»Home

DAS GEDÄCHTNIS

Im Kopf die ganze Welt (3)

Von Dieter E. Zimmer

DIE ZEIT / ZEITmagazin, Nr. 18, 24. April 1987, Seite 38, 40, 44, 46, 50-51

© 1987 DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer

 

Wir haben uns etwas gemerkt, das heißt: Eine Wahrnehmung hat irgendwo im Gehirn eine Spur hinterlassen, eine materielle Veränderung hervorgerufen. Seit langem schon sind die Forscher hinter diesem "Engramm" her. Heute, so scheint es, finden sie es endlich.

Ein Wissenschaftsreport von Dieter E. Zimmer

 

Was aber ist das – das Gedächtnis? Wenn alles Denken und Fühlen darauf beruht, dass im Gehirn elektrische Signale von Nervenzelle zu Nervenzelle zucken, dann muss auch das Gedächtnis eine materielle Grundlage haben. Signale, die der Eindruck von heute hervorbringt, müssen beständige körperliche Spuren hinterlassen, die den Gang der Signale von morgen beeinflussen. Was sich unser Geistorgan – das Gehirn – merkt, muss ihm an irgendeiner Stelle, in irgendeiner Weise, aber jedenfalls materiell aufgeprägt, muss ihm eingeschrieben sein. Und so nannte man diese bleibende Fährte des Erlebens denn früher auch: Engramm, "das Eingeschriebene". Heute sagt man meist einfach: Gedächtnisspur.

Es muss diese Gedächtnisspuren einfach geben, das weiß man schon lange. Aber worin sie bestehen, das hat sich dem forschenden Blick bisher erfolgreich entzogen.

So hatte sich, an der Schwelle der Neuzeit, der Philosoph René Descartes die Sache gedacht: "Wenn die Seele sich an eine Sache erinnern will, bringt der Wille die Zirbeldrüse dazu, sich nacheinander nach verschiedenen Seiten zu neigen und dadurch die Lebensgeister in verschiedene Teile des Gehirns ausschwärmen zu lassen, bis sie auf die Spuren stoßen, die das Objekt, dessen man sich erinnern will, früher hinterlassen hat. Denn diese Spuren sind nichts anderes als die Poren des Gehirns, durch die die Lebensgeister damals bei der Darbietung jenes Objekts gekommen waren und die sich jetzt, da diese wieder des Wegs kommen, mit größerer Leichtigkeit wieder öffnen lassen ..." Zieht man die mittelalterlichen Naivitäten – ab die kippelnde Zirbeldrüse, die Gehirnporen, die Lebensgeister (im Herzen erzeugte körperlose Dingelchen, die "wie die Luft oder ein leichter Wind" durch die als Röhren vorgestellten Nervenbahnen wuseln), so ist das eine ausgemacht moderne Auffassung: Erinnerung ist nichts anderes als die Erleichterung (die Facilitierung) bestimmter Wege im Gehirn.

Bevor man fragen konnte, worin die Gedächtnisspur besteht, war die plumpere Frage an der Reihe: Wo befindet sie sich ? Karl Lashley, der Begründer der physiologischen Psychologie, widmete der Suche nach dem Engramm 35 Jahre seines Lebens. Immer wieder brachte er einem Tier etwas bei –, meist einer Ratte, sich in einem Labyrinth zurechtzufinden –, zerstörte chirurgisch einen klar umrissenen Teil seines Gehirns und stellte dann fest, ob das vorher Gelernte jetzt vergessen war. Natürlich erwartete er, bei irgendeinem dieser Eingriffe den Sitz der Erinnerung zu treffen. Aber seltsam, welche Gehirnpartie er auch zerstörte, die Erinnerung zerstörte er nicht. Sie wurde höchstens schwächer, und zwar umso schwächer, je mehr Gehirnrinde er entfernte. 1950 bilanzierte er Hunderte solcher Experimente: "Die isolierte Lokalisierung einer Gedächtnisspur lässt sich nirgendwo im Nervensystem demonstrieren. Begrenzte Gebiete sind vielleicht für das Erlernen und Behalten einer bestimmten Aktivität notwendig, aber innerhalb dieser Gebiete sind alle Teile funktional gleichwertig. Das Engramm ist über das ganze Gebiet verteilt."

Das war denn auch die unerwartete Lehre, die aus Lashleys Lebensarbeit gezogen wurde: Eine Erinnerung sitze nicht an einer bestimmten Stelle des Gehirns, sie sei sonderbarerweise gleichmäßig über das ganze Gehirn oder doch über weite Teile seiner Bereiche verteilt. Das passte gut zu der damals vorherrschenden, dem Behaviorismus lieben Ansicht, die Hirnrinde bestehe vorwiegend aus einer homogenen, unspezifischen Masse von Nervengewebe, die bei der Geburt zunächst sozusagen leer sei und in die sich erst mit den Erfahrungen des Lebens dann nach und nach bestimmte Funktionen einprägten: eine Allzweckmaschine. Damals versuchte man sogar, beschädigte Teile des Nervengewebes operativ durch andere zu ersetzen. Gerade bei diesen Operationen aber stellte es sich heraus: Das Nervengewebe ist im Gegenteil von Anfang an hochspezifisch, kein Teil lässt sich mit einem anderen vertauschen.

1953 – Lashleys Resümee lag erst drei Jahre zurück – operierte der Neurochirurg William Scoville einen siebenundzwanzigjährigen Mann, der von schweren epileptischen Anfällen heimgesucht wurde. Er entfernte beidseitig die Herde der Anfälle, ein tatzenförmiges Gebilde im mittleren Schläfenlappen, das sich etwa oberhalb der Ohren an der Unterseite der Hirnrinde nach innen krümmt, früher für einen Teil des Riechhirns gehalten wurde und Hippokampus heißt. Und sofort trat ein, was bei Lashleys Ratten nicht vorgekommen war: eine Störung des Gedächtnisses, eine schwere Amnesie. Das Leben des Kranken – Henry Gustav Molaison, der unter dem Kürzel H. M. zum meiststudierten aller amnestischen Patienten wurde – war nunmehr auf andere Weise aufs schwerste beeinträchtigt: An sein Leben bis kurz vor der Operation konnte er sich weiterhin erinnern, aber was immer ihm danach Neues widerfuhr, es entfiel ihm bis n sein Lebensende meist schon nach Sekunden. Die gewagte Operation hatte ihn zum Pflegefall gemacht.

Seitdem weiß man, auch aus etlichen ähnlichen Fällen, dass es doch mindestens einen Ort im Gehirn gibt, der für das langfristige Gedächtnis entscheidend ist – den Hippokampus. Oder vielleicht nicht oder nicht nur der Hippokampus selber, sondern die Faserbahnen, die durch dessen "Stiel" verlaufen, durch den der mittlere Schläfenlappen mit tieferen Bezirken des Gehirns verbunden ist. Sie führen unmittelbar über den Hippokampus hinweg und werden bei einer Schädigung des Hippokampus fast immer in Mitleidenschaft gezogen. Als Ort, an dem vermutlich die Wahrnehmungen emotional aufgeladen werden und der darum auch wichtig ist für die Gefühlskomponente der Erinnerungen, wurde ein dem Hippokampus benachbartes, erbsengleiches Gebilde identifiziert, die Amygdala.

Nicht, dass die Erinnerungen hier gespeichert wären. Auch nachdem ihm der Hippokampus herausoperiert worden war, blieb bei H. M. ja offenbar intakt und abrufbar, was er vor seiner Operation in sein Gedächtnis aufgenommen hatte. Aber Hippokampus und Amygdala und dem Stiel des Schläfenlappens scheint bei der Einspeicherung der Erinnerungen ins Langzeitgedächtnis eine wesentliche Rolle zuzukommen. Sind sie beschädigt oder fehlen sie, so wird nichts mehr eingespeichert.

Heißt das, dass Lashley unrecht hatte und eine einzelne Erinnerung eben doch nicht über das ganze Gehirn verteilt ist? In gewisser Weise schon – er hatte wohl nicht ganz an den richtigen Stellen gesucht. Im übrigen hatte wohl ein Denkfehler in seiner Logik gesteckt. Er hatte angenommen, dass eine bestimmte erlernte Fähigkeit als eine einzige Erinnerung an einer einzigen Stelle aufbewahrt werden müsste. Wenn seine Ratten sich in ihren Labyrinthen zurechtzufinden lernten, so hinterließ das jedoch sicher eine ganze Reihe verschiedener, miteinander verknüpfter Gedächtnisspuren Erinnerungen an Gerüche, an Tasteindrücke, an Seh-Erfahrungen. Und wenn ein anschließender chirurgischer Eingriff die erlernte Fertigkeit nicht beseitigte, sondern nur abschwächte, dann muss es also keineswegs daran gelegen haben, dass diese keinen bestimmten Ort hatte, sondern dass Lashley nur die eine oder andere ihrer Gedächtnisspuren gelöscht hatte, aber nicht sämtliche. Mit Hilfe der verbliebenden Erinnerungsreste löste das Tier dann sein Problem auch weiterhin.

Lashleys Experimente haben also nicht bewiesen, dass sich jede Erinnerung überall im Gehirn befindet. Es gibt sehr wohl einige spezialisierte Strukturen, die für die Bildung von Erinnerungen ausschlaggebend sind. Auch wenn eine bestimmte komplexe Erinnerung nicht an einem Punkt sitzt, auf den man mit der Nadelspitze zeigen könnte, wenn sie vielmehr über verschiedene Hirnregionen verteilt sein wird, hat es doch nach wie vor Sinn, nach ihren Orten zu fragen.

Aber worin besteht die Gedächtnisspur? In den 50er und 60er Jahren sah es eine Weile aus, als wäre sie entdeckt. Es gäbe, so lautete die Theorie, spezielle Gedächtnismoleküle.

Es war nämlich beobachtet worden, dass Tiere, die viel zu lernen haben, mehr Ribonukleinsäure (RNS) im Gehirn haben; und dass auch der RNS-Ge- halt einer vermutlich gerade lernenden Nervenzelle um zwölf Prozent steigt. RNS ist jene für alles organische Leben überaus wichtige Substanz, die die Vorschriften der Gene in die Praxis übersetzt: Sie liest in den Zellen den genetischen Code ab und erzeugt die ihm entsprechenden Eiweiße. Diese Vorschriften liegen in Form bestimmter Sequenzen jener Moleküle vor, die die wichtigsten des Lebens sind und den Namen Desoxyribonukleinsäure (DNS) tragen. Wenn man so will, stellen auch diese DNS-Sequenzen die Gene ein Gedächtnis dar: Sie halten fest, was die betreffende Art im Verlauf ihrer Stammesgeschichte zu lernen Gelegenheit hatte. Es war ein verlockender, ein geradezu unwiderstehlicher Gedanke, dass die RNS oder die von ihr erzeugten Eiweißmoleküle auch mit der Bewahrung individueller Informationen zu tun haben könnten. Einer der Forscher, die sich mit dieser Theorie am weitesten vorwagten, der schwedische Biochemiker Holger Hydén, riskierte die Formel: DNS fürs Artgedächtnis, RNS fürs Individualgedächtnis.

Vorschub leistete der Theorie, dass sie mit einer pittoresken Weiterung auch die Vorstellungskraft des normalen Illustriertenlesers eroberte. 1962 berichtete ein amerikanischer Tierpsychologe (James McConnell), es sei ihm gelungen, Erinnerungen buchstäblich zu verfüttern. Er hatte Plattwürmern mit Hilfe von Elektroschocks beigebracht, sich vor der Dunkelheit zu fürchten, sie zu einer Futtermasse verarbeitet und diese undressierten Plattwürmern zu fressen gegeben. Und siehe da, auch diese mieden die Dunkelheit oder lernten diese spezielle Furcht doch sehr viel schneller. Ähnliche Experimente wurden später mit Ratten durchgeführt, die man ebenfalls wider ihre Natur dunkelheitsscheu gemacht hatte und deren Gehirn zu einem Extrakt verarbeitet und an nichtsahnende Artgenossen verfüttert wurde; auch mit Goldfischen, denen man die Vorliebe für einen ihnen an und für sich widerlichen Geschmack andressiert hatte. Wissen, so schien es, war in bestimmten RNS- oder Eiweißmolekülen festgehalten und somit essbar. Eine Forschungsgruppe in Texas glaubte sogar ein bestimmtes Peptid (ein Miniatur-Protein) isoliert zu haben, dessen Anwesenheit im Gehirn eben jene Dunkelangst erzeugte. So tauften sie es Skotophobin: das Protein, das Furcht vor Finsternis einflößt. Ihr Wortführer Georges Ungar sagte damals: "Ich halte es für möglich, dass wir in einigen Jahrzehnten Erinnerungsmoleküle mit allen nur denkbaren Informationen (etwa zehn Millionen Substanzen) im Labor herstellen können, die im Gehirn dann genau das entsprechende Verhalten auslösen."

Das Magazin Time sah damals schon eine kannibalische Verwendung für greise Professoren voraus. Und es wäre ja auch fabelhaft gewesen: Eine Fremdsprache hätte man nicht mehr mühsam lernen müssen, man hätte sie in Form spezieller Eiweißmoleküle unter die Quarkspeise mischen und zum Nachtisch essen können.

Aber wieder einmal handelte es sich um eine Fehlanzeige. Bei Wissenschaftlern, die jene wundersamen Friss-dich-schlau-Experimente wiederholen wollten, blieb das erhoffte Ergebnis bedenklich oft aus. Und wenn doch etwas daran zu sein schien, ließ sich der Effekt weniger extravagant erklären, nämlich damit, dass die untrainierten Tiere mit dem Gehirnextrakt ihrer getöteten Artgenossen keine Erinnerungen gefressen hatten, sondern andere Substanzen, zum Beispiel Stresshormone, die ihnen entweder eine ähnliche Angst einflößten oder es ihnen wenigstens leichter machten, sie zu lernen. Dass eine bestimmte Erinnerung an ein bestimmtes Molekül gebunden ist, wurde jedenfalls nie nachgewiesen.

Proteinmoleküle sind zwar so riesig und können so astronomisch viele Formen annehmen, dass der Einwand nicht sticht, ein so großer Informationsgehalt wie der des menschlichen Wissens lasse sich unmöglich in lauter verschiedenen Proteinmolekülen kodieren. Aber die Vorstellung, bestimmte Erinnerungen würden in Gestalt bestimmter Moleküle aufbewahrt, stößt auf eine andere Schwierigkeit: Wie sollten sich die verschieden zusammengesetzten, changierenden, ineinander übergehenden menschlichen Erinnerungen zu lauter separaten Molekülen abpacken lassen? Wie könnten diese so flexible Verknüpfungen miteinander eingehen? Lassen sich Erinnerungen etwa auf invariante Grundbausteine zurückführen? Es sieht nicht so aus.

Heute jedenfalls hat die Theorie der Gedächtnismoleküle kaum noch Anhänger. Richtig war nur, dass eine arbeitende also auch eine lernende Nervenzelle mehr Proteine herstellt und dass eine Störung der Proteinsynthese ihre Lernfähigkeit beeinträchtigt.

[An dieser Stelle hatte ich es 1987 unternommen, die gerade im Entstehen begriffene neue Engramm-Theorie zu skizzieren: dass Eindrücke, die ins Gedächtnis eingespeichert werden, die Kontaktstellen, die Synapsen zwischen den Nervenzellen entlang ihres Wegs verändern und dauerhaft verstärken. Aber ich übersah diese neue Theorie damals noch nicht so weit, dass ich sie einfach und klar genug wiedergeben konnte, und stürzte mich dazu auch noch in einen naiven Exkurs über den "Konnektivismus", der in diesem Zusammenhang völlig überflüssig war. Das alles ist nicht einmal mehr historisch von Interesse und muss hier nicht wiedergegeben werden. Darum lasse ich das gesamte Ende dieser dritten Folge weg und ersetze es durch einen Artikel, den ich acht Jahre später zum gleichen Thema schrieb, der "Langzeitpotenzierung" der Synapsen.]

 

Spuren im Gedächtnis

DIE ZEIT/ Wissen, Nr. 8, 17. Februar 1995, Seite 45

Montaigne – der im übrigen von sich behauptete, Weltmeister der Vergesslichkeit zu sein – sagte vom Gedächtnis: "Es leistet uns nützliche und eigentlich wunderbare Dinge; ohne seine Hilfe kann der Verstand kaum arbeiten."

Aus heutiger Sicht ist daran einzig das "kaum" zu beanstanden. Ohne Gedächtnis kein menschlicher Verstand; aber auch die angeblich unverständigen Tiere wären ohne es nicht lebensfähig. So sagt es ein heutiger Neurowissenschaftler, Gary Lynch: "Das Gedächtnis ist die Vorrichtung, welche die Welt für einen organisiert. Was auch immer einem begegnet, man bezieht es auf etwas Bekanntes, Erinnertes."

Gedächtnis: das ist nämlich eine weitaus elementarere Eigenschaft, als man zunächst meinen könnte. Es ist mehr, als sich mehr oder weniger klar und zutreffend an irgendwelche zurückliegenden Erlebnisse zu erinnern. Es ist die Grundlage jeder Lernfähigkeit. Wahrnehmung, Bewegung – nichts davon wäre ohne Gedächtnis: ohne die Eigenschaft des Gehirns, festhalten zu können, was vergangen und nicht mehr vorhanden ist, indem es sich durch das Erlebte selber bleibend modifiziert. Es ist eine der wunderbarsten Errungenschaften der Natur; und eine ihrer rätselhaftesten.

Wenn die Wette der Naturwissenschaften gilt, dass "Geist" nichts Außer- oder Übernatürliches ist, muss alles, was haften bleibt, was "behalten" wird, eine physische Spur im Geistorgan anlegen. Diese Gedächtnisspur hat den schönen kurzen Namen Engramm: das dem Gehirn Eingeschriebene. Worin die Engramme bestehen, darüber ließ sich lange noch nicht einmal spekulieren. Obwohl der große spanische Neuroanatom Ramón y Cajal, der Ende des 19. Jahrhunderts entdeckte, dass das Gehirn aus einzelnen Nervenzellen besteht, schon die richtige Ahnung hatte: an den Kontaktstellen zwischen den Neuronen könne sich etwas ändern.

Es war damals die schiere Spekulation, und auch als der bedeutende kanadische Neuropsychologe Donald Hebb ihr 1949 die Gestalt einer expliziten Hypothese gab, fehlte ihr noch jeder empirische Beleg. Sie lautete: Wenn eine Zelle die andere wiederholt erregt, so verändere sich etwas in ihnen, das beide enger aneinanderkoppelt – künftig wird die erste Zelle die zweite leichter erregen können als vorher.

Noch in den 70er Jahren waren ganz andere Hypothesen en vogue. Damals vermuteten manche, Gedächtnisinhalte wären in Form bestimmter Nukleinsäurefolgen oder Proteinmoleküle im Gehirn gespeichert - mit der aparten Folge, dass man sie im Wortsinn "einnehmen" könnte. (Vor der Prüfung ein paar Pillen lateinische Grammatik gegessen ...) Es war eine Vermutung gegen jede Wahrscheinlichkeit, denn Gedächtnisinhalte sind offenbar aufs vielfältigste ineinander verwoben und keine separaten, "diskreten" Einheiten. Trotzdem schienen einige Versuche sie zu stützen. Es war die Zeit des "Scotophobins", eines Proteins, das Ratten die Furcht vorm Dunkel lehren sollte: eines Phlogistons der Gedächtnisforschung, wie sich dann zeigte.

Heute sind jene Spekulationen zerstoben. Dafür scheint sich Hebbs kluge Voraussicht auf ganzer Linie zu bestätigen. Engramme, so meint heute die große Mehrzahl der Neurowissenschaftler, bestehen in der Verkettung von Neuronen durch die "Verstärkung" ihrer Kontaktpunkte, ihrer Synapsen.

Das menschliche Gehirn ist ein Filz aus über zehn Milliarden dicht gepackter, in ständiger Tätigkeit befindlicher Neuronen. Jedes Neuron streckt Fasern zu anderen Neuronen aus. An deren Enden unterhält es Verbindungen mit Tausenden oder Zehntausenden von ihnen. Auf der einen Seite – über seine Dendriten –  erhält es elektrische Signale von anderen Neuronen: positive (erregende) und negative (hemmende). Das Neuron summiert sie. Überschreitet seine eigene Erregung einen bestimmten (nicht konstanten) Wert, so "feuert" es: Es sendet – über seinen Sendearm, sein Axon – den elektrischen Impuls weiter an jene Neuronen, zu denen es Kontakt hat. Alle Gehirntätigkeit besteht in diesem geordneten Feuern der Nervenzellen. Ein "Eindruck" kommt von außen herein, wird in den unvorstellbaren Signalcode des Nervensystems übersetzt und analysiert und bahnt sich von Neuron zu Neuron eine Reihe von Erregungsspuren. Die meisten von ihnen (der Inhalt des Kurzzeitgedächtnisses) zerfallen nach kürzester Zeit – Sekunden und Minuten – und vollständig; sonst bräche auch das aufnahmefähigste Geistorgan nach kurzer Zeit unter der Menge der Information zusammen. Einige dieser Eindrücke sind jedoch so stark, dass sie dauerhaftere chemische Veränderungen entlang dieser Erregungsspur verursachen. Kommt später ein anderer Eindruck, der etwas mit dem früheren gemein hat, so findet er einen teilweise gebahnten Weg vor und schlägt diesen ein: Er wird wiedererkannt.

Jedes Engramm bestünde dann also sozusagen aus mehreren langen Neuronenketten in dem Dickicht des Gehirns, die so miteinander verbunden sind, dass sie gemeinsam "aufleuchten" wie ein Lichtblitz am Himmel. Angelegt werden sie von einer bestimmten Struktur im Hirninnern aus, dem Hippocampus. Ist er zerstört, etwa durch einen Infarkt, so kann das Gehirn keine (deklarativen) Engramme mehr niederlegen. Man kann sich noch bewegen, man kann sogar noch neue Bewegungen lernen, man weiß auch nach wie vor viel von dem, was man vor dem Infarkt wusste – alle neuen Eindrücke aber sind sofort wieder vergessen.

Um das Gedächtnis neurobiologisch zu verstehen, muss man also verstehen, was an und mit den Synapsen geschieht.

Die Signale sind elektrische Potenziale, aber die Endigungen der Neuronen berühren sich nicht einfach wie zwei Leitungsdrähte. Sie halten einen gewissen Abstand zueinander. Über diesen Spalt hinweg wird das Signal übertragen, und zwar chemisch: Das feuernde Neuron schüttet eine Substanz aus, einen sogenannten Transmitter, dessen Moleküle an bestimmte passende Proteinmoleküle jenseits des synaptischen Spalts andocken, sogenannten Rezeptoren. Hat ein Transmittermolekül angedockt, verformt sich der Rezeptor ein wenig und lässt bestimmte elektrisch geladene Teilchen ins Zelleninnere.

Wie ließe sich eine Synapse dauerhaft verstärken? Entweder präsynaptisch: das feuernde Neuron entlässt dauerhaft mehr Transmitter in die Synapse. Oder postsynaptisch: das empfangende Neuron macht die Synapse empfindlicher für den Transmitter, etwa indem sie die Zahl der Rezeptoren erhöht. Oder beides.

Bis heute wogt in der Forschung der Disput zwischen "Präsynaptikern" und "Postsynaptikern" hin und her. Bald scheint die eine, bald die andere Seite die Oberhand zu gewinnen. Die Präsynaptiker im Gefolge von Eric Kandel, dem Gedächtnisforscher der Columbia-Universität, der den schlichten, kleinen, aber wunderbar übersichtlichen Gedächtnismechanismus der Meeresschnecke Aplysia entziffert hat, haben es mit einem zusätzlichen Problem zu tun: Wenn ein Neuron ausreichend erregt ist, feuert es – an allen seinen Synapsen. Damit eine ausreichend scharfe Erregungsspur ins Nervensystem graviert wird, dürfen aber nicht Hunderte und Tausende von Synapsen gleichzeitig verstärkt werden, sondern jeweils nur eine, oder ein paar. Der Mechanismus muss synapsenspezifisch sein. Das heißt, an der Synapse müsste vom erregten Neuron ein Signal zurück zum erregenden kommen, das dieses veranlasst, nur diese eine Synapse zu verstärken. Etliche Kandidaten für ein solches Rückwärtssignal sind benannt worden, entschieden ist die Frage nicht. Was der Transmitter im erregten Neuron genau bewirkt, um die Synapse empfindlicher zu machen, ist ebenfalls noch nicht geklärt; immerhin gibt es dafür plausible Hypothesen. Auch ist mit dem Umbau der Synapse das Engramm vielleicht noch nicht endgültig geschrieben; vermutlich muss in der Zelle selbst noch einiges tiefgreifend umgestellt werden. Wir wissen ja auch, dass eine Erinnerung erst konsolidiert sein muss, ehe sie für lange Zeit haftet: Psychologisch wie physiologisch wird das Gedächtnis wohl mehrfach umgebettet.

Der erste Hinweis darauf, dass es so etwas wie eine dauerhafte Verstärkung von Synapsen tatsächlich gibt, wurde erst 1973, 14 Jahre nach Hebbs Vermutung gefunden, von Tim Bliss in Schottland. Er nannte es "Langzeitpotenzierung" (Ltp) –  und lange wusste man nicht, ob diese irgendein physiologisches Exotikum war oder tatsächlich etwas mit dem Gedächtnis zu tun hatte. Erst Mitte der 80er Jahre wurde demonstriert: Wenn man im Experiment bei Ratten die LTP stört, stört man auch ihre Merkfähigkeit.

Die Ltp verknüpft zwei Botschaften. Damit sie zustande kommt, müssen an einer Synapse zwei Signale eintreffen: ein schnelles erregendes, das eine Art Propf (ein Magnesiumatom) aus einem bestimmten Rezeptor (NMDA) herausstößt; und ein zweites, das positiv geladene Kalziumionen durch den nun offenen Kanal dieses Rezeptors einströmen lässt. Es ist, als teilte das erste Signal der Zelle mit: "Achtung, jetzt kommt etwas!" Und was etwa 200 Millisekunden später auf dem anderen Weg eintrifft, bewirkt dann den Kalziumeinstrom, der den Umbau der betreffenden Synapse einleitet.

Jedes Signal, das unterwegs zu seinem Engramm ist, ist nicht nur durch den Weg charakterisiert, den es durch den Dschungel der Leitungsbahnen nimmt – und durch Langzeitpotenzierung der betroffenen Synapsen immer leichter nimmt. Ebenso charakteristisch ist die Frequenz, mit der es die Nervenzellen auf seiner Bahn "feuern" lässt. Bei den Gedächtnisspuren, die sich im Gehirn bilden, zählt nicht nur ihre räumliche, sondern auch ihre zeitliche Konfiguration.

Der wichtigste erregende Transmitter in der Schaltstelle des Gedächtnisses, im Hippocampus, ist Glutamat; der wichtigste hemmende Gaba. Medikamente wie Valium erhöhen die Empfindlichkeit der Gaba-Rezeptoren; sie beeinträchtigen auch die Merkfähigkeit. "Sozusagen ein umgekehrtes Valium" nennt der Psychobiologe Gary Lynch von der Universität Kalifornien in Irvine seine Substanzen, die eine bestimmte Unterart des Glutamat-Rezeptors (Ampa) empfindlicher machen, indem sie den Ioneneinstrom in die Zelle für eine Tausendstelsekunde länger aufrechterhalten. Nach dieser Unterart heißen sie Ampakine. In Versuchen mit Ratten, die sich merken mussten, hinter welchen Türen ein Schokoladekrümel liegt oder wo in einem Becken undurchsichtigen kalten Wassers eine rettende Plattform ist, haben sie deren Merkfähigkeit mehr als verdoppelt. Anfang 1994 stellte Lynch die Ampakine der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vor; Ende 1994 begannen erste Versuche an Alzheimer-Kranken mittleren Schweregrads. (Hat die Krankheit erst einmal zu viele Neuronen zerstört, sind auch keine Synapsen mehr da, die verstärkt werden könnten.) Aber der Weg aus dem Labor in die klinische Praxis ist ein langer.

Nebenbei hat Lynch auch eine recht überzeugende Theorie dafür entwickelt, was dem menschlichen Gehirn eigentlich seine Menschlichkeit eingetragen haben könnte – sonst ein Tummelplatz für phantasiereiche oder krampfige Ideen. Laut Lynch war es die Stärkung der Nervenkabel zwischen der vorderen Hirnrinde, wo die Bewegungen koordiniert, die Handlungen geplant werden, und den hinteren Rindenbezirken, wo die Sinneswahrnehmungen verarbeitet und gespeichert werden. Die hinzugewonnenen Verbindungen ermöglichten es dem Gehirn, seine Handlungsprozeduren nun auch auf seine Erinnerungen anzuwenden, also sich nach innen zu richten, in der Vorstellung zu handeln. Und was wäre "Denken" anderes?

 

»Folge 4

»Literaturnachweise

»Home