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 DIE ZEIT Nr. 33/ 7. August 1981 und Nr. 34/ 14. August 1981

Erweiterte Fassung in Dieter E. Zimmer: Die Vernunft der Gefühle – Ursprung, Natur und Sinn der menschlichen Emotion. München: R. Piper & Co. Verlag, 1981, S. 194-232

 

Autorität, Schreckenswort einer Epoche

Von Dieter E. Zimmer

 

I. Dominanz, Hierarchie und Freiheit

 

DIE ERSTEN KINDERLÄDEN waren gegründet, den Professoren im Muff ihrer Talare war der Respekt aufgekündigt, Kommunen probten den fröhlich freien Sex. Es war 1969, die erste große Protestbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg war in vollem Gang, und die Fragen nach Warum und Wozu riefen ihre ersten Theoretiker auf den Plan. Im tonangebenden Kursbuch fasste die Psychologin Regine Dermitzel apodiktisch zusammen, was diese antibürgerliche Bewegung unter anderem bewegte: "In der bürgerlichen Kleinfamilie wird der ödipale Konflikt reaktionär gelöst. Das Kind wird an Herrschaft und ihre Repräsentanten Vater, Erzieher, Staat gewöhnt."[1]

Die Bewegung nannte sich "antiautoritär", das war ihr Titelwort geworden. Das Schlüssel- und Reizwort hieß: Autorität. Der Protest hatte ein Ziel: die Diskreditierung und allmähliche Beseitigung der Autoritäten. Im herrschaftsfreien Reich der Zukunft gäbe es keine Autorität mehr. Es wäre der freie Zusammenschluss Gleicher, in dem keiner über oder unter dem anderen stünde. Oberstes Ziel war es, Herrschaft in jeder Form abzuschaffen. Und der Feind saß nicht in einem anderen Land oder einer anderen Klasse. Der Anfang sollte dort gemacht werden, wo "Autorität" entsteht: in der Familie. Es ist die Familie, so lautete ihr Verdacht, die uns für das Herrschen und Beherrschtwerden abrichtet. Wer ihrem verhängnisvollen Einfluss entginge, würde später weder andere beherrschen noch selber beherrscht werden können.

In linksbürgerlichen Kreisen breitete sich ein allgemeiner Autoritätsverdacht aus, der eine ganze Eltern- und Lehrergeneration verunsichern sollte. Erwachsene, die selber als Kinder noch wie selbstverständlich geohrfeigt worden waren, erschraken über ihre autoritären Eltern. Wenn sie ihre eigenen Kinder jetzt in der Öffentlichkeit aufforderten, bitte leiser zu sein, zogen sie tadelnde Blicke auf sich. Man wollte doch nicht als autoritärer alter Knochen dastehen. Seitdem hat diese antiautoritäre Zuversicht merklich an Überzeugungskraft verloren. Hinterlassen aber hat sie ein fortschwelendes Unbehagen an dem, was wir Autorität nennen. Nach wie vor fürchten viele Eltern und Lehrer und Chefs wenig so sehr wie den Vorwurf, autoritär zu sein. Und gewachsen ist das Gespür dafür, in wie vielen Verkleidungen Autorität in Erscheinung tritt.

Tatsächlich ist das Phänomen Autorität von einer irritierenden Ubiquität. Wo wir auch hinsehen, stoßen wir auf Hierarchien: in den Familien, in den Schulen und Universitäten, ganz besonders krass beim Militär, im Beruf, im Staat, in allen Organisationen. Als bekäme der Mensch gar nicht genug davon, hat er sich in den Religionen noch eine überlebensgroße Hierarchie von göttlichen Übervätern dazu geschaffen. Allen Träumen von einem autoritätsfreien Leben zum Trotz leben wir, manchmal nur allzu willig, manchmal widerstrebend, bald selber Autorität ausübend, bald uns fremder Autorität fügend, inmitten eines dichten Netzes von Hierarchien.

"Autorität": Es ist dies einer jener schillernden großflächigen Begriffe, die hilfreicher scheinen, als sie sind. Definiert ist er schnell oder nie: Autorität ist ein "maßgebender Einfluss auf andere"; autoritär ist also derjenige, der einen maßgebenden Einfluss auf andere ausübt. Der Begriff fasst Übereinstimmendes in den verschiedensten Lebensbereichen zusammen, und damit schärft er unseren Blick für geheime Gleichartigkeiten. Aber er behandelt auch Verschiedenstes als gleich, und dann verbindet er die Eltern, die ihren Sohn zum Musikunterricht schicken, mit den Folterknechten eines Himmler. Ist nicht beide Male "Autorität" im Spiel?

Diese Einebnung der Unterschiede durch den Großbegriff hat zweierlei unangenehme Folgen. Sie gestattet es den Gewaltherrschern, den kleinen wie den großen, sich hinter dem zu verschanzen, was das Wort Autorität an Positivem enthält: Sind sie denn nicht bloß väterlich streng zu den Beherrschten und Unterdrückten? Und sie hindert jene, die nur das Negative wahrnehmen, zuträgliche von unzuträglicher, notwendige von überflüssiger Autorität zu unterscheiden. Der unterscheidungslose Gebrauch leistet Betrug und Selbstbetrug Vorschub.

 

Amerikaner haben manchmal den beneidenswerten Hang, schwierige theoretische Fragen, über die sich endlos diskutieren ließe, praktisch zu beantworten. Mitte der siebziger Jahre machten sich zwei amerikanische Schriftsteller, John Rothchild und Susan Berns Wolf, mit ihre beiden eigenen Kinder auf den Weg und zogen in einem alten VW-Bus sechs Monate lang von Florida nach Kalifornien durch die amerikanische Subkultur. Sie wollten sehen, welche Art von Kindern die Gegenkultur, die counter-culture, auf die sie selbst viele Hoffnungen gesetzt hatten, denn nun hervorgebracht hatte. Sie besuchten politische Radikale, religiöse Sekten, Stadt- und Landkommunen, Gemeinschaften rehabilitierter Drogensüchtiger. Sie lebten eine Weile mit ihnen, beobachteten die Kinder und die Eltern und beider Verhältnis zueinander. Sie selber sympathisierten mit dem alternativem Leben, wussten aber nicht schon im voraus, welche Folgen dieses für die Kinder haben würde. Ihre eigene Vorliebe trübte ihnen nicht den Blick – sie wussten, welche Kinder ihnen gefielen, und sie waren nicht bereit, die weniger günstigen Beobachtungen ideologisch zuzudecken oder überhaupt mit einer vorgefassten Theorie an ihre Beobachtungen heranzugehen. Das Ergebnis dieser Reise ist das Buch Die Kinder der Subkultur, eindrucksvoll in seiner intelligenten Frische, aber nie ins Deutsche übersetzt und hierzulande unbekannt – sein Fazit ging dem Zeitgeist wohl zu sehr gegen den Strich.[2]

Unter den alternativ lebenden Städtern fanden sie Leute, die alle Gebote und Verbote verabscheuten, die in einem "ständigen Kampf für ihre Freiheit" begriffen waren, gegen die "Bullen", gegen die Drogengegner, gegen die Schulen, gegen die Arbeit. Ihre Kinder ließen sie völlig frei aufwachsen, nötigten sie nicht einmal, sich die Zähne zu putzen oder zu einer bestimmten Zeit schlafen zu gehen. Alles durften die Kinder; jeder Versuch, sie irgendwie zu steuern und zu bremsen, wurde als "Faschismus" verdächtigt. Wenn Kinder je autoritätsfrei aufwuchsen, waren es diese.

Rothchild und Wolf stellten jedoch fest: Diese Kinder waren ungesellig, gelangweilt, lustlos, gemein. Den einen Jungen beobachteten sie, wie er anderen Kindern das Spielzeug wegnahm und sie tyrannisierte. In einer Kommune hatten die befreiten Kinder ihre grenzenlose Freiheit dazu benutzt, die ganze Siedlung niederzubrennen. Die befreiten Kinder waren krampfhaft bemüht, irgendeine Art von Aufmerksamkeit oder Zuwendung von ihren Eltern zu erhalten. Manchmal war ihr einziges Mittel der schiere Widerspruch. So tat ein Junge genau das, was seine Mutter nicht wünschte: Er lief zu den Harekrishnas über. Die Tochter einer Drogensüchtigen, die selber in lässigster Unordnung und Kahlheit hauste, hatte sich ein eigenes Zimmer perfekt wie aus einer Wohnzeitschrift eingerichtet. Fazit: Diese Kinder erlebten die Befreiung von der elterlichen Autorität vor allem als ein trostloses Im-Stich-gelassen-Werden.

Das genaue Gegenteil fanden Rothchild und Wolf in manchen Landkommunen vor. In einigen blieben die Kinder weitgehend an ihre Eltern oder ein Elternteil gebunden, in anderen war die ganze Gruppe für sie zuständig. In jedem Fall waren sowohl Eltern als auch Kinder stark in die ganze Gruppe integriert, und in keinem Fall dachten die Erwachsenen daran, die Kinder von Geboten und Verboten zu verschonen. "Solange man den Kindern gegenüber unsicher ist, linken sie einen. Man muss geradeaus mit ihnen sein", war das Erziehungsmotto einer Kommune.

Diese Kinder wuchsen auf in großer physischer Freiheit. Kein Stundenplan regelte ihren Tag. Sie wurden weder ängstlich vor Gefahren behütet noch, wenn die Erwachsenen ihre Konflikte miteinander austrugen, vor starken emotionalen Schocks bewahrt. Es gab keine Heimlichkeiten vor ihnen. Die Erwachsenen sagten ihnen unmissverständlich, wenn sie sie unausstehlich fanden, warfen sie dann oft hinaus, ließen sich jedenfalls nichts gefallen. Doch ergingen sie sich nicht in allgemeinen moralischen Ermahnungen, sie appellierten nicht an das, was Rothchild und Wolf das "mythische Du" nannten ("du solltest dich schämen", "ein braver Junge lügt nicht"), sie kritisierten sie nicht im Hinblick auf eine spätere Zukunft ("wenn du mal Fernfahrer werden willst, musst du fleißig sein"). Forderungen an die Kinder waren persönlich, spontan und unmittelbar. Die Kinder spielten viel miteinander, streiften zusammen frei durch die Landschaft, wurden aber früh angehalten, Aufgaben innerhalb der Gemeinschaft zu übernehmen, und zwar wirkliche Aufgaben, keine zu pädagogischen Zwecken erfundenen Scheinaufgaben.

Die so aufgewachsenen Kinder, fanden Rothchild und Wolf, würden wahrscheinlich keine ehrgeizigen Leuchten draußen in der bürgerlichen Welt werden. Aber es waren freiere, gesündere, umgänglichere, entspanntere, zufriedenere, selbständigere, verantwortungsvollere Kinder als die der bürgerlichen Welt; auch noch als Teenager waren sie ohne Feindseligkeit und Aufsässigkeit.

Dieses Ergebnis bestätigte einige Erwartungen an das alternative Leben, und es widerlegte andere. In der Tat kann es anscheinend selbständigere und selbstbewusstere Menschen hervorbringen; aber was diese größere Selbständigkeit bewirkt, ist eben nicht die Befreiung von Autorität.

 

Solche Beobachtungen verlangen nach einer Erklärung. Um sie zu verstehen, muss rekapituliert werden, was die empirischen Wissenschaften über menschliche Autoritätsverhältnisse an den Tag gebracht haben. Vielleicht wird man meinen, das sei noch nicht beweiskräftig; oder man hätte alles sowieso schon immer gewusst. Aber "gewusst" oder vermutet wird genauso oft auch etwas ganz anderes oder sogar das genaue Gegenteil. Darum helfen uns empirische Untersuchungen durchaus, im Wust der Vermutungen die plausibleren von den unplausibleren zu trennen.

Die Sozialpsychologie hat ziemlich genaue Vorstellungen darüber gewonnen, wie stark wir von Autoritäten abhängig sind. Einige ihrer Einsichten kamen als Schock, der so manches utopische Menschenbild erschüttert hat.

Wie selbständig sind wir in unseren Urteilen, wie stark werden wir von anderen beeinflusst, auch wenn sie uns noch nicht einmal übergeordnet sind?

Der amerikanische Psychologe Solomon Asch erdachte dazu ein in seiner Einfachheit elegantes Experiment.[3] Eine Versuchsperson wurde ins Labor gebeten, angeblich um an einem wahrnehmungspsychologischen Versuch teilzunehmen. Als der Proband eintraf, saßen andere schon im Raum. Die Gruppe bekam den Auftrag, nacheinander mehrere unterschiedlich lange Linien mit einer Standardlinie zu vergleichen. Einer nach dem anderen sollte nur sagen, ob die gerade gezeigte Linie länger oder kürzer sei als die Vergleichslinie. Die Versuchsperson, die als letzte gefragt wurde, wusste nicht, dass die anderen Komplizen des Versuchsleiters waren, die ihre eigenen Wahrnehmungen nach einem vorbesprochenen Plan fälschten.

Jede für sich hatten die Versuchspersonen die Längen der Linien völlig richtig eingeschätzt; jetzt, unter dem Eindruck der falschen Urteile der Komplizen, begannen viele von ihnen falsche Urteile zu fällen. Nur ein Viertel der Versuchspersonen traute weiter den eigenen Augen. Ein Drittel richtete sich ganz, der Rest teilweise nach den falschen Urteilen der Gruppe. Einige taten dies ganz unbewusst; andere wussten wohl, dass sie im Recht waren, mochten den anderen aber nicht widersprechen. Die meisten waren schlicht überzeugt, die eigene Wahrnehmung müsste falsch, die der Mehrheit richtig sein.

Was folgt daraus? Dass wir uns keineswegs nur auf uns selber verlassen, sondern unsere Urteile, ja schon unsere Wahrnehmungen, oft ohne es auch nur zu merken, im Sinne der Gruppe korrigieren, in der wir uns gerade bewegen. Stärker sogar als der momentane Augenschein ist oft unser Bedürfnis, im Einklang mit unseren Mitmenschen zu leben.

Zu den spektakulärsten und erschütterndsten, auch zu den brillantesten psychologischen Experimenten, die je unternommen wurden, gehören die des amerikanischen Psychologen Stanley Milgram von der Universität Yale.[4]  Sie fanden Anfang der sechziger Jahre statt, umfassten mehr als tausend Versuchspersonen aller Schichten und Altersstufen und wurden später von anderen Wisschenschaftlern vielfach wiederholt, immer mit ähnlichem Ergebnis.

Die per Inserat angeworbene Versuchsperson kommt in ein Labor, vermeintlich um an einem lernpsychologischen Experiment teilzunehmen. Angeblich sollen Zusammenhänge zwischen Bestrafung und Lernen geklärt werden. Eine zweite Versuchsperson ist bereits da. Per Los wird zwischen beiden entschieden, wer "Schüler" und wer "Lehrer" sein soll. In Wirklichkeit ist die andere Versuchsperson ein Komplize des Versuchsleiters, die Lose sind gezinkt, die echte Versuchsperson wird immer "Lehrer". Als solcher erhält er von einer "Autorität", nämlich dem leitenden Wissenschaftler, den Auftrag, dem "Schüler" Wörter vorzulesen, die dieser wiederholen muss; bei einer falschen Antwort soll der "Lehrer" den "Schüler" mit einem elektrischen Schlag bestrafen; von Fehler zu Fehler soll er die Voltzahl um einen Grad steigern. Der "Schüler" erhält die Schläge nicht wirklich, sondern spielt ihre Wirkungen nur: Bei den leichten zuckt er zusammen, bei den schwereren klagt er immer dringlicher, bettelt darum, aus dem Experiment entlassen zu werden, am oberen Ende der Volt-Skala windet er sich brüllend vor Angst und Qual.

Wie weit würden die "Lehrer" gehen? Milgram hatte im Vorfeld der Experimente Voraussagen gesammelt. Die meisten hatten gesagt: allenfalls bis zu einem kräftigen Stromschlag. Kein einziger hatte es für möglich gehalten, dass irgendjemand bis zum schweren oder gar lebensbedrohenden Stromschlag weitermachen würde.

Die Wirklichkeit sah anders aus. War der "Schüler", also das "Opfer", in einem anderen Raum außer Sicht- und Hörweite, so gingen 65 Prozent der Versuchspersonen bis ans Ende der Skala. Konnten Sie das Opfer schreien hören, machten noch 62 Prozent bis zu Ende mit. Waren sie mit dem Opfer in einem Raum, so gingen 40 Prozent bis zu den höchsten Stromstärken. Und selbst noch dann, wenn sie Seite an Seite mit dem Opfer saßen und es bei seiner "Bestrafung" anfassen mussten, waren es noch 30 Prozent.

Erhielten die Versuchspersonen nicht die Weisung, die Voltzahl zu steigern, sondern war es ihnen überlassen, diese selber zu bestimmen, so wählten sie alle ohne Ausnahme nur die schwächsten Schläge. Keineswegs tobte sich in diesem Experiment also Aggressivität aus. Es war nicht unterschwelliger Sadismus, der die Versuchspersonen trieb, sondern Fügsamkeit.

Wurde die "Autorität", also der Professor, der da im Namen der Wissenschaft Gehorsam von ihnen forderte, durch einen ersichtlich inkompetenten "Gehilfen" ersetzt, gingen nur noch 20 Prozent bis zum Ende. Gab es zwei "Autoritäten", die miteinander stritten, ob der Versuch fortgesetzt oder abgebrochen werden sollte, so hörten die Versuchspersonen sofort auf. Waren die Versuchspersonen nur Beobachter, wie ein inkompetenter "Gehilfe" das Opfer malträtierte, so protestierten die meisten; einige hielten den "Gehilfen" sogar handgreiflich davon ab, die Stromstärke zu. erhöhen. Betätigte jedoch jemand anderes den Stromschalter nach ihren Weisungen, so machten fast alle Versuchspersonen bis zum Ende weiter.

Das heißt also: Unsere Bereitschaft, andere leiden zu lassen, wenn eine Autorität uns dazu drängt, ist groß. Sie wächst enorm, wenn wir nur die Befehle geben und die Ausführung anderen überlassen. Sie verschwindet indes völlig, wenn unser Handeln ausdrücklich in unserem eigenverantwortlichen Ermessen liegt.

Verglichen mit den Zwangslagen, in die uns die Wirklichkeit immer wieder stürzt, ging von den Versuchssituationen nur eine sehr milde Nötigung aus. Die "Lehrer"-Rolle war jedem Teilnehmer scheinbar durchs Los zugefallen; er musste sich also denken, dass er ebenso gut hätte Opfer sein können. Jeder war allein, hier mit der Autorität, dort dem Opfer. Keine Gruppe drängte ihn. Alle Versuchspersonen hatten unmittelbaren, teils sogar physischen Kontakt mit dem Opfer. Und vor allem: keinerlei Strafe, keinerlei Nachteil drohte ihnen, wenn sie den Versuch beendeten – sie mussten nur nein sagen und gehen. In echten Situationen also dürfte die Fügsamkeit noch größer sein.

Es waren Durchschnittsmenschen, die da folterten. Sie zogen keinerlei Genuss daraus, litten oft sichtbar unter dem Konflikt zwischen Fügsamkeit und Menschenfreundlichkeit (Frauen häufig stärker). Indessen, sie gehorchten der Autorität. Hannah Arendt habe wohl Recht gehabt, schloss Milgram, als sie im Zusammenhang mit Adolf Eichmann von der "Banalität des Bösen" sprach: Es braucht keine sadistischen Monstren, andere zu foltern. Auch brave Bürger, die aus einem "Gefühl der Verpflichtung" gegenüber der Autorität handeln, besorgen das Geschäft.

1970 wiederholte David Mark Mantell das Experiment in München.[5] Hier gehorchten sogar 85 Prozent der Versuchspersonen bis zum Ende. Unter ihnen waren auch sieben junge Leute, die damals "Gammler" oder "antiautoritäre Protestler" hießen. Von ihnen gehorchten sechs bis zum Schluss.

1975 warb der kalifornische Psychologe Philip Zimbardo 24 Studenten an, um angeblich an einem Experiment über die Auswirkungen von Gefängnishaft teilzunehmen.[6] Durch Los wurde aus ihnen eine Gruppe von "Wärtern" und eine Gruppe von "Gefangenen" gebildet. Wenige Tage später waren die Studenten plötzlich Wesen, "die sie eine Woche früher nicht erkannt hätten". Beide Gruppen behandelten sich wie entmenschte Feinde. Die einen duldeten stumm, einige brachen zusammen und mussten vorzeitig entlassen werden; die anderen schikanierten und peinigten sie. Da die Gruppen der Zufall gebildet hatte, konnte nicht die eine aus Duldern und die andere aus Sadisten bestehen. Das heißt: Ob wir andere herumkommandieren, hängt nicht so sehr von unseren Charaktereigenschaften wie von der Situation ab, in die wir gestellt werden – insbesondere von dem Konformitätsdruck der eigenen Gruppe.

All dies bestätigt Arthur Koestlers Feststellung in Das Gespenst in der Maschine[7]: "Die selbstsüchtigen Impulse des Menschen stellen eine sehr viel geringere historische Gefahr dar als seine integrativen Neigungen." Wir entwerfen Idealbilder von uns selbst und vergessen dabei unser Bedürfnis, sich der Gruppe zu unterwerfen und der Autorität zu beugen. Auch wenn uns gar nicht wohl ist, der Konflikt mit Gruppe und Autorität schreckt uns.

 

Die empirische Psychologie hat die Eigenschaften isoliert, die einen Menschen in den Augen der anderen zu einer "Autorität" machen. Es sind: Intelligenz (die aber nicht zu hoch sein darf, nämlich nicht mehr als 30 IQ-Punkte über dem Gruppendurchschnitt), Anpassung an die Mehrheit, Extraversion, Männlichkeit und eine höhere interpersonelle Sensibilität. Autorität ist überragende Entschluss- und Tatkraft, die sich jedoch als realitätstauglich erweisen muss.

Lieber als den Begriff "Autorität" verwenden Psychologen heute den weniger mit schillernden Bedeutungen beladenen Begriff "Dominanz". Dominanz – das ist für die Psychologie, was man früher eine Charaktereigenschafft genannt hätte und heute ein definiertes und messbares Persönlichkeitsmerkmal nennt: die Fähigkeit, sich gegenüber anderen durchzusetzen. Sie lässt sich auf einer Skala messen, die von "Dominanz" (Durchsetzungskraft) bis "Submission" (Unterwerfung) reicht. Man stellt den Versuchspersonen Fragen nach ihrem Verhalten unter bestimmten Umständen oder beobachtet sie in standardisierten Situationen. Jeder erzielt auf dieser Skala einen für ihn charakteristischen, relativ konstanten Wert.

Ob psychische Eigenschaften vererbt werden oder sozial vermittelt werden, darüber ist lange und leidenschaftlich gestritten worden, in der Hauptsache um die Frage, ob Intelligenz – genauer: die messbare Intelligenz, der IQ – erblich ist. 1976 gingen die texanischen Psychologen John C. Loehlin und Robert C. Nichols der nicht minder interessanten Frage nach, ob und wie sehr neben dem IQ auch Persönlichkeitsmerkmale erblich sind.[8] Sie untersuchten die große Zahl von 850 Zwillingspaaren: teils eineiige, teils zweieiige Zwillinge. Der Vergleich beider Gruppen gibt Anhaltspunkte für die Erblichkeit eines Merkmals. Wenn die völlig erbgleichen eineiigen Zwillinge einander nicht ähnlicher sind als die nur teilweise erbgleichen zweieiigen Zwillinge, heißt das, dass das Genom ohne Konsequenz für die Ähnlichkeit bei dem betreffenden Merkmal ist. Sind sich die eineiigen Zwillinge jedoch durchgehend ähnlicher als die zweieiigen, so muss ihre Ähnlichkeit genetisch bedingt sein. Loehlin und Nichols kamen zu dem Schluss, dass die Erblichkeit bei den meisten Persönlichkeitsmerkmalen zwischen 30 und 70 Prozent liegt. 30 bis 70 Prozent der gemessenen Unterschiede gehen also auf genetische Unterschiede zurück. Bei dem Merkmal "Dominanz" beträgt die Erblichkeit über 50 Prozent. Nur bei einem anderen liegt der Wert noch höher – bei der "sozialen Präsenz", die mit "Dominanz" eng verwandt ist. Dagegen hilft nun kein Geschrei: Wie dominant ein Mensch tatsächlich ist, hängt nicht einmal zur Hälfte von seiner Erziehung, seinen Lebenserfahrungen, den Zwängen, Verführungen und den tausend Einzelheiten seiner sozialen Umwelt ab, sondern ganz erheblich von seiner erblichen Mitgift.

 

 

SPÄTESTENS SEIT Thorleif Schjelderup-Ebbe 1922 die Hackordnung im Hühnerhof beschrieb, ist der Biologie das Phänomen der Dominanz geläufig.[9] Fast im ganzen Tierreich ist es anzutreffen. Rangordnungen, viele unerbittlich streng, manche laxer, wurden bei einer großen Zahl von Tierarten gefunden und beschrieben – bei Insekten, Vögeln und Säugetieren. Es wurde auch offenkundig, warum fast alle sozial lebenden Tiere Rangordnungen bilden. Wird eine Gruppe angegriffen, so vergrößert es die Überlebenschancen ihrer Angehörigen, wenn sie einem starken und erfahrenen Leittier folgen; außerdem erspart eine stabile Rangordnung den Gruppenmitgliedern, jedes Mal aufs neue den Vortritt (beim Fressen oder bei der Paarung) erkämpfen zu müssen. Nach außen schafft die Hierarchie größere Sicherheit, im Inneren Stabilität und Frieden. Die Dominanzordnungen sind keine Schikane, die die Natur über ihre Geschöpfe verhängt hat; sie sind eine zweckvolle Ordnung überall dort, wo Ungleiche zusammenleben müssen. Auch "die da unten" profitieren von ihnen.

Seit den Arbeiten des britischen Biologen Michael Chance (1967) betrachtet die Verhaltensbiologie die tierischen Dominanzordnungen auch nicht mehr ausschließlich als eine Sache der rohen körperlichen Gewalt.[10] Sie spricht eher von "Aufmerksamkeitsstrukturen": Dominante Tiere sind diejenigen, welche die meiste Aufmerksamkeit der Gruppe auf sich ziehen. Dominanz ist Prominenz. Jerome Barkow mutmaßt: "Es lässt sich mit Grund annehmen (wenn auch nicht unwiderleglich beweisen), dass die Aufmerksamkeitsstruktur unserer (vormenschlichen) Vorfahren auf uns übertragen wurde, verewigt in unseren verinnerlichten Bildern von elterlichen und anderen dominanten Figuren. Wie unser Blut die Zusammensetzung des Urmeeres bewahrt, so erschaffen unsere psychischen Strukturen die Sozialordnung der ersten Hominiden immer wieder aufs neue."[11]

Richard Savin-Williams beobachtete 1977 ein amerikanisches Ferienlager durch die Brille des Soziobiologen, der jenseits aller individuellen und kulturellen Unterschiede jene grundlegenden Verhaltensmuster aufspüren will, die von unserer biologischen Geschichte geformt wurden und zusammen das "Biogramm" unserer Art bilden.[12] Savin-Williams stellte dabei fest, dass die fünf oder sechs Bewohner jeder Hütte – Jungen zwischen zwölf und vierzehn – schon innerhalb einer Stunde nach ihrer Ankunft eine Rangordnung "ausgemacht" hatten. Dabei nahmen nicht etwa die Größten und Stärksten die Führer- oder "Alpha"-Position ein, sondern die Bestaussehenden, die körperlich Reifsten und Sportlichsten. "Beta" wurde ein Junge, der gut mit "Alpha" auskam. "Gamma" wurde einer, der groß und stark, aber unbeliebt war – der Gruppentyrann. Jede Gruppe hatte einen "Witzbold" in einer mittleren Position. "Omega" wurde der Unreifste, Kleinste, Unsportlichste; aber erstaunlicherweise war kein "Omega" unglücklich – alle wollten sie dazugehören und das nächste Mal wiederkommen. Wurden alle "Alphas" zusammen in eine Hütte verlegt, etablierten sie untereinander wieder eine ähnliche Rangordnung.

Eine parallele Studie wurde in einem Ferienlager für Mädchen gemacht. Die Rangordnungen hier entstanden weniger schnell, waren weniger umkämpft und weniger ausgeprägt. Die "Alpha"-Position fiel nicht an die Hübscheste und Sportlichste, sondern an die Reifste und Mütterlichste. Ihre Haupteigenschaften: zuversichtlich, loyal, gütig und geschickt.

Das nun passt gut zu dem, was völlig unabhängig davon in psychotherapeutischen Gruppen beobachtet worden war. Dem Schweizer Psychiater Adolf Friedemann war aufgefallen, dass informelle Gruppen, Gruppen also, die frei sind, ihre inneren Beziehungen nach Belieben einzurichten, quasi automatisch Rangordnungen bilden.[13] An der Spitze steht die "Kernfigur" Alpha: Sie argumentiert nicht, sie handelt und entscheidet. In der Beta-Position findet sich der "neutrale Sachkenner", der "Könner", der Alpha oft nicht unter-, sondern beigeordnet ist. Die Gamma-Positionen werden einerseits von den aktiven "Anhängern", anderseits von den passiven "Mitläufern" eingenommen. Die "Prügelknaben" und "Mauerblümchen" in der Omega-Position bilden das untere Ende der Rangordnung.

Fazit: Überlässt man eine Gruppe von Menschen sich selber, so etabliert sie ganz spontan eine Rangordnung. Niederländische Experimente von Mauk Mulder und Ad Stemerding stützen die Vermutung, dass die Gruppe umso fester zusammenhält und sich umso enger um ihren Anführer schart, je bedrohter sie sich fühlt.[14] Tatsächlich tun also die Menschen, was auch Tiere auf Grund inhärenter Verhaltensprogramme tun: Sie bilden Hierarchien, und die untergeordneten Mitglieder sind nicht etwa zu nagendem Leiden verurteilt, sondern akzeptieren ihren Status ganz bereitwillig oder sogar lustvoll.

Ist das nun ein angeborener Instinkt, oder ist es "soziales Lernen"? Die Frage ist nicht sonderlich sinnvoll. Es ist damit zu rechnen, dass es auch beim Menschen in der Summe seiner genetisch bedingten Anlagen eine Neigung (keinen imperativen Befehl) zur Bildung von Rangordnungen gibt, und da es diesen gibt, haben die Heranwachsenden Gelegenheit, die Bildung von Rangordnungen um sich her zu beobachten und es ihren Mitmenschen nachzumachen. Sie wachsen wie selbstverständlich in Rangordnungen hinein, und es braucht Kraft, sich aus ihnen zu lösen. Doch auch wenn keine erbliche Anlage ihnen die Bildung von Rangordnungen einflüsterte: sie täten es dennoch.

Der französische Verhaltensbiologe Henri Laborit betrachtete das Streben nach Dominanz als ein naturgegebenes Prinzip, und er machte es für die größten Probleme der Menschheit verantwortlich, für ihre Krisen und Kriege.[15] "Die einzige Motivation der Menschen hat bis heute darin bestanden, dass Individuen, Gruppen, Nationen und Blöcke Dominanz suchten und etablierten." Am Ende eines Kinofilms von Alain Resnais, Mein Onkel aus Amerika (1980), der sozusagen die Illustration eines Vortrags von Laborit ist, zeigt der Regisseur, was das Dominanzprinzip anrichtet: Die Kamera fährt eine leere, verwüstete Stadtstraße ab. Trotzdem, meint Laborit, könne, von einem Dominanzinstinkt keine Rede sein. Es braucht ihn nämlich gar nicht. Denn wo immer mehrere Menschen aufeinandertreffen und es auf dieselbe Sache abgesehen haben, müssen sie zwangsläufig miteinander rivalisieren. Das gesellschaftliche Leben ist eine einzige Folge von Machtproben; bei jeder erlangt einer die Dominanz. Überall nur Winner und Loser.

Die These, das Dominanzstreben sei die Hauptmotivation des Menschen, wie sie Laborit und Resnais so beredt und anschaulich vertreten, ist im übrigen so irreführend wie alle monokausalen Erklärungen menschlichen Verhaltens. Für Marx war es Besitzgier ("Profitstreben"), für Freud der Sexualtrieb, für Robert Ardrey der "territoriale Imperativ", für die Behavioristen die Konditionierung. Doch alle diese Modelle greifen hoffnungslos kurz angesichts des phantastischen, verwobenen Reichtums ererbter wie erworbener Bedürfnisse und Motive.

Wir sind psychisch und physiologisch dazu ausgerüstet, uns in Dominanzordnungen wiederzufinden. Das Repertoire unserer Gefühle, das uns an unsere stammesgeschichtliche Vergangenheit bindet, enthält viele, die nur innerhalb von Rangordnungen Sinn ergeben: Stolz, Demut, Ehrgeiz, Neid, Scham, Bewunderung, Verachtung. Das heißt nicht, dass wir von Natur aus im Grunde alle Despoten sein wollen; es können auch Hierarchien der mildesten Art sein, denen wir uns einfügen. Aber es stattet uns mit der gefährlichen Fähigkeit aus, uns sogar in rabiaten Dominanzordnungen noch ganz wohl zu fühlen.

 

 

II. Furcht, Respekt und Liebe

 DAS PHÄNOMEN AUTORITÄT macht uns zu schaffen. Es ist aber nicht die eher anthropologische Frage, ob Autorität sein muss, wo Ungleiche zusammenleben, die Philosophen und Ideologen bewegt hat. Es ging, zumal seit dem Triumph Hitlers, um eine speziellere Frage, nämlich: Was bringt den Nazi hervor? Woher rührt dessen "eigentümliche Mischung aus Aggressivität und hündischer Geducktheit" (Joachim C. Fest)? Was macht den Menschen, der nach oben katzbuckelt, liebedienert und stumm gehorcht und der nach unten tritt? Wie könnte man ihn verhindern? Eine Antwort darauf war die antiautoritäre Erziehung: ein alternatives Programm, aus der keine autoritären Menschen, sondern mündige, selbständige, demokratische Persönlichkeiten hervorgehen sollten.

Über Zusammenhänge zwischen Familienhintergrund und dem, was später die "autoritäre Persönlichkeit" heißen sollte, begann der Soziologen- und Analytikerkreis um Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Erich Fromm schon in den dreißiger Jahren nachzudenken. Nach 1933 musste er in die Emigration und setzte schließlich in Kalifornien seine Arbeit fort. Noch 1936 gab er in Paris ein reichhaltiges Sammelwerk über "Autorität und Familie" heraus.

Die maßgebende Theorie über Autorität und Familienhintergrund darin entwarf Erich Fromm.[16] Er knüpfte an Freud an. Der hatte es so gesehen: Der kleine, etwa drei- bis sechsjährige Junge verliebt sich in seine Mutter und wird darum auf den Vater eifersüchtig, der Vater wird insgeheim sein gehasster Rivale. Diese "ödipalen" Wünsche sind natürlich unerfüllbar. Er muss sie aufgeben, und dieser Verzicht fällt ihm leichter, wenn er sich mit dem Vater "identifiziert", dessen Gebote und Verbote zu seinen eigenen macht, wie später die Vorschriften von Erziehern, Lehrern, Vorbildern. Sie alle bilden sein Gewissen, sein "Über-Ich". Das Über-Ich ist die verinnerlichte väterliche Autorität. Dass der Mensch später Autoritäten anerkennt, sich ihnen fügt, an sie glaubt, kommt daher, dass er die Normen seines Über-Ichs wiederum personifiziert. Alles in allem ist es die Familie, die die Bereitschaft bestimmt, Autoritäten zu suchen und anzuerkennen.

Erich Fromm nun wendete diesen Ansatz ins Gesellschaftliche. Freud, sagte er, habe nur gesehen, dass die Autoritäten der Gesellschaft die Verlängerungen der Vaterfiguren seien; übersehen aber habe er, dass die Autorität der Väter ihrerseits nie absolut sei, sondern sich ihrerseits "an die in der Gesellschaft herrschende Autorität anschließe". Aufgabe des Gewissens (der verinnerlichten Autorität) sei es, die Triebe zu unterdrücken. Je weniger Bedürfnisse in einer Gesellschaft oder Klasse befriedigt werden, umso größer sei auch die Notwendigkeit, Triebe zu unterdrücken. Je schlechter es einer Gesellschaft oder Klasse gehe, desto starrer und härter werde in ihr das Über-Ich. "Je mehr ... die Widersprüche innerhalb der Gesellschaft anwachsen und je unlösbarer sie werden, je mehr Katastrophen wie Krieg und Arbeitslosigkeit als unabwendbare Schicksalsmächte das Leben des Individuums überschatten, desto stärker und allgemeiner wird die sadomasochistische Triebstruktur und damit die autoritäre Charakterstruktur, desto mehr wird die Hingabe an das Schicksal zur obersten Tugend und Lust."

Es war eine etwas bizarre, auf keine konkreten Beobachtungen gestützte Theorie: Je schlechter die Zeiten, desto autoritärer die Menschen; je mehr sie zu leiden haben, desto lustvoller werden sie leiden. Was sie eigentlich erklären wollte, nämlich warum die einen "autoritärer" sind als die anderen, hatte diese Theorie ganz aus dem Blick verloren.

An dieser Schwäche der Fromm'schen Theorie mag es gelegen haben, dass Adorno und seine Mitarbeiter später in Kalifornien die Frage nach den Zusammenhängen zwischen autoritärer Persönlichkeit und Familienhintergrund ganz neu aufrollten und damit die eigentliche Autoritarismus-Forschung in Gang setzten.[17]

Den Adorno-Kreis interessierte vor allem der Antisemit, allgemeiner die faschistische und autoritäre Persönlichkeit. Worin besteht sie, wie entsteht sie, wie ließe sie sich verhindern?

Es war etwas gewagt Neues, nicht nach den politischen, den ideologischen, den ökonomischen Wurzeln des Faschismus zu suchen, sondern nach den innerpsychischen. Wie kam Adorno dazu? Erstens, fand er, seien alle Menschen irgendwann faschistischer Ideologie ausgesetzt, aber nur manche zeigen sich dafür empfänglich. Zweitens "wird immer deutlicher, dass die Menschen sich sehr oft nicht im Sinne ihrer materiellen Interessen verhalten", ihnen sogar zuwiderhandeln. Das marxistische Axiom, das (materielle) Sein bestimme das Bewusstsein, hat Adorno also verworfen.

Die grundlegende und höchst produktive Einsicht des Adorno-Kreises war die: Faschistische Einstellungen treten meist nicht einzeln auf. Sie bilden ein typisches Denkmuster, eine Einheit. Was sie zusammenhält, ist der Charakter – nämlich "die mehr oder weniger beständige Organisation von Kräften im Individuum, die in den verschiedenen Situationen dessen Reaktionen und damit weitgehend (sein) Verhalten ... bestimmen". Es gibt ein autoritäres, nämlich potenziell faschistisches Reaktionspotenzial. Wer es besitzt, ist für faschistische Propaganda eher empfänglich als der nicht-autoritäre Charakter.[18]

Die Liste der Eigenschaften, die den autoritären Charakter ausmachen und die in jahrelangen Befragungen ermittelt wurden, ist lang. Der autoritäre Mensch ist ein besonders konventioneller Mensch, starr gebunden an hergebrachte Werte. Er hat einen Hang, die Welt anhand vorgefertigter Stereotypen zu beurteilen, er denkt in rigiden Kategorien von Gut und Böse, Richtig und Falsch – alles Ambivalente ist ihm verdächtig, wie auch alles Subjektive, Phantasievolle, Sensible. Er unterwirft sich willig und unkritisch den Autoritäten der eigenen Gruppe. Er sucht sich Andersartige, die er verurteilen, verteufeln und bestrafen kann. Er ist ein Verschwörungstheoretiker: glaubt, dass hinter den offenbaren Fakten wüste und gefährliche geheimnisvolle Vorgänge in der Welt wabern. Er beschäftigt sich im Übermaß mit Sexuellem.

Um zu messen, wie autoritär der Einzelne ist, entwickelte der Adorno-Kreis eine Skala, die F-Skala (F steht für Faschismus), und stellte fest, dass die F-Werte deutlich mit IQ, Bildungsgrad und sozioökonomischem Status korrelieren – autoritäre Charaktere sind in den Unterschichten, bei den Bildungsfernen und bei den unterdurchschnittlich Intelligenten stärker vertreten.

Die Autoritarismus-Forschung des Adorno-Kreises hat die Sozialpsychologie jahrelang in Atem gehalten. Sie wurde heftigst kritisiert, konnte sich aber in ihren Grundzügen ganz gut behaupten. Seltsamerweise wurde das Gemeinschaftswerk von 1936 nie wieder aufgelegt und ist heute eine Rarität. Das epochale Sammelwerk von 1950, The Authoritarian Personality, blieb bis auf Adornos eigene Beiträge unübersetzt, und auch die erschienen erst 1973. Trotzdem wirkt diese Forschung bis heute fort. Sie wirkt fort in Form eines vagen Verdachts, dass Autorität eine Affinität zum Faschismus habe und dass die Weichen für den faschistischen Charakter in der Familie gestellt werden.

Sie wirkt auch wissenschaftlich fort. Die erste SINUS-Studie über den Rechtsextremismus in der Bundesrepublik (1981) ist ohne sie gar nicht denkbar.[19] SINUS hatte zunächst einzelne Ansichten erklärter Rechtsextremisten gesammelt, gebündelt und dann einer relativ großen Stichprobe der gesamten Bevölkerung vorgelegt, etwa 7000 Personen. Es waren insgesamt 23 Sätze wie: "Wir sollten wieder einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert" oder: "Gäbe es bei uns wieder Arbeitslager, kämen Zucht und Ordnung von alleine". Wer mindestens sieben solcher vehement rechtsextremen Statements bejahte, wurde als potenzieller Rechtsextremist eingestuft; tatsächlich bejahten die meisten Befragten, die sich überhaupt mit irgendwelchen Statements der Liste anfreunden konnten, gleich 16. Dreizehn Prozent der Bundesdeutschen, so lautete das Ergebnis, haben ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild. Der heutige Rechtsextreme ist Adornos autoritärer Persönlichkeit sehr nahe. Vor allem anderen kennzeichnen ihn Hass und Abneigung gegen alles Andersartige und Fremde; außerdem fühlt er sich bedroht, schätzt Zucht und Disziplin; demokratischer Pluralismus ist ihm anrüchig.

Welches nun sind die Bedingungen, die den autoritären Charakter entstehen lassen oder seine Entstehung zumindest begünstigen? Mit dieser Frage betritt man unsichereres Terrain. Unter Adornos Mitarbeitern ist ihr vor allem Else Frenkel-Brunswik nachgegangen.[20]

Ehe man sich die wichtigsten Ergebnisse vergegenwärtigt und sie vielleicht als wenig imposant abtut, muss man eines bedenken: Intuitiv wissen wir gar nichts über die Genese des autoritären Charakters. Es könnte, um die beiden Extreme zu nehmen, die besonders autoritäre Familie besonders autoritäre Kinder hervorbringen; es könnte aber auch, ganz im Gegenteil, die besonders autoritäre Familie in ihren Kindern eine besondere Abneigung gegen autoritäres Gehabe erzeugen. Jeder kennt Beispiele für beides. Beides ist möglich. Beide Vermutungen sind tatsächlich im Schwange.

Frenkel-Brunswik kam durch eingehende Beschäftigung mit den Lebensgeschichten ihrer Testpersonen zu folgendem Ergebnis: Die besonders "Autoritären" hatten eine relativ harte und bedrohliche, vom Kind als willkürlich erlebte Familiendisziplin erfahren. Ihre Eltern hatten auf der exakten Erfüllung vorgegebener Rollen und Pflichten bestanden. Ein Austausch "frei strömender Zuneigung" hatte kaum stattgefunden. Den Kindern waren starre Regeln und Sitten vermittelt worden; individuell hatten sich ihre Eltern kaum auf sie eingelassen. Entstanden war aus dieser Erziehung eine Neigung zu konventionellen, äußerlichen und flachen Gefühlsbeziehungen. Die Haltung zu den Eltern war teilweise feindselig; aber oft wurde diese Feindseligkeit hinter einer überschwänglichen Idealisierung der Eltern versteckt. Im späteren Leben, so Frenkel-Brunswik, setze sich das Syndrom fort: als "Überkonformität und untergründige Aggressivität gegen etablierte Autoritäten, Sitten und Institutionen". Der deutlichste Zug ist wohl diese schwelende, untergründige Abneigung die sich gegen Fremde richtet und diese zu Feinden erklärt: Juden, Immigranten, Schwarze, Zigeuner, Homosexuelle, Langhaarige, Bayern, Preußen ...

Aus der ethologisch orientierten Theorie des Bindungsverhaltens, wie sie von dem britischen Psychiater John Bowlby[21] vertreten wurde, wissen wir: Wenn das Kind, vor allem das sechs Monate bis drei Jahre alte Kleinkind keine engen, stabilen, verlässlichen Gefühlsbeziehungen zu festen Bezugspersonen aufbauen kann, entsteht in ihm eine das ganze Leben überfärbende tiefe Feindseligkeit.

Die Lernpsychologie sieht es nicht viel anders. Obwohl aus einem ganz anderen Paradigma kommend, stieß Albert Bandura in einer Studie jugendlicher Gewalttäter auf folgende Wurzeln der Gewalt[22]: "einen Mangel an gefühlsmäßiger Fürsorge und eine strafende Haltung", eine "Störung der Abhängigkeitsbeziehung des Kindes zu seinen Eltern". Sein eigener lernpsychologischer Ansatz brachte ihn dazu, von einer ungünstigen "elterlichen Erziehungstechnik" zu sprechen. Mit "Technik" im populären Sinn, als einem Werkzeugkasten von Rezepten und Kniffen, hatte das wenig zu tun: Gefühlskälte ist keine Erziehungstechnik. Die "Technik" ist wahrscheinlich sogar gleichgültig, solange das Kind nur in einer bedingungslosen Beziehung sicher aufgehoben ist.

Was die Zürcher Psychoanalytikerin Alice Miller in ihrem Buch Am Anfang war Erziehung (1980) so beredt beschrieb,[23] die Familie als eine "Brutstätte des Hasses", den "Mord am Kind", den eine Erziehung begeht, die alles "Lebendige, Kreative, Emotionale" in ihm unterdrückt, das, was Katharina Rutschky die "schwarze Pädagogik" nannte[24] und was vom listenreichen Fallenstellen bis zur Misshandlung und regelrechten Folter reiche – viele Psychologen wissen es schon lange: Gewalt zeugt Gewalt. Gewalttätige Eltern bringen gewalttätige Kinder hervor. Eine Untersuchung von Silver, Dublin und Lourie konnte die Linie der Gewalttätigkeit über Generationen zurückverfolgen.[25] Miller gibt dem Befund eine psychoanalytische Deutung: Die "schwarze Erziehung" versuche, die lebendigen Gefühle des Kindes zu töten, besonders die negativen Gefühle (Angst, Wut, Neid); sie werden "abgespalten". Haben solche Menschen dann selber Kinder, so suchen sie das "Aufleben des einst in sich Umgebrachten und Verachteten im eigenen Kind zu verhindern"; was sie in sich selber "abspalten" mussten, "projizieren" sie auf ein verfügbares äußeres "Objekt". Keines ist so wehrlos und verfügbar wie das eigene Kind: "Der innere Feind kann endlich draußen verfolgt werden" – zu Hause. Eine Theorie, deren Appeal wohl vor allem darin bestand, dass sie aller Intuition zuwiderlief: das Kind als Feind, in dem die Eltern die negativen Gefühle verfolgen, die sie selber gern gehabt hätten, die sie aber unterdrücken mussten.

Eine interessantere Theorie entwickelte Max Horkheimer.[26]  Er versuchte, die Befunde der empirischen Sozialforschung in den weiteren Zusammenhang der Epoche zu stellen. Es sei, schrieb er, die Krise der Familie, "die jene Haltungen hervorbringt, welche die Menschen zu blinder Unterwerfung disponieren". Die Krise betreffe Mütter wie Väter, aber beide auf verschiedene Weise. Die moderne Mutter betrachte ihre Mutterschaft als einen Beruf. Ihr Ideal sei es, gelernte Erziehungstechniken möglichst professionell anzuwenden. In der Folge schwinden "ihre natürliche, grenzenlose Fürsorge und Wärme". Der Vater anderseits trete höchstens noch in der Familie als Autorität auf – draußen im Leben sei er es in der Regel nicht mehr. Das Kind muss die Entdeckung machen, dass er "keineswegs die mächtige Figur, der unparteiische Richter, der großmütige Beschützer" sei, den es zuerst in ihm sah und den es erwartet. Die "gesellschaftlich konditionierte Schwäche des Vaters" verhindere, dass sich das Kind mit ihm identifiziert. Die Kinder bemerkten "die Diskrepanz zwischen dem wirklichen, vom modernen Industrialismus bestimmten Wesen der Eltern und der Rolle, die sie in der Familie spielen". Diese Diskrepanz sei verantwortlich für "die Verkrümmung ihres Gefühlslebens, die Verhärtung ihres Charakters, ihre frühreife Verwandlung in Erwachsene".

Die Theorie entstammt ebenfalls der Frankfurter Schule, ist aber meilenweit entfernt von Fromms Spekulationen, dass die vermehrten Triebunterdrückungen in Zeiten der Krise die Entstehung autoritärer, sadomasochistischer Charaktere begünstigten. Ebenso weit entfernt aber ist sie auch von den Hoffnungen der späteren antiautoritären Bewegung, die Beseitigung der elterlichen Autoritäten müsse die nichtautoritäre, demokratische Persönlichkeit hervorbringen. Offensichtlich machte Horkheimer nicht ein Zuviel an väterlicher Autorität für die Verhärtung des Menschen verantwortlich, sondern ein Zuwenig, oder genauer: dass die väterliche Autorität nur noch eine vorgespielte, unechte ist, dass das Kind nur noch Autoritätsattrappen vorfindet, sie durchschaut und ablehnt. Horkheimer knüpft eher an den theoretisch eigenständigen Pychoanalytiker Paul Federn an, der 1919 das geflügelte Wort von der "vaterlosen Gesellschaft" geprägt hatte. Die Krise der Familie, bedingt durch die gesellschaftlichen Umstände des Industrialismus, war in diesem Fall für Horkheimer vor allem der Autoritätsverfall des Familienvaters.

Auf den ersten Blick ergibt dies einen Widerspruch. Einerseits soll die starre, gewalttätige Erziehung tatsächlich die Ausbildung des autoritären Charakters begünstigen. Andererseits scheint die väterliche Autorität, und auch die Autorität der Gesellschaft, immer mehr zu verblassen, sodass eigentlich zu erwarten wäre, dass mit ihr auch die autoritäre Persönlichkeit ausstirbt. Der Widerspruch besteht aber nur so lange, wie man sich von der Magie des Begriffs 'Autorität' verführen lässt. Er postuliert ja nolens volens, dass er einen einheitlichen Inhalt abdeckt, dass Autorität gleich Autorität sei. Es ist das Schicksal mancher dieser großflächigen Generalbegriffe, dass sie Unterschiede wegeskamotieren, Verschiedenes vermischen und verschmelzen. Wenn für die einen Autorität etwas Zerstörerisches ist, für die anderen etwas durchaus Konstruktives, so scheinen sie von zwei ganz verschiedenen Formen der Autorität zu sprechen. Und sobald man einräumt, dass es eben zwei ganz verschiedene Formen elterlicher Autorität geben könnte, fällt der Widerspruch schon in sich zusammen.

Die destruktive, negative Autorität ist die, die dem Kind in der Tradition der schwarzen Pädagogik entgegentritt. Sie regiert mit eisernen Verboten und Strafen, diszipliniert es willkürlich, macht es klein und lächerlich, will es brechen. Die andere ist die konstruktive, positive Autorität. Auch sie ist unverkennbar Autorität und gibt nicht etwa jeder Laune des Kindes nach. Sie stellt ihre Forderungen aber vor dem Hintergrund einer nicht nur vorgegebenen, nicht nur behaupteten, sondern immer fühlbaren, stetigen Liebe, die das Kind so, wie es ist, und mit allem, was es tut, akzeptiert.

Die negative Autorität macht das Kind zum feindseligen Beziehungskrüppel, zur leichten Beute autoritärer Ideologien. Wem daran liegt, dass die Kinder zu selbständigen, demokratiefähigen Menschen aufwachsen, für den ist sie zu Recht das große Negativbild. Aber das bloße Fehlen der negativen Autorität, oder jeder Autorität, genügt noch nicht. Damit aus dem Kind ein selbständiger, beziehungsfähiger, verantwortlicher Mensch wird, muss es frühestmöglich bei seinen Bezugspersonen positive Autorität erfahren.

Dass die Menschen in der industriell-bürokratischen Großgesellschaft sich selber so oft als nichtig erleben, dass sie auf ihre entfremdete Arbeit keinen Stolz entwickeln können, dass sie auch sonst wenig Bestätigung für irgendein Tun und Lassen erhalten, dass sie menschliche Anerkennung suchen und nicht finden und mit der Anhäufung der bloßen Symbole der Anerkennung, Geld und Besitz, kompensieren, dass sie sich nirgends zugehörig fühlen und mit ihrer Gesellschaft und deren Autoritäten so oft nicht einverstanden sind und es vermeiden, sich mit ihr zu identifizieren – all dies beschädigt ihr Selbstbewusstsein und macht sie später auch ihren eigenen Kindern gegenüber unsicher. Und Menschen mit einem beschädigten Selbstbewusstsein werden ihren Kindern gegenüber eher eine zerstörerische oder unsichere Autorität zeigen, die sich selber keinen Glauben schenkt.

Sind dies bloße Spekulationen? 1967 hat die amerikanische Psychologin Diana Baumrind eine kleine, aber sprechende Probe aufs Exempel gemacht. Sie untersuchte 32 drei- bis vierjährige kalifornische Kindergartenkinder und ihren Familienhintergrund.[27]

Eine Gruppe bildete sie aus den selbstbeherrschten, selbstbewussten, neugierigen, geselligen, realistischen, zufriedenen und durchsetzungsstarken Kindern – es waren die, die dem Ideal des "autonomen" Menschen am nächsten kamen. Ihre Eltern, so stellte sich heraus, waren "beständig, liebevoll, gewissenhaft und sicher in ihrem Umgang mit den Kindern. Sie achteten die Entscheidungen ihres Kindes,... begründeten ihre Anforderungen", zeigten jedoch "feste Kontrolle und stellten hohe Ansprüche an ihre Kinder".

Eine andere Gruppe dieser Kinder war unzufrieden, unsicher, furchtsam, weniger offen für Gleichaltrige, in Stress-Situationen eher feindselig. Ihre Eltern, so stellte sich heraus, waren weniger liebevoll, führten ein strenges Regime, begründeten ihre Forderungen nicht, ermutigten das Kind nicht zum Widerspruch.

Die dritte Gruppe schließlich umfasste jene Kinder, welche die schwächste Selbstbeherrschung und das geringste Selbstvertrauen zeigten. Ihre Eltern waren – was Wunder – unsicher und desorganisiert, stellten keine Ansprüche an die Kinder, setzten nichts bei ihnen durch.

"Die Eltern der kompetentesten und reifsten Kinder", so resümierte Baumrind, "waren deutlich streng, liebe-, anspruchs- und verständnisvoll. Ihre Spontaneität, Wärme und Lebensfreude war von der starken elterlichen Kontrolle nicht ungünstig beeinflusst worden. Die Eltern der gereizten und ungeselligen Kinder dagegen waren streng, strafend und lieblos. Die Mütter der abhängigen, unreifen Kinder hatten nichts im Griff und waren nur mäßig liebevoll; ihre Väter waren ambivalent und lax. " Der autonome Mensch ist also am ehesten von einer Erziehung zu erwarten, die man "autoritativ" genannt hat, gleichzeitig liebevoll und streng. Das ist, was auch Konrad Lorenz meinte: "Respekt und Liebe schließen sich nicht aus."[28]

Es waren jedoch nicht Adorno, Horkheimer, Frenkel-Brunswik, Bowlby, Bandura, Baumrind, auf die sich die antiautoritären Pädagogen der ausgehenden sechziger Jahre stützten. Sie griffen weiter zurück. Der größte Einfluss auf ihre Erziehungsexperimente kam von dem abtrünnigen Psychoanalytiker Wilhelm Reich.[29] Seine Schärfe und Radikalität entsprach dem Geist der Stunde am meisten.

Als Brutstätte allen Übels sah Reich die Familie, die "bürgerliche Kleinfamilie" – er nannte sie auch "Zwangsfamilie". Das Kind, meinte er, habe vor allem sexuelle Bedürfnisse. Sie richteten sich im dritten Lebensjahr auf das gegengeschlechtliche Elternteil. Die Eltern mussten, "um das eheliche und familiäre Dasein ertragen zu können", selber ihre Sexualität einschränken und unterdrückten nun auch die Sexualität des Kindes. Das erzeuge in diesem einen "maßlosen Hass", und der wiederum erzeuge Schuldgefühle. Die riesigen Elternautoritäten erdrückten das Kind; dessen Selbstvertrauen, Willensstärke, Kritikfähigkeit schwinde. So erzeuge die Zwangsfamilie den Sexualkrüppel und den "autoritätsfürchtigen lebensängstlichen Untertanen". Der konservative Staat benötige die Familie, weil sie ihm die Menschen erzeuge, die er braucht. Die autoritäre Persönlichkeit sei letztlich also ein Produkt frühzeitiger Sexualunterdrückung.

Es war nur logisch, wie Reich diesen Kreis aufzubrechen hoffte. Man müsste, meinte er, die Kinder den Eltern im dritten Lebensjahr wegnehmen und sie in der Gesellschaft Gleichaltriger aufwachsen lassen, in der sich ihre Sexualität frei entfalten könnte. So würden Menschen aufwachsen, die frei wären von der Autoritätsneurose.

Das meiste davon ist schlicht falsch. Falsch ist es, den Menschen ausschließlich aus dem Schickal seiner Sexualtriebe zu erklären. Seine Bindung an die Eltern gehorcht viel breiteren Bedürfnissen. Falsch ist, dass jedwede elterliche Autorität an sich schon das Kind verdirbt. Verdorben wird es von der lieblosen, kalten Autorität, die es zerbrechen will; positive Autorität aber, wie sie ihm die Gesellschaft Gleichaltriger ganz und gar nicht bieten kann, muss es erfahren, damit es selbständig wird. Nur in einem Punkt könnte Reich, unabsichtlich fast, Recht gehabt haben: Vom dritten Lebensjahr an wird der Umgang mit Gleichaltrigen für das Kind tatsächlich immer wichtiger, und in dem Maße, wie die bürgerliche Kleinfamilie dem Kind diesen Umgang vorenthält, ist sie wohl tatsächlich psychisch ungesund.

So würde nun auch verständlich, was Rothchild und Wolf auf ihrer Reise durch die Subkultur beobachtet hatten. Nicht die autoritätsfreien Lebensverhältnisse hatten die autonomen Kinder hervorgebracht. Die autonomen Kinder waren jene, die wenig destruktive und dafür umso mehr konstruktive Autorität erfahren hatten, die sich in Gruppen von Gleichaltrigen bewegen konnten und die früh als verantwortliche Mitglieder ihrer Gemeinschaften anerkannt wurden.

Der Dschungel zahmer und wilder Vermutungen hat sich also doch ein wenig gelichtet. Er lichtet sich weiter, wenn man einige Einsichten der Soziologie hinzuholt.

Im Jahre 1954 beschrieb der amerikanische Soziologe Robert Bierstedt in einem Essay, was aus der Sicht seiner Wissenschaft unser Unbehagen an der Autorität bewirkt.[30] "Es ist ja nicht so, dass Herr Müller Herrn Meier eine Weisung erteilte. Es ist der Bankdirektor Müller, der dem Kassierer Meier eine Weisung erteilt, unabhängig von den Einzelmenschen, die diesen Status innehaben ... Willig respektieren wir die Kompetenz von anderen; doch wenn sie als Autorität auftritt, verlangt sie unsere Unterwerfung" – und in den Hierarchien der großen Organisationen sind nicht Menschen einander vor- und nachgeordnet, sondern auswechselbare Statusträger. Das ist, was uns missfällt.

Der renommierte amerikanische Soziologe Richard Sennett hat 1980 zu erklären versucht, warum die Autorität im politischen und wirtschaftlichen Bereich heute so missvergnügte und aufsässige Untertanen und Untergebene hervorbringt.[31] Der Grund: Zwei völlig unannehmbare Formen von Autorität beherrschen das Feld. "Die eine ist die Autorität ohne Liebe ... Sie ist anderen gegenüber gleichgültig und beruht auf einem selbstgenügsamen Expertentum, welches die Rebellion von unten absorbiert und dabei in den Rebellierenden höchst wirksame Schamgefühle erzeugt. Die andere Form war einst typisch für einzelne Kapitalisten, tritt aber heute in sozialistischen und kapitalistischen Bürokratien gleichermaßen auf. Sie ist die Autorität der falschen Liebe, die Autorität des Paternalismus. Sie gibt sich als wohltätig aus, aber ihre Wohltätigkeit geht nur so weit, wie sie den Interessen des Herrschers dient, und als Preis für die Fürsorge erfordert sie passive Ergebung ... Die Verheißung paternalistischer Stärke ist trügerisch und demütigend: Unterwirf dich, dann sorge ich für dich; wie ich das mache, ist meine Sache." Der Autorität ohne Liebe hingegen "fehlt jede Fürsorglichkeit: Du brauchst mich; ich brauche dich nicht; unterwirf dich".

Eine Gesellschaft ganz ohne Autorität hält Sennett weder für möglich noch auch nur für wünschenswert. Der Traum der spanischen Anarchisten von einem völlig der Spontaneität des Einzelnen überlassenen Leben sei ein Irrtum gewesen, schreibt er. "Nähme man ihn ernstlich als Plan für eine zu schaffende Gesellschaft, ist die Idee in der Tat furchterregend ... Niemand wäre je einem anderen verpflichtet. An die Stelle sozialer Herrschaft wäre ein allmächtiges Selbst gesetzt, das nur auf seine eigenen Wünsche hört."

Sicher war es kein Zufall, dass gerade ein Japaner den Traum von einer Gesellschaft ohne Autorität, bestehend aus lauter spontanen, autonomen Individuen, als eine westliche Wahnidee betrachtete. In zahlreichen Arbeiten zur "Anatomie der Abhängigkeit" erklärt der Psychiater Takeo Doi, dass der Mensch ein naturhaftes Bedürfnis nicht nur nach der Ausübung, sondern auch nach der Erfahrung von Autorität habe, nicht nur nach Liebe, sondern auch nach dem Geliebtwerden.[32]

 

DIESER STREIFZUG durch einen epochalen Konflikt und die Wissenschaften, die sich für ihn zuständig fühlten, oft aber wenig voneinander wussten, hat einiges an Gemeinsamkeiten zum Vorschein gebracht. Das Unbehagen an der Autorität hat Gründe. Aber es ist die Mühe nicht wert, von der völligen Abschaffung von Autorität zu träumen. Vielmehr lohnt es sich, auf die Verlockungen des Begriffs nicht hereinzufallen und zu versuchen, einen Blick für die vielen Formen zu bewahren, unter denen Autorität in Erscheinung tritt. Es sind verheerende dabei und zuträgliche, überflüssige und unerlässliche, vermeidbare und notwendige.

Ich selber vermute, dass wenig Menschen Schwierigkeiten mit der Autorität an sich haben. Kinder werden liebevolle Eltern nicht weniger lieben, weil sie fest und anspruchsvoll sind, und sie werden darum auch nicht zu katzbuckelnden Untertanen heranwachsen. Die Menschen werden auch nicht unerträglich darunter leiden, dass sie mit anderen zusammenkommen, die ihnen in der einen oder anderen Hinsicht überlegen sind – weil intelligenter, sportlicher, sachverständiger, musikalischer, geselliger, entschlusskräftiger. Im Gegenteil werden sie deren Autorität sogar gerne akzeptieren, ihre Unterstützung in Anspruch nehmen und das nicht unangenehme Gefühl der Bewunderung für sie entwickeln.

Die Schwierigkeit, welche die Autorität dem zeitgenössischen Denken und Fühlen bereitet, richtet sich nicht gegen Autorität an sich. Sie richtet sich bloß gegen die funktionale anstelle der persönlichen Autorität, die einen Anspruch auf Fügsamkeit erhebt, ohne einsehbare Qualifikationen vorzuweisen, nicht einen Anspruch von Mensch zu Mensch, sondern von Funktionsträger zu Funktionsträger. Es ist die destruktive Autorität, die schon das Kind zerbrechen will. Es ist die falsche Autorität, die nur zum Schein fürsorglich tut, aber nichts anderes verfolgt als ihre eigenen Interessen. Es ist die gekünstelte Autorität, die ihre eigene Unsicherheit durch Kraftprotzerei verdeckt. Nichts wird die Menschen je dazu bringen, sich mit ihnen abzufinden.

Ein Bild der Autorität gibt es, das mich selber rührt. Vielleicht ist es nur ein romantisierendes Gerücht. Im brasilianischen Urwald wohnt der Stamm der Nambikwara. Bei den Nambikwara, schrieb der französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss[33], ist politische Macht nicht erblich. Ein alter oder kranker Häuptling wählt selber seinen Nachfolger. Er tut es jedoch in Übereinstimmung mit den Wünschen der ganzen Gruppe. Nur wer deren Vertrauen besitzt, kann tatsächlich Häuptling werden. Machtinstrumente stehen ihm nicht zu Gebot. Was ihm Gefolgschaft sichert, ist allein seine Autorität. Sie besteht vor allem in seiner Großzügigkeit: Er muss mehr haben als seine Leute, aber nur, um ihnen reichlich davon abzugeben. Er muss, als "intellektuelle Form der Großzügigkeit", über Kenntnisse und Einfallsreichtum verfügen: Er bereitet das Gift für die Pfeile zu, er erkundet rastlos das Gelände, kennt das Territorium besser als alle anderen und kann sie darum auf ihren Wanderungen und Jagdzügen und beim Früchtesammeln führen. Er weiß, wo freundliche und wo feindliche Nachbarn leben, er wacht über die Interessen und die Sicherheit seiner Gruppe. Er ist tätiger als alle anderen.

Häuptling zu sein, bedeutet vor allem Mühe und Last (dafür werden ihm als einzigen mehrere Frauen zugestanden). Es käme des öfteren vor, schreibt Lévi-Strauss, dass die Bürde der Macht entsetzt zurückgewiesen werde.

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Bibliographische Endnoten

 

[1] Dermitzel, Regine: Thesen zur antiautoritären Erziehung. In: Kursbuch, 17, 1969, S. 179-187

[2] Rothchild, John / Susan Berns Wolf: The Children of the Counterculture. New York: Doubleday, 1976

[3] Asch, Solomon E.: Effects of Group Pressure upon the Modification and Distortion of Judgements. In: Harold Guetzkow (Hrsg.): Groups, Leadership, and Men. Pittsburg, PA: Carnegie Press, 1951

Asch, Solomon E.: Social Psychology. Englewood Cliffs, NJ: Prentice-Hall, 1952

[4] Milgram, Stanley: Obedience to Authority. New York: Harper & Row, 1974. Deutsch: Das Milgram-Experiment. Reinbek: Rowohlt, 1974

[5] Mantell, David Mark: The Potential for Violence in Germany. In: Journal of Social Issues, 27/4, 1971, S. 101-112. Deutsch: Das Potential zur Gewalt in Deutschland. In: Der Nervenarzt, 42/5, 1971, S. 252-257

[6] Zimbardo, Philip G.: Essentials of Psychology and Life. Glenview, IL: Scott, Foresman and Co., 1980

[7] Koestler, Arthur: The Ghost in the Machine. London: Hutchinson, 1967. Deutsch: Das Gespenst in der Maschine. Wien: Molden, 1969

[8] Loehlin, John C. / Robert C. Nichols: Heredity. Environment, and Personality – A Study of 850 Sets of Twins. Austin, TX: University of Texas Press, 1976

[9] Schjelderup-Ebbe, Thorleif: Beiträge zur Sozialpsychologie des Haushuhns. In: Zeitschrift für Psychologie, Abt. 1, 88, 1922, S. 225-252

[10] Chance, Michael R. A. / Ray R. Larsen: The Social Structure of Attention. New York: Wiley, 1976

[11] Barkow, Jerome H.: Attention structure and the evolution of human psychological characteristics. In: Michael R. A. Chance / Ray R. Larsen (Hrsg.): The Social Structure of Attention. London: Wiley, 1976, S. 203-219

[12] Savin Williams, Richard C.: Dominance-submission behavior and hierarchies in young adolescents at a summer camp. Ph. D. dissertation, University of Chicago, 1977. Zitiert in: Daniel G. Freedman: Human Sociobiology. New York: Free Press, 1979

[13] Friedemann, Adolf: Gruppentherapeutische Erfahrungen in der Klinik. In: E. Frankl / V. E. v. Gebsattel / J. H. Schultz (Hrsg.): Handbuch der Neurosenlehre und Psychotherapie, Band IV. München: Urban & Schwarzenberg, 1958, S. 344-366

[14] Mulder, Mauk / Ad Stemerding: Threat, Attraction to Group, and Need for Strong Leadership. In: Human Relations, 16, 4, 1963, S. 317-334

[15] Laborit, Henri: L'Inhibition de l'Action – Biologie, Physiologie, Psychologie, Sociologie. Paris: Masson, 1980

[16] Fromm, Erich: Studien über Autorität und Familie – Sozialpsychologischer Teil. In: Max Horkheimer (Hrsg.): Schriften des Instituts für Sozialforschung, Band 5. Paris: Alcan, 1936. Enthalten in: Erich Fomm: Analytische Sozialpsychologie. Gesamtausgabe, Band 1. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1980

[17] Adorno, Theodor W. The Authoritarian Personality. New York: Harper & Bros., 1950

[18] Adorno, Theodor W. / Else Frenkel-Brunswik / Daniel J. Levinson / R. Nevitt Sanford: Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt: Suhrkamp, 1973

[19] 5 Millionen Deutsche: Wir sollten wieder einen Führer haben: die SINUS-Studie über rechtsextremistische Einstellungen bei den Deutschen. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1981

[20] Frenkel-Brunswik, Else: Parents and Childhood as Seen Through the Interviews. In: Adorno, Theodor W. The Authoritarian Personality. New York: Harper & Bros., 1950, S. 337-389. – Frenkel-Brunswik, Else: Further explorations by a contributor to 'The Authoritarian Personality'. In: Richard Christie / Marie Jahoda (Hrsg.): Studies in the scope and method of 'The Authoritarian Personality'. New York: Free Press, 1954, S. 226-275

[21] Bowlby, John: Maternal Care and Mental Health. WHO Monograph Series No. 2, Genf: World Health Organization, 1951. Deutsch: Mütterliche Zuwendung und geistige Gesundheit. München: Kindler, 1973. – Attachment. Separation: Anxiety and Anger. Loss. London: Hogarth Press, 1969, 1973, 1980. Deutsch: Bindung. Trennung. Verlust. München: Kindler, 1975, 1976, 1982

[22] Bandura, Albert / Richard H. Walters: Adolescent Aggression – A Study of the Influence of Child-Training Practices and Family Interrelationships. New York: Ronald Press, 1959

[23] Miller, Alice: Am Anfang war Erziehung. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1980

[24] Rutschky, Katharina (Hrsg.): Schwarze Pädagogik — Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung. Berlin: Ullstein, 1977

[25] Silver, Larry B. / Christina C. Dublin / Reginald S. Lourie: Does Violence Breed Violence? Contributions from a Study of the Child Abuse Syndrome. In: American Journal of Psychiatry, 126, 3. Sep 1969, S.152-155

[26] Horkheimer, Max: Authoritarianism and the Family Today. In: Ruth Nanda Anshen (Hrsg.): The Family – Its Function and Destiny. New York: Harper & Bros., 1949, S. 359-374

[27]Baumrind, Diana: Child Care Practices Anteceding Three Patterns of Preschool Behavior. In: Genetic Psychology Monographs, 75, 1967, S. 43-88

[28] Lorenz, Konrad: Die Rückseite des Spiegels. München, Piper, 1973

[29] Reich, Wilhelm: Die sexuelle Revolution (1936/1945). Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt, 1966

[30] Bierstedt, Robert: The Problem of Authority. In: Morroe Berger (Hrsg.): Freedom and Control in Modern Society. New York: Van Nostrand, 1954, S. 67-81

[31] Sennett, Richard: Authority. New York: Alfred Knopf, 1980

[32] Doi, Takeo: The Anatomy of Dependence. Tokyo: Kodansha International, 1973. Deutsch: Frankfurt: Suhrkamp, 1982

[33] Lévi-Strauss, Claude: Tristes Tropiques. Paris: Plon, 1955. Deutsch: Traurige Tropen. Frankfurt, Suhrkamp, 1978

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