete Nicolas Born dann die Verleihung des Preises, indessen Kameras klickten und surrten, Mikrophone sich ihm entgegenstreckten und Bazon Brock, neben sich eine Plastiktüte aus einer Buchhandlung in Frankfurt, deren Bewandtnis sich später enthüllte, mit fromm aneinandergelegten Händen auf dem steinigen Boden kniete. Von der Reiseleiterin zu weniger Saumseligkeit ermahnt, bestiegen wir neuerlich den Bus und machten uns auf zum Abstieg in eine ländliche Herberge. Hierselbst, zwischen Omelett und Hammelbraten, legte Bazon Brock den Wanderern und ihren späteren Zuschauern daheim am Fernsehschirm, die solcher Erklärungen in der Tat dringend bedurften, die Theorie des befremdlichen Unterfangens dar, das einem der Anwesenden, dem ehemaligen Verleger des März-Verlags und der deutschen Olympia-Press, einem Mann böser und ungeschminkter Worte, dem Verfasser jenes giftigen, gerichtlich vielfach belangten Buchs der Enthüllung und Selbstenthüllung mit dem Titel "Siegfried", das also Jörg Schröder als ein schlechthin "abgefackter Einfall" erscheinen wollte. Die Ersteigung eines Berges, so etwa führte es Bazon Brock aus, bedeute die Gewinnung eines Mittelpunkts, von dem aus eine Menge, sozusagen das Ganze wahrnehmbar werde. Als ein Mann des Humanismus habe Petrarca eine neue Form des zwischenmenschlichen Verkehrs mitentworfen, die gegründet sei auf das Zwiegespräch: eine, wie er es ausdrückte, dialogische Kommunikationsstruktur. Die Nachahmung der Antike durch den Humanismus bestehe in der Rekonstruktion von Lebensformen, denn für den Humanisten habe der Mensch des Altertums einmal das gelungene Leben erreicht. Petrarcas besonderer Kampf habe der Scholastik gegolten, den Auswendigsprechern, den mechanischen Rednern. Der Mensch sei im Humanismus zum Wanderer, zum Subjekt der Landschaft geworden, einer bereits gebändigten, nicht mehr als unbedingt bedrohlich empfundenen Natur, die zur Projektionswand des Innenlebens werden konnte. Der Bus störte Brock nicht bei der Nachstellung des Petrarca-Erlebnisses und nicht der Zwang, sich auf die wechselnden Lichtverhältnisse der Fernsehleute einzustellen; das, meinte er, seien nun einmal unsere heutigen Formen der Wanderschaft. Währenddessen enthüllte er auch das Geheimnis der Plastiktüte. Worüber die Humanisten dialogisch kommunizierten, sei sichtbar, sei gegenständlich gemacht worden. Ein solcher sichtbarer Gegenstand sei auch die Dichterkrone gewesen, mit der Petrarca einst, Königen gleich, gekrönt wurde. Dabei entnahm er der Tüte den "originalgetreuen Nachbau" eines olympischen Lorbeerkranzes und legte ihn der Witwe des Dichters Brinkmann vor den Teller, die das Würzkraut nicht ohne Verlegenheit entgegennahm, denn, wie man sehr leicht verstehen wird, konnte sie nicht umhin, sich die Frage zu stellen, wie Brinkmann auf dieses Spektakel reagiert hätte, Brinkmann, zeit seines kurzen Lebens ein impulsiver, aggressiver Mensch, abweisend in seiner Verletzlichkeit und Abstand zu den feierlichen Ritualen des literarischen oder jedes sonstigen Betriebs haltend. So auch beschrieb ihn uns denn des Abends Peter Handke unter angestrahltem provenzalischem Laub: als zwar einen Dichter der nach 1968 neu aufgekommenen Literatur der Subjektivität, aber als einen, der sein eigenes Ich nicht als "geborgen", als "gerettet" empfand und sohin auch nicht in der Lage war, wie andere Kollegen dieser Richtung früheres, "abgelebtes Leben" verächtlich zu finden. Brinkmann habe sich im übrigen nicht als Subjekt, sondern als Objekt der Landschaft (und der Zustände des Gemeinwesens, muß man hinzufügen) gefühlt. Das Subjektive an ihm sei gewesen, daß er sich gewehrt habe, der "Hohn des Objekts". Er sei darum weniger harmlos gewesen als alle jene Dichter, deren "vorgefaßte Menschenfreundlichkeit" sie heute den Mund voll von Sanftmut, Güte, Zärtlichkeit nehmen lasse; Menschenfreundlichkeit habe er nur momentweise in seinen Gedichten erarbeitet. Brinkmann, der tote Dichter des zudringlichen Zivilisationsmülls; Petrarca und seine fromme Läuterungswanderung auf den windigen Berg; Lorbeerkranz und Fernsehkameras - vor wenigen Jahren noch, als der Mehrzahl der Schreibenden in unserer Mitte der Sinn nach bedingungsloser Absage stand und eine noch so zaghafte Bejahung, und sei es die einer über jeden Zweifel erhabenen Landschaft, kaum einem über das Herz gekommen wäre - vor wenigen Jahren noch wäre das ganze Unterfangen kurzerhand verlacht worden und mißbilligender Wut anheimgefallen. Daß dies heute nicht mehr so ist, muß nichts zu bedeuten haben, sei aber immerhin festgehalten. Petrarca brachte von seinem Anstieg eine erdentrückte Gewißheit und einen Vorsatz zurück. Wir, die Lauten und Leisen, Schwerblütigen und Fröhlichen, Langsamen und Schnellen, Stumpfsinnigen und Gescheiten, brachten ein zu dieser Zeit besser passendes Gefühl für Dissonanzen zurück, für das, was alte Denkgewohnheiten schwer miteinander vereinen können, wie auch Brinkmann es immer wieder ausdrückte, etwa in dem Gedicht "Süden": "Sie träumen alle vom Süden, Wörtersüden ... Betonsüden, südliche Konstruktion, fortzufliehen, in den Süden, wo der Süden ist, aus der Realität in die Fiktion Süden, weiter, über den warmen Beton, wo Gras zwischen den Fugen sprießt, Süden, durch die Schattentunnel, helle Flecken, raschelndes Laub, Süden." Lebet wohl.
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