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Draußen vor dem Paradies

Ein persönlicher Nachruf auf Vladimir Nabokov

Von Dieter E. Zimmer

 

Erschienen in Uwe Friesel (Hg.): Letters from Terra – Vladimir Nabokov zu Ehren. Reinbek: Rowohlt, 1977, S. 11-23

 

DER TOD WAR überall in seinen Werken anwesend: meist als ein barbarischer, schmutziger Akt, der über die Fassungskraft der Gefühle geht, als eine Zumutung an jedes Denken. Einmal, in seinem Roman Fahles Feuer, hat er einen Verrückten einen angenehmen, den idealen Tod erträumen lassen: "Der ideale Sturz ist der aus einem Flugzeug, Ihre Muskeln entspannt, Ihr Pilot perplex, der gefaltete Fallschirm abgestreift, abgeworfen, abgeschüttelt: leb wohl, schutka (kleiner Parachute)! Und abwärts geht's, aber die ganze Zeit fühlen Sie sich ausgestreckt und getragen, während Sie in Zeitlupe wie eine schläfrige Purzeltaube Ihre Saltos schlagen und sich lässig auf den Eiderdaunen der Luft lümmeln oder faul umdrehen, um Ihr Kissen zu umarmen, jeden letzten Augenblick des weichen, tiefen, todgepolsterten Lebens genießend, die grüne Schaukel der Erde bald über, bald unter sich, und dann die wollüstige Kreuzigung, da Sie sich in der wachsenden Hatz, im nahenden Sausen strecken, und dann das Auslöschen Ihres geliebten Körpers im Schoße des Schöpfers ..."

           Der Tod, den Vladimir Nabokov am 2. Juli in Montreux gestorben ist, nach anderthalbjähriger Krankheit, war jenem literarischen Idealtod denkbar fern: eine Bronchieninfektion. So sehr einen mit zunehmendem Alter auch das Bewusstsein der Vergänglichkeit durchdringt: mit Nabokovs Tod hatte ich einfach nicht gerechnet, und immer noch habe ich ihn nicht akzeptiert. Es war mir ganz selbstverständlich, dass er seine Zeitgenossen ein weiteres Mal und nun mit seiner Langlebigkeit in ein ihn erheiterndes Erstaunen setzen würde; zumindest schien die Spiralenbewegung seines Lebens eines weiteren, abschließenden Musters bedürftig, einer Rückkehr nach Russland vielleicht. Wäre sein Leben ein Roman von ihm gewesen, so hätte er ihm diesen kompositorischen Fehler nicht gestattet.

            Jene Stelle über das Sterben im freien Fall habe ich hier so ausführlich zitiert, weil ich es im Grunde für seinem Andenken viel angemessener halte, ihn zu zitieren, als ihm ein paar gepresste Formeln über Leben und Werk nachzurufen. Er hatte nichts übrig für die Zusammenraffung von Bedeutungen. Er hatte entschieden das Bedürfnis, letztlich unnahbar und undurchschaubar zu sein; allen interpretatorischen Festlegungen wusste er sich immer durch trickreiches Hakenschlagen zu entziehen. Jedenfalls hat er allen, die über ihn geschrieben haben, erfolgreich das Gefühl eingegeben, dass sie ihn am Ende mit Sicherheit verfehlen würden. Und ich kann mir nicht helfen: Sein Leben als altmodischer Gentleman in einem einschüchternden Hotelpalast am Genfer See, verschlossen, schwer zugänglich, weltfern, mit ritualisierten Gewohnheiten, ständig bereit, Banausen und Schurken aus seiner Welt hinauszulachen und hinauszuscheuchen – es erscheint mir als eine kommode Rolle, die er sich beigebracht hatte, um in ihrem Schutz jenes Gefühlsleben führen zu können, das die Voraussetzung seiner Bücher ist, eine weitere Maske. Wenigstens lässt sich so viel sagen: Von jenem jovialen, überaus selbstbewussten, schneidend meinungsfreudigen Grandseigneur lässt sich so wenig auf seine Bücher schließen, wie sich umgekehrt auch aus keinem seiner Bücher seine aktuellen Lebensumstände erschließen ließen. Auch wissen wir aus Andrew Fields Biographie, dass Nabokov genau wusste, was als "nabokovisch" galt, und durchaus bemüht war, dieser Rollenvorstellung zu entsprechen.

           Noch aus einem anderen Grund scheint das Zitat angemessener als das Kommentieren. Nabokov war ein Feind alles Allgemeinen, aller Gemeinplätze. In der Kunst wie in der Wissenschaft, schrieb er, gebe es "keine Freude ohne das Detail ... Sämtliche 'allgemeinen Ideen' (so leicht erworben, so gewinnbringend weiterveräußert) müssen notwendig abgegriffene Pässe bleiben, die ihren Inhabern den abgekürzten Weg von einem Bezirk der Ignoranz zum anderen erlauben" – so in seinem vierbändigen Werk über Puschkins Eugen Onegin, so, dem Sinne nach, immer wieder, etwa wenn er seine Studenten in Amerika mit Fragen drangsalierte wie der nach dem Tapetenmuster in Anna Karenins Stube oder wenn er sein Donnergrollen auf die Übersetzer richtete, die sich mit dem "Geist" eines Textes begnügten und darüber den genauen Wortsinn verpassten.

           Nabokov liebte entweder, oder er hasste. Er hasste zum Beispiel alle, die in der Literatur vor allem ein Instrument sozialer Nützlichkeit sahen, den ganzen "publizistischen Ramsch" der engagierten Literaten. Dass Literatur vor allem "einfach und aufrichtig" zu sein habe, hielt er für ein epochales Missverständnis: Sie sei ganz im Gegenteil, wo sie dauerhafter sein wolle als Journalismus, außerordentlich komplex und trügerisch (eine seiner Formulierungen war: "eine Fata Morgana im Spiegel"). Gedanken oder gar "Botschaften" zählten für ihn weniger als Stil .Dabei war er selber alles andere als ein "ungegenständlicher" Schriftsteller, alles andere als ein Mann des Stils ohne Stoff; Neuerfindung der Realität hieß sein Programm. "Der Schriftsteller muss sorgfältig die Werke seiner Rivalen studieren, eingeschlossen die des Allmächtigen. Er muss die angeborene Fähigkeit besitzen, die vorgefundene Welt nicht nur neu zu kombinieren, sondern sie neu zu erfinden. Um dies angemessen zu tun und keine doppelte Arbeit zu machen, sollte der Künstler die vorgefundene Welt erst einmal kennen." Das bedeutete: genaueste Wahrnehmungen, rücksichtsloser Mut zu den eigenen Beobachtungen und Assoziationen, strenge Arbeitsdisziplin und ein pedantisch instandgehaltenes Handwerkzeug – er war imstande, den Webster (es war der Webster II )  zu studieren, um seinen Wortschatz zu erweitern und zu präzisieren.

           Nabokov hatte eine höllische Furcht vor dem Klischee, der Phrase, der Vulgarität, die für ihn keine soziale Kategorie war (sie sei, schrieb er, "bei einem Chicagoer Proletarier nicht seltener als bei einem englischen Herzog" anzutreffen). Ganz besonders verabscheute und fürchtete er die zu politischer Macht gekommene Vulgarität, ob braun oder rot: das Böse des Banalen. Dass er, von seinem Geistes  und Gefühlsaristokratismus aus, Stalinismus und Hitlerismus übereinanderprojizierte, etwa in seinem Roman Das Bastardzeichen, hat natürlich viele aufgebracht; aber es ist denkbar, dass dieser vermeintlich reaktionäre Zug eines nicht zu fernen Tages als geradezu avantgardistisch dastehen wird.

           Er liebte keine Seelenergießungen, entzog sich, ein Virtuose des Vexierspiels, allen Festlegungen und Rubrizierungen und ist doch in jeder seiner Konstruktionen, in jedem seiner Sätze ganz unverkennbar gegenwärtig. Vor allem zwei Fragen haben seine Kritiker (und man muss leider sagen, dass die amerikanische Kritik der deutschen insgesamt ziemlich überlegen war) immer wieder beschäftigt: Ist Nabokov nun ein kalter Menschenverächter, der sich darin gefällt, in bloß zerebralen Konstruktionen arrogant die Schwächen, Lächerlichkeiten, Banalitäten seiner Figuren bloßzustellen? Oder sind seine Bücher im Gegenteil voll von warmer Anteilnahme? Und: Ist Nabokov ein egomanischer Schriftsteller, der nur über sich selbst schreibt? Oder schreibt er im Gegenteil überhaupt nicht über sich selber?

           Mir scheint es gar nicht weiter sonderbar, dass dieses insgesamt doch sehr einheitliche Œuvre so diametral entgegengesetzte Reaktionen auslöst. Sie haben alle recht – fast. Obwohl Nabokov zwei, drei stark autobiographische Romane geschrieben hat (Maschenka, Die Mutprobe und Die Gabe) und sogar eine wirkliche Autobiographie, deren Fortsetzung (Speak On, Memory) bei seinem Tod recht weit gediehen war, und obwohl er immer wieder Einzelheiten seines Lebens verwendete, gibt es keinen Text von ihm, der dem Leser erlaubte zu sagen: Da ist er, der Autor. Selbst die Hauptperson von Speak, Memory ist ein stilisiertes, von der Erinnerung bearbeitetes Ich, der Spiegelreflex einer Kunstfigur. Trotzdem kann dieses Ich natürlich nicht umhin, sich Satz für Satz in seinen Interessen, Vorlieben, Meinungen und in seiner intimsten Gefühlsstruktur zu verraten. Ich vermute, dass der exhibitionistische Charakter aller Kunst mit Nabokovs Begriff von Diskretion und Schicklichkeit nur unter der Voraussetzung zu vereinbaren war, dass er peinlichst jede bekenntnisklamme direkte Aussage über sich selber vermied.

           Und was seine Kälte oder Wärme betrifft: Es stimmt schon, daß er (auch hier wieder Dualist: Liebender oder Hassender) bei gewissen Menschen kein Pardon kannte, keine Erklärungen und Entschuldigungen und mildernden Umstände gelten ließ. Er wünschte Hitler und Stalin in eine Gemeinschaftshölle. Es gibt eine Nabokov'sche Hölle, in der sich die Paduks, die gemeingefährlichen Kümmerlinge auf die ödeste Weise gegenseitig quälen müssten. Aber darüber lässt sich nicht übersehen, mit welchem Mitleid, mit welcher unendlich behutsamen und geradezu andächtigen Sympathie er anderen seiner Figuren gegenübersteht; ja, seine schroffen Verdammungen, könnte man argumentieren, kommen gerade aus einem hypertrophen Gefühl für hilfloses menschliches Leid, das sich nicht anders zu wehren weiß, als dessen erkennbare Verursacher von jedem Verständnis und Verzeihen auszuschließen.

           Ich bin also ganz und gar nicht der Ansicht, Nabokovs Werke seien kalte intellektuelle Spiele auf Kosten der Mitmenschlichkeit; auch nicht der Ansicht, er selber sei in ihnen gar nicht vorhanden. Er ist vorhanden, aber indirekt; er ist ein zerebraler Spieler, aber durch und durch bestimmt von zugeneigter oder verurteilender Anteilnahme.

           Die Literatur war seine eine große Leidenschaft; die andere waren Schmetterlinge. Viele hat es irritiert. Warum, schienen sie zu fragen, ausgerechnet Schmetterlinge, warum ein so biedermännisches Steckenpferd aus dem 19. Jahrhundert? Worauf zu sagen wäre: Zunächst einmal waren die Lepidopteren für Nabokov kein bloßes Hobby. Seine Beschäftigung mit ihnen hatte wissenschaftlichen Rang. Einige Gattungen, Arten und Unterarten sind nach ihm benannt. Jahrelang hat er an dem hochseriösen Museum of Comparative Zoology der Harvard Universität als inoffizieller Kurator gearbeitet. Über Jahrzehnte hinweg erschienen von ihm in Fachzeitschriften Arbeiten mit so hübschen Titeln wie "Das Weibchen von Neonympha maniola Nabokov". Seine entomologische Arbeit galt als musterhaft exakt. Des weiteren kam das Schmetterlingssammeln einem tiefen Bedürfnis entgegen: dem Bedürfnis, allein zu sein, in der Jugend in den Wäldern und Torfmooren südlich von Petersburg, dann, auf der Flucht vor der Revolution, auf der Krim; später in Südfrankreich und in den Rocky Mountains, zuletzt in den Schweizer Alpen – diese gesuchte Einsamkeit konnte er sich über alle Brüche seines Lebens hinweg erhalten.

           So war die Schmetterlingsjagd für ihn auch immer eine Möglichkeit, zurückzutauchen in die im übrigen verlorene Jugend. Dies ist ja heute gewiss eine der größten Barrieren zwischen ihm und seinen Lesern. Wir, die wir nie im Paradies gelebt haben, können auch schwerlich ermessen, was eine so überschwänglich glückliche Kindheit wie seine in einem Menschen bewirkt und was das Bewusstsein ihres unwiederbringlichen Verlusts. Mit ihr muss es zusammenhängen, dass er nach der Vertreibung nirgends mehr festwachsen konnte, dass ihm Mietwohnungen, zeitweilig überlassene Kollegenhäuser, Motels und Hotels reichten, dass er sogar fünfzehn Jahre, die Zeit in Berlin, in einer Umwelt verbringen konnte, die er als indifferent bis ausgemacht unangenehm empfand. Nur in der Kunst ließ sich das frühe Glück wiederholen; die Kunst wurde der Ersatz für jenes tatsächlich einmal erfahrene Glück.

           Vielleicht unterscheidet Nabokov dies am meisten von anderen Autoren seiner Zeit: dass sein Primärerlebnis kein katastrophisches war, sondern ein helles und scharfes Glück.

           Schließlich auch konnte Nabokov an den Schmetterlingen den Luxus studieren, den die Natur zu treiben liebt und den nach seiner Vorstellung jede Kunst zu treiben hat. Mimikry etwa: da täuscht ein Falter ein Blatt vor, und er weist auch gleich den Raupenfraß mit auf. Auch in der Kunst liebte er das Mehr, den Überschuss über das rein funktional Notwendige und Nützliche. Nicht zuletzt wird es ihm Spaß gemacht haben, wie Schmetterlingsjäger unweigerlich als Käuze und Sonderlinge betrachtet werden, Inhaber einer unverständlichen, extravaganten Leidenschaft. Er hielt es immer mit den Sonderlingen. Und er wird schließlich die Schmetterlingsjagd als ein Bild, nein, als eine andere Äußerungsform jenes Jagdeifers gesehen haben, dem er sich in der Kunst auslieferte und der mit List und Tücke und Glück und Talent und Wissen und Gewissenhaftigkeit raren, möglichst unbeschriebenen Exemplaren nachstellte.

           Schauplatz jener verlorenen glücklichen Kindheit, die als Folie in Nabokovs Werk bis zuletzt gegenwärtig blieb, war das vorrevolutionäre Petersburg und das Nabokov'sche Landgut Wyra. Sein Vater war Rechtswissenschaftler, Kriminologe, Politiker und liberaler Publizist; 1922 wurde er in Berlin von fanatisierten rechtsradikalen Exilrussen erschossen. Alles Englische war in der Familie groß angeschrieben, und es war alles andere als ein Zufall, dass Nabokov nach seiner Emigration die Universität Cambridge besuchte; auch für Frankreich, in der Jugend das Ziel mancher Sommerreise, und für die französische Literatur empfand er immer ein tiefes Attachement, und später natürlich für das Land am rettenden ganz anderen Ufer, die Vereinigten Staaten – obwohl er sie sonderbarerweise nach dem irrtümlichen Skandalerfolg der Lolita, der ihm nach Jahrzehnten am Rand der Armut die finanziellen Möglichkeiten dazu gab, verließ und sein Schweizer Luxushotelleben aufnahm.

           Nabokovs Vater war immer ein strikter Gegner des Antisemitismus gewesen, in seinen Zirkeln eine Ausnahme, wie sein Liberalismus in dem Großbürgertum und dem unteren Adel, dem er zugehörte, überhaupt vorwiegend als subversive Ungehörigkeit angesehen wurde. Nabokovs Frau Véra ist Jüdin.

           Ich zähle diese Umstände auf, da ich mich einem für seine deutschen Leser und Bewunderer schmerzlichen Punkt nähern muss. Um es kurz zu machen: Nabokov hatte für Deutschland und die Deutschen nichts übrig. Er war bereit, einzelne Ausnahmen zu machen, er hatte auch Deutsche (so den Komponisten Graun und den Königsberger Verleger Hartung) unter den eigenen Vorfahren. Trotzdem kann man es kaum anders sagen: Er konnte dieses Land von Anfang an nicht ausstehen. Trotzdem brachte er fünfzehn Jahre in Berlin zu; hier fand sein erstes, russischsprachiges Schriftstellerleben statt, unter dem Pseudonym V. Sirin, während er sich den Lebensunterhalt vor allem in der ersten Phase vorwiegend durch verschiedene Privatstunden (Englisch, Französisch, Russisch, Tennis, Boxen) verdiente. Deutsch lernte er, der Sprachperfektionist, nur stümperhaft in all der Zeit. Er lebte, zwischen Halensee und Nollendorfplatz, ganz und gar in der rührigen, aber von ihrer Umwelt gespensterhaft abgeschlossenen russischen Emigrantenkolonie, die vollauf mit sich selber und den eigenen Parteiungen beschäftigt war und Deutschland hauptsächlich in Gestalt von Bürokraten und Zimmerwirtinnen erlebte. Wo Nabokov wie in seinem zweiten Roman (König Dame Bube) Deutsche auftreten lässt, hängt ihnen, ich kann mir nicht helfen, ein leichtes Air schwer definierbarer Unechtheit an; erst in der bewussten Karikatur, zu deren Wesen ja die Überzeichnung gehört, wird alles wieder stimmig – so in der großartigen Kurzgeschichte Wolke, Burg, See, in der ein empfindlicherer Einzelgänger von einem randalierenden, barbarischen Trupp deutscher Ausflügler aus Spaß misshandelt wird. Sie wurde 1937 geschrieben, als er mit Véra und ihrem dreijährigen Sohn Deutschland endlich und wahrhaftig spät genug verließ.

           Im selben Jahr schrieb er an seinen Freund Samuel Rosow: "Es ist ein widerwärtiges und schreckenerregendes Land. Ich konnte die Deutschen noch nie ertragen, den schweinischen deutschen Geist, aber in der gegenwärtigen Lage (die im übrigen ganz gut zu ihnen passt) wurde das Leben für mich dort völlig unerträglich, und ich sage das nicht einfach, weil ich mit einer jüdischen Frau verheiratet bin." Im selben Brief verkündet er seinen Entschluss, nie wieder nach Deutschland zurückzukehren, und an ihn hat er sich bis zuletzt gehalten. Andrew Field, der jenen Brief an Rosow mitteilt, zitiert auf der nämlichen Seite einen Nabokov-Satz, der äußerst überraschend klingt, wenn man sich vor Augen hält, wie kategorisch und stolz Nabokov es sonst verschmähte, in seinen Schriften "soziale Kommentare zu liefern, eine Botschaft zwischen den Zähnen zu apportieren": "There is a sense of responsibility about this theme which I think I will tackle one day. I will  go to those German camps and look at those places and write a terrible indictment ..."

           Es wäre bestimmt falsch, diese Reaktion "nur" darauf zurückzuführen, dass Nabokovs Bruder in einem KZ ums Leben gebracht wurde. Deutschland hatte die Unehre, all das in beispielloser Krassheit offen ausbrechen zu lassen, was Nabokov immer verhasst war; es hat Brutalität und Dummheit zu einem System des Wahnsinns ausgebaut, und von dieser historischen Tatsache her wird es einigermaßen müßig, sich über die Ungerechtigkeit seiner pauschalen Abneigung zu beklagen. Es ist ihr die Rechtfertigung nachgeliefert worden. Nichts hätte Nabokov widerlegen können, hätte er gesagt: Er habe es eben schon immer gerochen. Dass er im übrigen später sein Urteil mildernd differenzierte, geht schon allein aus der großen Mühe und Sorgfalt hervor, die seine Frau und er sich mit der Durchsicht der deutschen Übersetzungen seiner Bücher machten.

          Des öfteren bin ich gefragt worden, ob ich Nabokov denn überhaupt für übersetzbar halte. Der erste Teil der Antwort kann in solchen Fällen nichts anderes sein als eine Geste der Zerknirschung: Natürlich gibt es keine adäquate Übersetzung; wäre ein Übersetzer so sprachmächtig wie der Autor, so brächte er schwerlich die Bereitschaft zu sklavischer Unterordnung auf und nähme sich Freiheiten, die den Nabokovs absolut unakzeptabel gewesen wären. Dies gesagt, halte ich Nabokov für hervorragend übersetzbar. Zwar ist es natürlich eine Art Ingenieursarbeit, einerseits nicht vom genauen Wortsinn abzuweichen, andererseits aber auch die teils sehr kryptischen Allusionen zu entdecken und wiederzugeben und die großen sinnlichen Qualitäten seiner Sprache (Wortklänge, Wortspiele, Satzrhythmen) zu bewahren – Verluste sind dabei unvermeidlich. Dafür aber ist es für den Übersetzer eine ganz besonders dankbare Aufgabe, es mit einer so manifest glanzvollen Sprache zu tun zu haben – nichts deprimierender, als sich mit den Unbeholfenheiten eines Schriftstellers abzuplagen, den man nicht versteht, weil er sich selbst nicht verstanden hat, gegen den man sich Satz für Satz sträubt und den man doch nicht korrigieren darf. Außerdem kommt Nabokov dem Übersetzer in einer Hinsicht sehr entgegen: Er hat seine eigene, synthetische, polyglott gemischte Sprache; der Übersetzer muss sich nicht verrenken, um eine Art idiomatischen Verismus zu erreichen (ein Deutsch zu erfinden, das als der Slang eines Harlemer Schwarzen durchgehen kann; ein irisches von einem englischen Englisch abzusetzen); er kann, er muss sogar eine künstlich eigentümliche Diktion finden. Von den Kritiken meiner Übersetzungen ist mir ein Satz in Erinnerung, der mich wie kein anderer gefreut hat, obwohl er wohl gar nicht als Kompliment gedacht war. Er lautete ungefähr, dass die deutsche Fassung durchweg etwas fremdartig wirke. Genau das sollte sie. Übersetzer neigen leicht dazu, fremde Texte zu einem Standarddeutsch einzuebnen, aus der Befürchtung, man könnte ihnen vorwerfen, überhaupt nicht richtig Deutsch zu können. Wenn es einem Übersetzer wenigstens in gewissem Maß gelingt, den Eindruck hervorzurufen, dass man es nicht mit einem Text von dpa zu tun hat, dann muss er jedenfalls auf dem richtigen Weg der Annäherung sein.

           Vladimir Nabokov war ein Mann aus einer versunkenen Welt, der über alle kurzlebigen Bewegungen hinweg der altmodischen Überzeugung blieb, dass das Dichtung genannte, durch und durch subjektivistische Produkt aus Phantasie und Präzision, geformt von einem an der Tradition geschulten Kunstverstand, vom richtigen und klingenden Wort, dem treffenden Bild, der genau visualisierten Szene zu den schachartigen, komplizierten motivischen Bezügen der Komposition – dass diese Kunst ein Leben wert ist, weil das Leben ohne sie nichts wert ist.

           So ungefähr hörte mein eiliger Nachruf in der Zeit auf, weil Zeitungsartikel nun einmal irgendein richtiges Ende haben müssen. In Wirklichkeit weigere ich mich, irgendeinen letzten Satz über Nabokov zu schreiben. Stattdessen nehme ich mir ein paar persönliche Erinnerungen heraus.

           Im Sommer 1958 war ich als Student und unbegabter Sprachlehrer in Genf. Ich erinnere mich an die Platanen des festlich sonnigen Seeufers, ein schönes Mädchen und das gefährliche Triumphgefühl, noch lange nicht erwachsen sein zu müssen. Unter einer Zeder im Park hinter der Internationalen Arbeitsorganisation las ich Time, und weil ich nichts weiter zu tun hatte auch das, was man gewöhnlich nicht liest, Rezensionen unbekannter Bücher unbekannter Autoren. Dieser hier hieß Nabokov (nie gehört), sein Roman Lolita (Bonbongeschmack im Mund).Ich weiß noch ganz genau, was für mich schon nach einigen Absätzen feststand. So, genau so wünsche ich mir Bücher geschrieben. Schwerer fiele mir zu sagen, was es war, das diese Erkenntnis, diese Erleuchtung, diesen Schock des Einverständnisses bei mir hervorgerufen hatte. Es muss etwas in der Art gewesen sein: dass hier offenbar eine regelrecht spannende Geschichte erzählt wird, ohne dass sich der Leser genieren muss, weil es keine Genreliteratur ist und der Autor dabei ungeheuer sophisticated verfährt und die moderne Tradition nicht verrät; dass hier ein einzigartiges Amalgam von Sinn für Komik und tragischem Lebensverständnis vorliegt; dass hier die Einzelheit so wichtig genommen wird wie das Ganze, man also Satz für Satz mit irgendeiner sinnlichen Freude rechnen kann, aber auch alles zusammenpasst; dass hier Zartheit und Grausamkeit in der genau richtigen Weise in eins fallen; und vor allem dies: dass hier ein Leben als eine atemberaubende, vergebliche Jagd beschrieben ist, dem nicht nur der Gegenstand der Leidenschaft immer entrinnt, weil er im Grunde nur ein Mirage im Kopf des Jägers ist und damit irdischer Inbesitznahme enthoben, sondern weil er durch die Inbesitznahme auch vernichtet würde. Das schien mir damals und erscheint mir noch heute eine sehr an gemessene Weise, die Dinge zu sehen.

           Ich habe sie später nachgelesen: jene Rezension war durchaus kein Meisterwerk an Anschaulichkeit und Unfehlbarkeit. Um so mehr wundert es mich immer noch, wie stark der Charakter eines starken Autors selbst noch in der sachlichen Prosa eines Nachrichtenmagazins durchschlagen kann .Noch ehe ich das sofort bestellte Buch gelesen hatte, schrieb ich einen Brief an Rowohlt, den einzigen deutschen Verlag, der mir dort in Genf einfiel, um ihn auf jene Lolita aufmerksam zu machen. Die höfliche Antwort lautete, dass man die deutschen Rechte längst erworben habe. Als im Jahr darauf die deutsche Übersetzung erschien, war ich Redakteur bei der Zeit und erhielt die Gelegenheit, Lolita selber zu rezensieren. Aus einem mir unerfindlichen Grund fand Nabokov an dem nicht gerade erheblichen Artikel Gefallen; ich kann es mir nur so erklären, dass er damals noch aus Deutschland nur das Allerschlimmste erwartete. Dieses Gefallen wiederum veranlasste Heinz Ledig-Rowohlt, es mit mir als Nabokov-Übersetzer zu versuchen. Ich erinnere mich, dass ich die erste Übersetzung, es war Das wahre Leben des Sebastian Knight, noch in der Reinschrift wochenlang ängstlich bei mir behielt – weil mir immer wieder der Verdacht kam, ich könnte den Roman auf eine nicht offensichtliche Weise total verfehlt haben. Als ich schließlich ziemlich sicher war, dass ich ihn nicht verfehlt hatte, war das für mein Selbstbewusstsein ein großer Sprung nach vorn. So bin ich "zu Nabokov gekommen", indem ich zu mir selbst gekommen bin. Oder umgekehrt.

           In seinem Hintergrund, seinem Lebensstil, vielen seiner Interessen und Ansichten mir sehr fern, ist Vladimir Nabokov dennoch seit jenem Genfer Sommer ein Teil meines Lebens gewesen; niemand, der sich irgend nachahmen ließ, sondern eine große zusätzliche Möglichkeit, so fern und nah wie nur ganz wenige, Kafka vielleicht, Joyce und Proust (da hatte ich Glück, Nabokov bewunderte sie auch und brachte mich in keinen Loyalitätskonflikt).

            Zufällig war ich am Tag seiner Beisetzung in Genf. Auf den alten Wegen versuchte ich, mich mit dem Gedanken einzurichten, dass ich nun nie wieder ein neues Buch von Nabokov aufschlagen würde. Es ist mir nicht gelungen. Meine Trauer ist voller Selbstsucht.

 

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