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DIE ZEIT/ZEITmagazin, Nr.10, 24.Februar 1981, S.14, 16, 18, 22

© 1981 by DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer

 

 

Foto: Jürgen Schadeberg für ZEITmagazin

 

 

Absage an Freud

John Bowlbys Fährtensuche in der menschlichen Seele

Von Dieter E. Zimmer

 

Vier Jahrzehnte blieb der Londoner Psychiater einem Thema auf der Spur: wie lebensnotwendig für Kinder feste „Bezugspersonen“ sind. Als er verstehen wollte, warum das so ist, fand er die Antworten der Psychoanalyse immer unbefriedigender. Er mußte eine neue Theorie entwickeln. Sie wurde zu einer ernsten Herausforderung an Freuds Lehre.

 

SCHON DIES ist bemerkenswert genug: daß in einer Zeit, da wissenschaftliche Arbeiten meist die Form von vielautorigen Kurzbeiträgen zu Sammelbänden annehmen, ein Forscher über vier Jahrzehnte lang einem einzigen großen Thema auf der Spur bleibt und seine Einsichten schließlich in einem monumentalen Werk zusammenfaßt. Auch, daß sein Ansatz in dieser langen Zeit nicht überholt und nicht widerlegt, sondern in einem Maße bestätigt wurde, das niemand ahnen konnte, als er seine Fährte aufnahm.

Der britische Psychiater John Bowlby begann sich vor dem Zweiten Weltkrieg für Mutter-Kind-Beziehungen zu interessieren. Die theoretische Untermauerung seiner Beobachtungen suchte er bei jener Wissenschaft, die sich damals als einzige für dieses Thema interessierte: bei der Psychoanalyse. So wurde er zu einem Fachmann, als der er 1950 von der Weltgesundheitsbehörde den Auftrag bekam, ein Gutachten über die psychische Verfassung elternloser Kinder zu schreiben; es wurde 1951 fertig und kam zu dem Ergebnis, daß die Entbehrung der Mutter zu schweren, lebenslangen seelischen Störungen führt.

Auf der Suche nach den Gründen stieß Bowlby im selben Jahr auf das Werk des österreichischen Verhaltensbiologen Konrad Lorenz, insbesondere auf dessen Experimente mit den Küken nestflüchtender Vögel. Diese sind genetisch so eingerichtet, daß sie sich während einer kurzen, „sensiblen“ Phase bald nach dem Ausschlüpfen an jeden größeren beweglichen Gegenstand anschließen und ihm hinfort folgen müssen: Unter natürlichen Bedingungen wird es der Muttervogel sein, aber ein Stiefel oder ein Verhaltensforscher tut es auch. Dieser Vorgang heißt Prägung. Mit dem Prägungskonzept, sagt Bowlby, habe sich ihm „eine neue Welt“ aufgetan.

Er machte sich mit den Instinktforschungen des anderen Pioniers der Verhaltensbiologie bekannt, des Niederländers Niko Tinbergen. Er drang in jahrelanger Zusammenarbeit mit dem akribischen Cambridger Verhaltensbiologen Robert A. Hinde in die Grundprinzipien der Mutter-Kind-Beziehungen im Tierreich ein. 1969 begann Bowlbys Hauptwerk zu erscheinen: 1980, in seinem 73. Lebensjahr, wurde es fertig. Es besteht aus den drei Bänden Attachment (1969), Separation: Anxiety and Anger (1973) und Loss (1980), 1400 Seiten zusammen. Die ersten beiden Bände liegen im Kindler Verlag auch in deutscher Sprache vor; der dritte soll 1982 folgen.[1]

Während dieser Arbeit löste sich Bowlby, erst zögernd, dann mit Bestimmtheit, aus dem Rahmen der Psychoanalyse, obwohl er jeden endgültigen Bruch bis heute vermieden hat. Sie stelle, fand er, zwar die richtigen Fragen, gebe aber die falschen Antworten. Von Sigmund Freud zwar als eine biologische Wissenschaft konzipiert, beruhe sie auf der Biologie des 19. Jahrhunderts – einer vordarwinistisehen, an Lamarcks unhaltbarer Lehre von der Evolution durch die Vererbung erworbener Merkmale und an obsoleten Vorstellungen von „psychischer Energie“ orientierten Biologie. Von den Entdeckungen der Verhaltensbiologie, die nach Freuds Tod 1939 begannen, hat sie kaum Notiz genommen. Überhaupt steht sie fremd und beziehungslos neben den anderen Wissenschaften von der menschlichen Seele; insbesondere neben der kognitiven Psychologie der letzten Jahrzehnte, die die Seele als einen informationsverarbeitenden Apparat untersucht.

Noch ein anderer Zug störte Bowlby an der Psychoanalyse: daß sie ausschließlich retrospektiv verfährt. Von dem gegenwärtigen Zustand eines einzelnen seelisch Kranken ausgehend, versucht sie, das Leiden bis zu einem kritischen Punkt meist in der frühen Kindheit zurückzuverfolgen, durch dessen „Aufarbeitung“ es gemildert oder beseitigt werden kann. Bowlby aber verlangt von einer modernen Wissenschaft, daß sie Hypothesen über die Ursachen von Krankheiten formuliert, die in vorwärtsgerichteten Experimenten bestätigt oder widerlegt werden können. Nicht also: diese besondere Depression des Patienten Soundso habe vermutlich diese oder jene Gründe in seiner Kindheit - dies, meint Bovvlby, führe unweigerlich zu einer „wilden Hypothesenbildung“ jenseits jeder Überprüfbarkeit. Sondern: Diese oder jene Bedingungen führen vermutlich zu Depressionen – und jetzt muß sich in langfristig angelegten Untersuchungen an ganzen Gruppen von Menschen, die an jenem mutmaßlich kritischen Punkt einsetzen, zeigen, ob die Voraussage stimmt oder nicht und welche Faktoren den Verlauf beeinflussen.

Bowlbys Werk breitet zunächst und vor allem ein immenses Wissen über Mutter-Kind-Beziehungen und die psychischen Störungen aus, die die verschiedenen Infragestellungen dieser Bindung zwischen einem Kind und seinen Hauptbezugspersonen mit sich bringen. (Bowlby nennt sie attachment figures, Bindungsfiguren, und gibt schon damit zu verstehen, daß es sich keineswegs unbedingt um die leibliche Mutter handeln muß.) Im Laufe der Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse errichtet er ein völlig anderes Theoriegebäude.

Zwar beschäftigt er sich von vornherein nur mit einem einzigen Verhaltenssystem, dem Bindungsverhalten der Kinder, und unternimmt es schon darum nicht, die menschliche Charakterprägung in ihrer Gesamtheit zu untersuchen; also schwebt ihm auch niemals vor, die ganze Psychoanalyse, die eben dies tut, zu verdrängen und zu ersetzen. Bei der überragenden Bedeutung jedoch, die die Beziehungen des Kindes zu seinen Bezugspersonen für alle seine späteren mitmenschlichen Beziehungen haben, erfaßt Bowlbys Theorie einen Großteil des psychoanalytischen Geländes. Es handelt sich also nicht um eine weitere sektenhafte Absplitterung von der reinen psychoanalytischen Lehre; es handelt sich auch nicht um eine vorsichtige Umformulierung einiger ihrer Grundkonzepte; und Bowlby lehnt die Psychoanalyse erst recht nicht rundweg ab. Vielmehr stützt sich Bowlby auf Hunderte von psychoanalytischen Fallstudien, die er von ihrem theoretischen Beiwerk befreit; er ist in vielen Teileinsichten und praktischen therapeutischen Konsequenzen mit vielen Analytikern einig; aber er hat nichts im Sinn mit dem gewaltigen spekulativen, metapsychologischen Überbau der Psychoanalyse. Aus deren Begriffssystem übernimmt er sehr wenig, und nur dann, wenn es ihm im Lichte der modernen verhaltensbiologischen und kognitiven Psychologie gerechtfertigt erscheint; und er ordnet alles in ein tatsächlich völlig neues Paradigma ein. Bowlbys Theorie, die er zögernd „Bindungstheorie“ nennt und an die Stelle der „Objektbeziehungstheorie“ der Psychoanalyse setzt, ist gerade, weil sie ihr so weit entgegenkommt, eine um so ernsthaftere Herausforderung an die Psychoanalyse.

 

Was bewegt den Menschen? Welches tiefste Motiv treibt ihn zum Handeln? Freud war der Ansicht, der Mensch sei so beschaffen, daß er Reize (Stimuli) möglichst niedrig halten will. Von Außenreizen könne er sich meist einfach abwenden. Die Stimuli aus seinem Innern machten es ihm schwerer. Sie seien seine „Triebe“ und versetzen ihn in Spannungen, die er durch „Triebabfuhr“ abzubauen versucht.

Im Grunde glaubte Freud nur an einen einzigen solchen Trieb: die „Libido“ genannte „sexuelle Energie“, die nach Lustgewinn aus den erogenen Zonen strebt.

Um sich der störenden inneren Reizung durch den Trieb zu entledigen, brauche der Mensch andere. Sie seien die „Objekte“, die er zu seiner Triebabfuhr verwendet. Liebesbeziehungen zwischen Menschen definiert die Psychoanalyse folgerichtig als „Objektbeziehungen“, Trauerfälle als „Objektverluste“.

Der Sexualtrieb mache bei Kindern gesetzmäßig drei Entwicklungsphasen durch. In der ersten, der „oralen“, verschaffe sich das Kind Lust durch die erogene Zone seines Mundes; in der „analen“ Phase dann sei die erogene Zone des Afters an der Reihe; und schließlich folge die genitale Phase mit ihrer typischen „ödipalen“ Charakteristik: Das Kind begehre das gegengeschlechtliche Elternteil sexuell und beneide das gleichgeschlechtliche um seinen Sexualpartner.

„Ich liebe meine Mutter“ heißt in der eigenartigen Sondersprache der Psychoanalyse: Die Mutter ist das von mir „libidinös besetzte“ Objekt.

Woraus entstehen diese Liebesbeziehungen? Für Freud will das Kind nur eins: essen - nämlich sexuelle Lust aus seiner Mundzone gewinnen. „Wenn der Säugling nach der Wahrnehmung der Mutter verlangt, so doch nur darum, weil er bereits aus Erfahrung weiß, daß sie alle seine Bedürfnisse ohne Verzug befriedigt. Die Situation, die er als ‚Gefahr‘ wertet, gegen die er versichert sein will, ist also die der Unbefriedigung, des Anwachsens der Bedürfnisspannung, gegen die er ohnmächtig ist“, formulierte Freud 1926. Primär ist der Nahrungswunsch; die Vorliebe für seine Mutter sekundär. Dem Kind sei es gleich, wer ihm als Objekt seiner Triebabfuhr dient; es suche die Nähe der Mutter nur, weil sie ihm seine Wünsche prompt erfüllt und es (seine Urangst) ohne sie ohnmächtig ist. Und Teile der Psychoanalyse durchzieht der Verdacht, jede Sehnsucht nach einem geliebten Menschen im späteren Leben sei im Grunde pathologisch, nämlich ein Rückfall (eine „Regression“) auf die oralerotische Phase des Säuglings.

Bowlby hält all dies für völlig falsch.

Auf die Seelentopographie der Psychoanalyse, die schematisch das dumpfe, unpersönliche „Es“, das „Ich“ und die Zensurinstanz des „Über-Ich“ gegenüberstellt, läßt er sich nirgends ein; ihm genügt es, aus der neueren Wahrnehmungsforschung die Bestätigung zu beziehen, daß tatsächlich ein großer Teil der Informationen, die die Seele verarbeitet, nicht zu Bewußtsein kommt; und daß Vorschriften und Normen tatsächlich einen mächtigen Einfluß auf das Gefühlsleben nehmen. (Das Kind, dem die Mutter damit droht, daß sie ihm ihre Liebe entziehen werde, etwa wenn es nicht brav und still sei, wird schon mit zwei Jahren seine wahren Gefühle scharf kontrollieren.)

Auf eine scholastische Diskussion der Freudschen „Abwehr“-Mechanismen (Verdrängung, Verschiebung, Projektion und so weiter), durch die die Seele sich unwillkommene Inhalte fernhält, läßt er sich ebenfalls gar nicht erst ein: Im Licht der kognitiven Psychologie sieht er sämtliche Abwehren als „selektiven defensiven Ausschluß von Information“; dieser kann so weit gehen, daß die Seele mehrere „Hauptsysteme“ unterhält, alle komplett mit ihren eigenen Erinnerungen, Wünschen, Gefühlen, Gedanken - eins etwa, für das ein toter Angehöriger weiterhin am Leben ist, ein anderes, das tatsächlich von seinem Tod ausgeht.

Daß der Organismus vor allem Reize zu minimieren suche, ist erwiesenermaßen falsch. Wie sich in Reizentzugsversuchen gezeigt hat, braucht er im Gegenteil eine ständige Reizung, sonst wird er krank. Sexualität, mit jedem Luststreben gleichgesetzt, ist in der Psychoanalyse ein so allgemeiner und weiter Begriff geworden, daß er nahezu nichtssagend ist. Die Annahme eines einzigen entscheidenden Triebs ist zudem durch und durch unbiologisch. Die drei kindlichen Entwicklungsstufen (oral-anal–genital) ergeben nur Sinn, wenn die Sexualität als einziger Antrieb angenommen wird.  Bowlby interessieren sie nicht, er braucht sie nicht. Die Charakterentwicklung ist für ihn nicht eine für alle Menschen gleiche Einbahnstrecke mit drei Stationen, die man im günstigen Fall erfolgreich durcheilt, bei denen man im ungünstigen Fall (der „Fixierung“) aber hängenbleibt, um später auf sie zurückzufallen. Bowlbys Modell geht davon aus, daß die Charakterentwicklung durch äußere Erfahrungen jederzeit in eine andere Richtung gedrängt werden kann und damit einen von vielen möglichen Entwicklungspfaden zurücklegt.

Und, vor allem: Das Kind sucht die Nähe der Mutter nicht, weil sie ihm seine Nahrungswünsche befriedigt; es sucht sie erwiesenermaßen auch dann, wenn jemand ganz anderes es füttert. Es sucht von dem Augenblick an, da es sie erkennt (und die Erkennung ist im siebenten Monat voll ausgebildet), seine Mutter um ihretwegen. Der Bindungsinstinkt ist nicht auf einen anderen Trieb zurückzuführen. Er ist dem Menschen wie den höheren Tieren aus Überlebensgründen einprogrammiert.

So formulierte Bowlby 1979 in einem Vortrag den Kern seiner Theorie: „Wer mit verhaltensbiologischen Prinzipien vertraut ist, wird viele meiner Ideen selbstverständlich finden. Es wird ihm nicht neuartig vorkommen, sich das Menschenkind als derartig genetisch vorprogrammiert vorzustellen, daß es ein Ensemble von Verhaltensmustern hervorbringt, welches es in einer angemessenen Umwelt dazu veranlaßt, mehr oder weniger dicht in der Nähe dessen zu bleiben, der für ihn sorgt, und genausowenig neuartig wird er die Vermutung finden, daß diese Neigung zur Nähewahrung die Funktion erfüllt, das mobile Kleinkind und das aufwachsende Kind von einer Zahl von Gefahren zu bewahren, unter denen in dem Milieu der evolutionären Angepaßtheit des Menschen wohl die Gefahr, die ihm von Raubtieren drohte, an erster Stelle stand. Und es wird ihn auch nicht überraschen, daß dieser Hang, die Nähe von vertrauten Mitmenschen zu suchen, vor allein von Verwandten, während der Adoleszenz und des Erwachsenenlebens bestehenbleibt, wenn auch in mancher Hinsicht modifiziert.

Die „sensible“ Phase für die Bindung an die Bezugsperson liegt zwischen dem 6. und 36. Lebensmonat; aber bis zur Pubertät bleibt die Einstellung zu Bindungspersonen sehr plastisch. Je nachdem, wie man in der Kindheit Bindungsfiguren erlebt hat, als vorhanden oder nicht vorhanden, als zugänglich oder abweisend, als schützend oder als Menschen, die die Rollen umkehren und von den Kindern selber geschützt und versorgt werden möchten, bildet man sich eine Vorstellung von sich selber, in der man als eine im Grunde liebenswerte Person figuriert oder als eine, die nicht liebenswert ist oder sich jede Liebe mühsam erschmeicheln oder erstreiten muß; und man bildet sich ein „Arbeitsmodell“ von Bindungsfiguren, das ins Erwachsenenleben mitgenommen wird. „Wer das Glück hatte, in einem normal guten Zuhause mit normal liebevollen Eltern aufzuwachsen, hat immer Menschen gehabt, bei denen er Hilfe, Trost und Schutz finden konnte. So stark haben sich ihm seine Erwartungen eingeprägt, und so oft sind sie ihm bestätigt worden, daß er sich als Erwachsener kaum eine andere Welt vorstellen kann. Dies verleiht ihm eine fast unbewußte Sicherheit. Er begegnet darum der Welt mit Vertrauen und kann potentiell gefahrvolle Situationen wahrscheinlich selber bestehen; sonst sucht er Hilfe bei anderen. Wer eine andere Kindheit hatte, ist weniger glücklich dran. In seinen Augen ist die Welt trostlos und unvorhersehbar.“

Jedem Leser von Bowlby wird auffallen, daß er allen imponierenden Spezialbegriffen sorgfältigst aus dem Weg geht. Den Begriffsfetischismus der Psychoanalyse hält er offenbar für ein Übel. Er erspart sich auf diese Weise viel unfruchtbaren Streit. Beispielsweise nannte Freud den für die psychoanalytische Behandlung wichtigsten Vorgang „Übertragung“. „In der ‚Übertragung‘“, erklärt ein Wörterbuch, „identifiziert und projiziert der Patient in den Analytiker hinein.“ So wie das Wort dasteht, wirkt es einschüchternd und geheimnisvoll, als sei die Übertragung etwas, das sich nur in dem quasimagischen Zeremoniell der Analyse ereigne. Bowlby streitet keineswegs ab, daß es sie gibt und daß sie wichtig ist; aber so wie er sie formuliert, wird sie mit einemmal zu einem ganz und gar normalen, einsichtigen Vorgang: „Wie der Patient den Analytiker sieht, welche Vorhersagen er über sein wahrscheinliches Verhalten macht, offenbart besonders deutlich, was für ,Arbeitsmodelle‘ von Bezugspersonen das Leben des Patienten regieren.“

Einklang mit anderen Wissenschaften; prospektive Forschungsstrategien, die darauf abzielen, Spekulationen einzuschränken und Hypothesen verifizierbar zu machen - das sind einige positive Züge der Bowlby’schen Theorie. Ein anderer ist ihre Offenheit. Sie betont ihre Unvollständigkeit. Sie sperrt sich nicht gegen weitere Erkenntnisse. Daß es konstitutionelle neurophysiologische Unterschiede zwischen den Menschen gibt, beschäftigt Bowlby selber nicht - er untersucht nur die Einflüsse der Lebensgeschichte; aber er streitet jene nicht ab, sondern findet es nur zur Zeit noch zu schwierig, sie exakt zu bestimmen.

Ein anderer schöner Zug der Bowlby’schen Theorie ist ihr Realismus. Er sucht keine Zuflucht bei dem, was nicht zu sehen ist: bei autonomen Phantasien, unbewußten Wünschen, Projektionen, Fixierungen, Regressionen. „Der praktizierende Psychiater kann nur von einer sicheren Annahme ausgehen: Hinter dem Rauch einer kindlichen Angst, eines kindlichen Selbstvorwurfs oder eines anderen Symptoms oder Problems brennt ein Feuer, das von einem erschreckenden oder Schuldgefühle erzeugenden Erlebnis im wirklichen Leben entzündet wurde.“

Das hat Folgen für die Psychotherapie, die seiner Theorie folgt und die, deren Wesen entsprechend, meist eine Familientherapie ist. Sie wird hei Angstneurosen und Depressionen nach realen Trennungs- und Verlusterlebnissen suchen. Sie wird elterliche Drohungen, das Kind im Stich zu lassen, ins Heim zu geben, Selbstmord zu begehen, elterliche Andeutungen, das Kind mache einen unglücklich oder krank, ans Licht holen und mit den Betroffenen durchsprechen - mühsam genug oft, da die Eltern solche Drohungen gern vergessen und jedenfalls höchst ungern zugeben. Sie wird chronische Schuldgefühle eines Hinterbliebenen nicht wie die Psychoanalyse damit erklären, daß seine geheimen bösen Wünsche, die die Kehrseite jeder „Objektbeziehung“ seien, in Erfüllung gegangen seien: daß der Hinterbliebene also gleichsam gemordet habe. Sie wird vielmehr die Wurzel solcher Schuldgefühle in tatsächlich geäußerten Vorwürfen suchen („du hast unsere liebe tote Mutter auch nie ausschlafen lassen!“). Allerdings mische sich in eine Liebe oft Wut auf die geliebte Person; aber diese entspringe nicht irgendwelchen unbewußten mörderischen Wünschen, sondern dem Umstand, daß der geliebte Mensch sich entziehe, und habe die Funktion, ihn zurückzugewinnen. Eine unstabile, unsichere Beziehung („anxious attachment“) produziere notwendig Angst und Wut.

 

Im letzten Band untersucht Bowlby, wie der Mensch reagiert, wenn er den Nächsten (den Ehegefährten, die Mutter, den Vater, das Kind) durch den Tod verloren hat. Aufgrund einiger neuerer, seinen Anforderungen entsprechenden „prospektiven“ Studien beschreibt Bowlby, wie der Trauerprozeß normalerweise abläuft. Die erste, meist kurze Phase ist die der Betäubung; man funktioniert weiter, als hätte einen die Nachricht noch gar nicht erreicht. Dann folgt die lange Phase der Sehnsucht, des Suchens, der Traurigkeit, des Schmerzes, der Wut (auf den Toten, der sich entzogen hat; auf tatsächlich oder nur vermeintlich schuldige Dritte, die Ärzte zum Beispiel; auf sich selber, wenn man sich Mitschuld am Tod gibt) - eine Zeit, in der man den Toten noch nicht ganz aufgegeben hat. Sie wird (oft nach etwa einem Jahr, oft auch später) von einer kurzen Phase der Verzweiflung abgelöst: In ihr wird man sich der Unwiderruflichkeit des Verlusts bewußt. Auf sie folgt im günstigen Fall die Phase der Reorganisation, die einen instand setzt, neue Bindungen einzugehen.

Ist der normale Verlauf des Trauerns bekannt, lassen sich pathologische Varianten erkennen; und es lassen sich mit viel Umsicht und Mühe die Bedingungen isolieren, die dem normalen Verlauf abträglich sind und dann etwa in einen lebensunfähigen Zustand chronischer Trauer führen.

Kinder, stellte Bowlby im Rahmen dieser Studien fest, können vom 16. Lebensmonat an trauern. Ein günstiger Verlauf der Trauer hängt an drei Bedingungen. Ihre Bindungen müssen sicher und nicht angstvoll gewesen sein. Sie müssen sofort und richtig über den Tod informiert werden und sich darüber aussprechen können (die wesentliche Auskunft besteht darin, daß der Tote nie wiederkommen wird und sein Körper vergraben oder verbrannt ist) -andernfalls kann die Diskrepanz zwischen dem, was sie erleben, und dem, was sie zu hören bekommen, bis zum Wirklichkeitsverlust führen. Und schließlich muß ihnen eine Ersatzbezugsperson zur Verfügung stehen; je deutlicher sie diese von der toten Mutter oder dem toten Vater unterscheiden können, um so besser die Aussichten für die neue Beziehung.

Es erübrigt sich vielleicht nicht zu sagen, daß Bowlbys umsichtiges und behutsames Werk niemals rechthaberisch und polemisch und immer von einer tiefen Achtung vor den Erlebnissen und Gefühlen der Menschen erfüllt ist.

Seine Theorie ist einfacher, ist weniger „tief“ als die der sogenannten Tiefenpsychologie. Es fehlt ihr deren Appeal, durch reines Nachdenken und Rangieren mit Begriffen auch aufgrund von wenig Anschauungsmaterial riesige Theorietürme errichten zu können. Es fehlt ihr auch der Appeal zu durchschauen, was sich der Normalmensch niemals träumen ließe. Und eine von der Zeit der Verfemung geprägte, höchst exklusive Bruder- und Schwesternschaft wie die der Psychoanalyse, die heute manche Züge einer weltlichen Kirche trägt, wird für neue Ideen wie die von Bowlby kaum zugänglich sein und über den Häretiker lieber mit Geschrei herfallen oder sich von ihm mit vornehmer Verachtung abwenden.

Eher könnte ich mit denken, daß sich Bowlbys Paradigma an der Psychoanalyse vorbei langsam durchsetzt, einfach weil seine Erklärungskraft groß ist und die praktischen Nutzanwendungen für die Therapie von „Beziehungsstörungen“ so naheliegen. Und auch, weil manche der Schönheit nicht widerstehen werden, die sich dann ergibt, wenn sich wie hier das Wissen ganz verschiedener Disziplinen neu und harmonisch ordnet.


[1] Er erschien unter dem Titel Verlust, Trauer und Depression 1983 im Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, in dem heute auch die anderen Bände vorliegen.

 

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