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Aus Dieter E. Zimmer: Experimente des Lebens

Zürich: Haffmans Verlag, 1989, S.49-107

Taschenbuchausgabe München: Heyne Verlag, 1993

Kapiteltitel: »Der Mensch und sein Double – Über Zwillinge und Zwillingsforschung«

 

Zwillinge

Von Dieter E. Zimmer

 

ES BEGANN 1979. Amerikanische Zeitungen wußten von einem kuriosen Fall zu berichten. Im Staat Ohio hatten sich nach langen, langen Jahren zwei Zwillingsbrüder wiedergefunden. Vier Wochen nach der Geburt waren sie von verschiedenen Familien adoptiert worden; neununddreißig Jahre lang hatten sie nichts voneinander gewußt. Der eine hieß Jim Lewis, der andere Jim Springer (zusammen nannte man sie später die »Jim Twins«). Der eine kämmte seine Haare nach vom, der andere nach hinten. Sonst aber wirkten sie wie Kopien voneinander, und nicht nur das.

Zwischen den beiden Männern kamen höchst seltsame Übereinstimmungen ans Licht. Beide waren Kettenraucher, und beide rauchten dieselbe Marke (»Salem«). Beide tranken sie gern, am liebsten Bier, und zwar dieselbe Marke (»Miller’s Lite«). Beide fuhren einen Chevrolet. Beide hatten zweimal geheiratet. Beider erste Frauen hatten Linda geheißen, beider zweite Frauen hießen Betty. Beide hatten einen Sohn; der eine hieß James Allan, der andere James Alan. Beide hatten einen Hund gehabt, und beide Hunde hatten Toy geheißen. Beide hielten sich für unpolitisch. Beide hatten im gleichen Alter unerklärlicherweise fünf Kilo zugenommen. Beide klagten über Herzbeschwerden, für die kein organischer Grund zu finden war. Beide hatten seit dem achtzehnten Lebensjahr starke Migräneanfälle, die bei beiden aus dem Nacken kamen und zwölf Stunden anhielten. Beide knabberten an den Fingernägeln. Beide arbeiteten nebenher als Hilfssheriffs. Beide hatten einen großen Hobbyraum, auf dem Rasen vor dem Haus einen Baum und um den Baum eine weiße Bank. Beide hatten jahrelang und ohne voneinander zu wissen am gleichen Strand in Florida Urlaub gemacht.23,24

Diese Geschichte las in Minneapolis der Psychologe Thomas J. Bouchard, Jr., und als er sie las, kam ihm eine Idee. In den Jahren davor hatte er sich verschiedentlich mit der kontroversesten psychologischen Frage der frühen siebziger Jahre beschäftigt, der Frage der Erblichkeit der Intelligenz. Viel Verve und viel Druckerschwärze war in einem Streit veraus-gabt worden, der am Ende nicht ideologisch, sondern nur empirisch zu entscheiden war. Bouchard wußte, daß Zwillings- und Adoptionsstudien der beste Weg waren, die Frage der Erblichkeit irgendeines menschlichen Merkmals empirisch zu klären. Und er wußte, daß die sichersten Aufschlüsse von Zwillingen zu erwarten waren, denen das seltene Schicksal zuteil geworden war, getrennt voneinander aufzuwachsen. Mehrmals war in der Vergangenheit versucht worden, ein paar solcher Fälle aufzutreiben und unter die Lupe zu nehmen. Diese Studien waren notgedrungen recht klein gewesen und lagen schon etliche Zeit zurück.

Da war jetzt ein neuer Fall, und ein sonderbarer dazu. Bouchard griff zu. Seit Jahren wurde an seiner Universität Zwillingsforschung betrieben, qualifizierte Mitarbeiter waren vorhanden. Eilends organisierte er die Mittel, um die beiden Brüder, ehe sie sich gegenseitig »kontaminiert« hatten, an die Universität Minnesota einzuladen und ein paar Tage lang auf Herz und Nieren zu untersuchen. Und als sie untersucht waren, beschloß er, es möglichst nicht bei diesem einen Paar zu belassen, sondern den Versuch zu machen, weitere solche Fälle zu finden. Als weitere gefunden waren und sich dank der Publizität in den Medien immer wieder welche fanden, rückte es in den Bereich des Möglichen, mehr getrennte Zwillingspaare zu untersuchen als alle früheren Studien — und sie darüber hinaus gründlicher und unter mehr Gesichtspunkten zu untersuchen als jene. Als sich abzeichnete, daß auch das gelingen wurde, begann Bouchard, alle überhaupt erreichbaren Zwillingsdaten zu sammeln und vergleichbar zu machen – ein noch junges, fortgeschrittenes Verfahren, Metaanalyse genannt, vielen verschiedenen Einzeluntersuchungen den gemeinsamen Sinn abzugewinnen. So entsteht nun heute in Minneapolis eine Zwillingsdatenbank, in der noch Generationen von Wissenschaftlern werden forschen können. Das in kurzen Worten ist das »Zwillingsprojekt von Minnesota«.

Es ist sozusagen eine letzte Chance, ein ungewöhnliches Experiment der Natur zu beobachten, ein Experiment, das die bisher verläßlichste Antwort auf eine Jahrhundertfrage verspricht: Zu welchem Teil ist der Mensch das Produkt seiner Gene, zu welchem das Produkt seiner Erziehung und sonstiger Umwelteinflüsse ? Die Antwort darauf wiederum wirft ein Licht auf die umfassendere Frage: Wie veränderbar ist die menschliche Natur ?

Daß Zwillinge einen wesentlichen Beitrag zu ihrer Beantwortung leisten könnten, hatte als erster Sir Francis Galton gesehen, der englische Universalwissenschaftler, der viel tat, die Konsequenzen aus der Theorie seines Cousins Darwin in die noch junge Psychologie hineinzutragen. 1875 schrieb er: »Die überaus große Ähnlichkeit, die man Zwillingen nachsagt, ist Gegenstand vieler Romane und Bühnenstücke gewesen, und die meisten haben den Wunsch verspürt, zu wissen, auf welcher Wahrheitsgrundlage jene belletristischen Werke beruhen. Doch Zwillinge verdienen noch aus anderen Gründen Aufmerksamkeit. Ihre Lebensgeschichte gibt uns Mittel an die Hand, zwischen den Auswirkungen von angeborenen Tendenzen und jenen, die ihnen die Umstände ihres späteren Lebens auferlegt haben, zu unterscheiden; mit anderen Worten, zwischen den Effekten von Natur und Erziehung (nature and nurture).«16

Eine letzte Chance ist die in Minneapolis unternommene Studie darum, weil Zwillinge seit längerem im Falle einer Adoption möglichst nicht mehr getrennt werden. Die Wirren des Zweiten Weltkriegs hatten noch einmal zu einer Häufung von Trennungen geführt. Die damaligen Kinder sind die Erwachsenen von heute, die in diesen Jahren in Minneapolis untersucht werden. Aus der Zeit danach wird es nur noch ganz vereinzelte solche Fälle geben.

Für merkwürdige Geschichten war das Zwillingsprojekt von Minnesota von Anfang an gut. Und die mit ihnen verbundene Publizität war den Wissenschaftlern nicht unlieb: Sie vor allem ermöglichte die Rekrutierung immer neuer Probanden. Pittoresk und ein gefundenes Fressen für die Medien war zum Beispiel der Fall der beiden Feuerwehrleute.

Im September 1985 fuhr der Feuerwehrhauptmann Gerald Levey aus der Kleinstadt Tinton Falls in New Jersey zu einer Tagung im Kollegenkreis. Im Restaurant starrte einer der Kollegen immer so seltsam zu ihm herüber; schließlich sprach er ihn an. Levey müsse einen Doppelgänger haben, sagte er — jedenfalls gebe es in seiner hundert Kilometer entfernten Heimatstadt Parasmus einen anderen Feuerwehrmann, Mark Newman mit Namen, der zwar ein wenig dicker sei, Levey aber sonst aufs Haar gleiche. Levey reagierte, wie wir alle reagieren würden, wenn uns jemand sagte, es gebe irgendwo jemanden, der uns verdammt ähnlich sieht: Er zuckte die Achseln. Dem Kollegen aber ließ das Ausmaß der Ähnlichkeit keine Ruhe. Er nahm jenen Mark Newman eines Tages unter einem Vorwand mit zur Feuerwache nach Tinton Falls. Die beiden Doubles standen sich nun unerwartet von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Levey starrte den Fremden an und murmelte: »Das muß mein Bruder sein. Jetzt brauche ich ein Bier.« Auch Newman starrte: »Er ist so groß wie ich. Er hat eine Nase wie ich. Er trägt die gleiche Brille wie ich. Er hat eine Glatze wie ich. Jetzt brauche ich ein Bier.«29 Zwei identische Zwillinge hatten sich wiedergefunden. Geboren 1954 in Manhattan, waren sie fünf Tage nach der Geburt getrennt worden und in der Folge bei Adoptivfamilien aufgewachsen. Einunddreißig Jahre lang hatten sie nichts voneinander gewußt.

Ihre Ähnlichkeit beschränkte sich nicht auf ihr Aussehen und ihre berufliche Stellung. Levey hatte ein College besucht und Forstwirtschaft studiert; Newman hatte eigentlich auch Forstwirtschaft studieren wollen, dann aber einen Job als Forstarbeiter angenommen. Später hatte Levey Sprinkleranlagen installiert, Newman Feueralarmanlagen. Jetzt waren beide begeisterte Feuerwehrleute. Beide waren Junggesellen, beide hatten eine Schwäche für große, schlanke, langhaarige Frauen. Beide jagten und angelten, beide mochten sie Filme mit John Wayne und chinesische Restaurants. Beide lachten gern mit zurückgeworfenem Kopf, tranken gerne Dosenbier, und zwar nur der Marke »Budweiser«, krümmten dabei den kleinen Finger unter die Dose und zerquetschten sie, wenn sie leer war. »Wir machen«, sagte Levey, »die gleichen Bemerkungen und die gleichen Gesten zur gleichen Zeit. Es ist unheimlich.«40

Noch unheimlicher war ein Fall, der die Forscher in Minneapolis ebenfalls 1979 beschäftigt hatte. 1933 brachte auf Trinidad eine mit einem Juden verheiratete Deutsche eineiige Zwillinge zur Welt. Wenige Monate später entzweite sie sich mit ihrem Mann und kehrte nach Deutschland zurück. Eine etwas ältere Tochter und einen der Söhne, Oskar, nahm sie mit. Jack, den anderen, ließ sie bei seinem Vater zurück. Oskar — Nachname Star — und seine Schwester wurden von der Großmutter im Sudetenland in katholischem Geist großgezogen und wuchsen inmitten der antisemitischen Propaganda der Nazis auf; heute lebt er als Industriemeister im Ruhrgebiet. Jack Yufe lebte weiter bei dem Vater und einer Verwandten in der Karibik, wurde im jüdischen Glauben erzogen, ging mit sechzehn Jahren nach Israel, lebte lange im Kibbuz, diente in der israelischen Marine und emigrierte 196o in die USA. Heute hat er ein Bekleidungsgeschäft in Kalifornien.

Die Brüder wußten voneinander zwar, daß es sie gab, hatten aber keinen Kontakt, abgesehen von einem kurzen Zwischenaufenthalt Jacks in Deutschland, bei dem sie sich auf dem Bahnhof trafen, sich aber nur mit einem Dolmetscher verständigen konnten und nichts miteinander anzufangen wußten. Ihr wirkliches Wiedersehen fand erst Ende 1979 auf dem Flughafen von Minneapolis statt. Und wieder gab es diese seltsamen Übereinstimmungen. Beide sahen sich zum Verwechseln ähnlich, waren ähnlich gekleidet, trugen eine ähnliche Brille. Beide hatten die Gewohnheit, Gummibänder übers Handgelenk zu streifen. Beide blätterten Zeitschriften von hinten nach vorne durch. Beide mochten sie scharfe Speisen. Beide niesten manchmal laut, um andere zu ärgern, vor allem in Fahrstühlen. Beide waren aufbrausend. Beide regte es auf, wenn der Kellner sie warten ließ. Beiden gefielen die gleichen Frauen — von Jacks erster Frau hätte er sich auch getrennt, sagte Oskar, seine zweite Frau mochte auch er. Ähnlich auffällige Nichtübereinstimmungen konnten sie nicht entdecken — und das, obwohl sie dock in zwei Erdteilen, in zwei Sprachen, in zwei Religionen, in zwei Erziehungsstilen und in zwei nicht nur verschiedenen, sondern entgegengerichteten politischen Systemen groß geworden waren.19,54

Ich selber war zweimal in Minneapolis und habe zwei Zwillingspaare kennengelernt, eher Normalfälle beide und trotzdem verwunderlich genug.

Tommy Marriott aus Halifax und Eric Boocock aus Sheffield kamen im Oktober 1981 nach Minneapolis. Als sie 1943 geboren wurden, war der Vater im Krieg, und die Mutter schlug sich als Arbeiterin durch. Gleich nach der Geburt gab sie beide Söhne zu einer entfernten Bekannten. Nach vier Monaten holte sie Eric zu sich zurück. Er wuchs bei ihr auf und ihrem zweiten Mann, einem Stahlarbeiter, in kargen Verhältnissen — oft wußte die Familie nicht, wovon sie die nächste Mahlzeit bestreiten sollten. Als er fünf oder sechs war, erfuhr Eric, daß er einen Bruder habe; aber nie machte die Mutter den Versuch, ihn wiederzufinden. Tommy wurde bei seiner Adoptivfamilie in weniger angespannten Verhältnissen groß. Der Adoptivvater war Ingenieur und Gewerkschafter. Mit elf erfuhr Tommy, daß er ein Adoptivkind sei und einen Bruder gehabt habe; aber man sagte ihm, der sei als Kind an einer Lungenentzündung gestorben.

Beide verließen die Schule mit fünfzehn Jahren, wurden Fabrikarbeiter, heirateten und bekamen Kinder. Die Familien wohnten sechzig Kilometer auseinander und wußten nichts voneinander. Dann sah Eric zufällig eine Fernsehsendung über getrennte Zwillinge, und seitdem ließ ihn der Wunsch nicht mehr los, seinen Bruder ausfindig zu machen. Er wandte sich an eine Reporterin, und nach zwei Jahren hatte sie Tommy aufgespürt. Die Brüder trafen sich das erste Mal im September 1981 vor Fernsehkameras in Leeds. Den Wissenschaftlern zuliebe, die »Ansteckungsgefahr« witterten, beließen sie es bei diesem einen Treffen, ehe sie einige Monate später nach Minneapolis kamen.

Da saßen sie nun und amüsierten sich mit dem gleichen gutmütigen tonlosen Kichern über die Fragen, die auf sie herunterhagelten: Duschen oder baden Sie lieber? Fürchten Sie sich vor Feuer? Lachen Sie gern über anzügliche Witze? Lesen Sie gerne Liebesgeschichten? Haben Sie unverzeihliche Sünden? Möchten Sie lieber von einem Stier verfolgt werden oder einen Monat im Bett zubringen? Sind Sie kitzlig?

Zwei achtunddreißigjährige Männer, die sich ihr Leben lang nicht gekannt hatten — und alle mußten sich Mühe geben, sie nicht zu verwechseln. Sie sahen gleich aus, hatten die gleiche, etwas untersetzte Statur mit einem Ansatz von Bauch, die gleiche ungewöhnliche Frisur (glatte halblange Haare, die sie sich tief in die Stirn kämmten), waren beide weitsichtig und trugen fast die gleichen Brillen, hatten beide einen Kinnbart, Eric allerdings — und daran waren sie am leichtesten auseinanderzuhalten — auch noch einen schütteren Backenbart.

Ihre Haltung und ihre Bewegungen waren so gleich, wie etwas nur gleich sein kann. Gleich war ihr Lachen. Aneinander schätzten sie ganz besonders, daß sie den gleichen Sinn für Humor hatten, und voneinander versprachen sie sich vor allem viele vergnügte Stunden. (Unter allen Ähnlichkeiten zwischen eineiigen Zwillingen fand der dänische Zwillingsforscher Niels Juel-Nielsen die des Lachens die frappierendste.) Ihre Stimme, ihr Sprechtempo waren so gleich, daß sie beim Abhören der Tonbandaufnahme eines gemeinsamen Interviews selber nicht mehr erkennen konnten, wer von ihnen was gesagt hatte. (Daß ihre Bekannten und sogar ihre nächsten Angehörigen oft Mühe haben, eineiige Zwillinge auseinanderzuhalten, ist notorisch. Zuweilen verwechseln sie sich aber auch selber, wie jene Schauspielerin, die in eine neue Garderobe kam und verwundert fragte, was denn ihre Zwillingsschwester hier mache — die Schwester aber war nur ihr Spiegelbild.) Andere Ähnlichkeiten entdeckten die Brüder erst wahrend der Woche in Minneapolis. Beide waren höchst ungern zur Schule gegangen und hatten kein einziges Fach gemocht. Beide liebten sie ihre Familie über alles. Beide waren nicht religiös und interessierten sich nicht für Politik. Beide hatten eine Vorliebe für Angeln und Wetten. Beide tranken in großen Mengen schwarzen Kaffee. Beide hatten eine Phobie, und es war die gleiche: Sie fürchteten sich vor Spinnen.

Ein Unterschied allerdings fiel auf. Tommy war Rechtshänder, Eric Linkshänder. Solche Falle kommen vor — die sogenannten spiegelbildlichen Zwillinge, die genau seitenverkehrt gebaut sind und funktionieren: Einer ist Rechts-, der andere Linkshänder; das gleiche Muttermal sitzt bei dem einen links, beim anderen rechts. Aber Tommy und Eric gehörten nicht zu ihnen. Tommy war eigentlich auch Linkshänder, aber als Kind von seinem Adoptivvater zur Rechtshändigkeit gezwungen worden. Das war also, sehr sichtbar, einmal eine Auswirkung der verschiedenen Umwelten, die sie hinter sich hatten. Sehr weit reichte sie nicht. Wenn Tommy etwas zugeworfen wurde, kam seine Linkshändigkeit wieder zum Durchbruch, und er fing es mit der Linken.

Als ich die beiden beobachtete, hatte ich immer stärker den Eindruck, daß ihre Ähnlichkeit irgendwie noch weiter ging und tiefer war, als es die erschöpfendste Liste einzelner Übereinstimmungen je zum Ausdruck bringen kann, weiter, als es irgendein psychometrisches oder medizinisches Instrument je erfassen könnte. Ich mußte mich selber immer wieder daran erinnern, daß es ja im Grunde zwei nicht nur verschiedene, sondern einander auch noch völlig fremde Menschen waren, denen ich da gegenübersaß. Es war, als hätten sie sich schon immer gekannt. Als wüßte der eine, was der andere in jedem Augenblick dachte und empfand. Als wäre es selbstverständlich, daß der eine für den anderen mitantworten könnte.

Wenn man sonst beobachtet, wie zwei Menschen miteinander sprechen, stößt man auf eine Menge winziger Unstimmigkeiten. Sie haben verschiedene Stimmen, verschiedene Gebärden, verschiedene Heftigkeiten, verschiedene Denk- und Sprechgeschwindigkeiten, sie lassen Pausen entstehen oder fallen sich ins Wort, ihre Gedanken gehen in verschiedene Richtungen — kurz, hundert normalerweise gar nicht bewußt werdende Indizien signalisieren: Wir sind uns fremd, wir müssen uns erst aufeinander einstellen. Diese Mühe fiel bei Tommy und Eric offenbar völlig weg. Sprachen sie abwechselnd, so griff das eine derart in das andere, daß ich manchmal meinte, es hätte nur eine Person gesprochen.

Diese Harmonie innerhalb eines Zwillingspaars, die nicht von dieser Welt scheint, ist vielen aufgefallen, natürlich auch den Zwillingen selber. In einem amerikanischen Buch über Zwillinge, verfaßt und photographiert von den Zwillingsschwestern Kathryn und Frances McLaughlin35, kann man immer wieder lesen, wie Zwillinge die Vereinsamungssorgen der anderen nicht kennen — immer haben sie jemand, der sie zutiefst kennt und billigt und mit dem sie sich mühelos verständigen kennen.

Eindrucksvoll ist, wie sie ihre Rivalität auflösen, die fast unausbleiblich ist, wenn ihnen die Umwelt keine Individualität zugesteht und sie als Einheit, als Doppelwesen behandelt. Dann streiten sie sich eine Weile immer wieder und suchen sich gegeneinander zu profilieren. Meist aber geht die Rivalität in einer höheren Eintracht auf, die der Ski-Champion Phil Mahre, Zwillingsbruder des Ski-Champions Steve Mahre, so ausdrückte: »Wir haben uns höchstens über dumme Kleinigkeiten gestritten, und das auch nur, als wir jünger waren. Es ist unheimlich. Manchmal ist er wie eine Erweiterung von mir selber. Schneide ich nicht gut ab, so freut es mich, wenn er gut abschneidet. Sein Sieg ist auch mein Sieg.« Nur einem eineiigen Zwilling nimmt man dergleichen ab.

Ganz selten nur wird von eineiigen Zwillingen berichtet, die nicht miteinander auskommen. Einer, so steht es in der Literatur, nannte seinen getrennt aufgewachsenen Bruder nach dem Treffen den »unangenehmsten Kerl, der mir je begegnet ist«, und wollte ihn nie wiedersehen — vielleicht konnte er auch sich selber nicht gut ertragen. Unter den Zwillingen, die das Minnesota-Projekt zusammengebracht hat, waren alle dankbar, daß sie sich gefunden hatten, und bis auf ein Schwesternpaar vertrugen sie sich bestens. Die beiden Schwestern Goldie und Gladys zankten zwar dauernd, versöhnten sich aber jedesmal rasch und mühelos wieder.

Etwa 40 Prozent aller Zwillinge haben anfangs ihre private Sprache, eine Sammlung entstellter Wörter und Wendungen, die sie untereinander im Scherz gebrauchen oder wenn sie sich einsam fühlen. Wenn sie drei sind, geben sie diese Privatsprache in der Regel auf. Es kommt aber auch vor, daß sie sich nicht von ihr trennen. Ende der siebziger Jahre erregte in den Vereinigten Staaten der Fall Grace und Virginia Kennedy Aufsehen. Die beiden Zwillingsschwestern waren mit sieben Jahren in ein kalifornisches Krankenhaus eingeliefert worden, weil mit ihnen etwas nicht in Ordnung war, sie aber offenbar zu intelligent waren, um in eine Sonderschule für Schwachsinnige gesteckt zu werden. Sie brachten keinen englischen Satz heraus, schnatterten jedoch untereinander in einer Privatsprache, die kein Mensch verstand — »wie ein Tonbandgerät im Schnellgang«. Zuerst meinte man, es sei eine von A bis Z erfundene Sprache: »Pinit putahtreletungay.« — »Nis Poto?« — »Liba Cabingoat it.« — »Ia moa Poto ?« Der vereinten Bemühung mehrerer Linguisten gelang es dann, sie doch zu entschlüsseln. Jener Wortwechsel etwa bedeutete: »Alle Kartoffelsalat Hungenq – »Dies, Poto [der private Spitzname der einen]?« – »Liebe Ca-bingo [der Spitzname der anderen], iß.« — »Hier mehr, Poto?« Es war ein stark entstelltes und ziemlich kümmerliches Englisch, versetzt mit einigen deutschen Brocken. Offenbar waren beide Mädchen stark vernachlässigt und meist allein oder in der Obhut ihrer strengen deutschen Großmutter gelassen worden, die keinerlei Englisch sprach; so hatten sie immer nur einander als Gesprächspartner gehabt. Im Krankenhaus wurden sie getrennt und machten Fortschritte, aber auch nach einigen Jahren der Rehabilitation waren sie sprachlich wie geistig weit hinter ihrem Alter zurück.17

Noch merkwürdiger war ein Fall, der sich in den achtziger Jahren in England ereignete und die Reporterin Marjorie Wallace so neugierig machte, daß sie ihm nachging und ihm ein ganzes Buch widmete.53 Zwei linkische zwanzigjährige Zwillingsmädchen schwarzer Hautfarbe, June und Jennifer Gibbons, waren nach einigen Einbrüchen und Brandstiftungen von einem Gericht auf unbestimmte Zeit in eine Spezialklinik für kriminelle Psychopathen eingewiesen worden. Die beiden hatten sich untereinander mit Blicken und in einem für Außenstehende unverständlichen »Vogelgezwitscher« verständigt, aber mit fast niemandem gesprochen und vom elften Lebensjahr an gar nicht mehr; höchstens, daß sie manchmal widerstrebend und leise eine einsilbige Antwort gaben. Doch selbst mit ihrer Mutter verkehrten sie lieber schriftlich. Ihre Eltern hatten sie einfach für »schüchtern« gehalten und sich nie genug über das seltsame Betragen der beiden gewundert. Schüchtern waren sie in der Tat, und aus ihrer Zwillingspartnerschaft hatten sie früh eine Art Festung gegen die Welt gemacht: Sie bewegten sich völlig synchron und oft unnatürlich langsam, schienen unempfindlich und wie leblos (einem Arzt kamen sie wie Zombies vor) und schienen nur miteinander zu einem Leben zu erwachen, das für alle anderen ein Geheimnis blieb. Diese extreme Bindung aneinander hatte ihnen Schutz vor der Außenwelt gewährt, aber gleichzeitig verhindert, daß jede zu ihrer Individualität finden konnte. So hingen sie in einer intensiven und verzehrenden Haßliebe aneinander: Jede stellte sich immer wieder vor, wie sie die Schwester endlich ermordete und sich von ihr befreite, und trotzdem konnten sie ohne einander nicht sein, litten bei jeder Trennung und waren in allem einander so ähnlich, daß sie manchmal zur gleichen Zeit die gleichen Alpträume hatten. Ihre Straftaten hatten sie vor allem begangen, um einer Jungenbande zu imponieren und von ihr akzeptiert zu werden. Es war (und ist) der Fall einer extremen Zwillingssymbiose, die ins Pathologische und Asoziale umgeschlagen war. Gänzlich einzigartig aber ist ihr Fall darum, weil sie seit ihrer Pubertät geschrieben und geschrieben hatten, Geschichten und Romane voller Sex und Gewalt und Tagebücher, in denen sie ihre seelische Kalamität mit einem offenen Forschungsgeist und einer Wortgewalt ausloteten, die manche an die Schwestern Brontë denken ließ.

Bei meinem zweiten Besuch in Minnesota im Sommer 1987 sind zwei siebenundzwanzigjährige Frauen aus Kalifornien an der Reihe, Linda und April. Sie sind in Japan geboren. Wer ihr Vater war, wissen sie nicht, die Mutter kennen sie nicht. Jedenfalls war sie Japanerin — vielleicht eine Geisha? Mit achtzehn Monaten waren sie aus einem japanischen Heim zur Adoption in die Vereinigten Staaten vermittelt worden und dort in verschiedenen Familien aufgewachsen. Daß sie sich vor vier Jahren ausfindig gemacht hatten, war nur der Zähigkeit der einen zu verdanken, die wußte, daß irgendwo eine Schwester existieren mußte. Seitdem hatten sie des öfteren miteinander telefoniert, gesehen aber hatten auch sie sich vorher nur einmal und kurz.

Jetzt scheinen sie ihr Zusammensein mächtig zu genießen. Ihre Ähnlichkeit in Größe, Aussehen, Haltung, Ausdruck ist so frappierend, daß ich sofort in die alte Verlegenheit gerate: Wer ist wer ? Auf der Stelle sage ich: Das müssen eineiige Zwillinge sein. Die Professoren sind skeptisch. Ähnlich sind sie sehr, ja; auch essen sie fast das gleiche, trinken beide sehr viel und dauernd den gleichen blassen Cranberrysaft, verschwinden beide zwischendurch lange auf der Toilette. Aber die eine trägt eine Brille, die andere nicht, und so kann man sie denn doch leicht auseinanderhalten. Die eine ist relativ streng und reserviert, die andere fröhlicher und umgänglicher, so sehr, daß sie wie selbstverständlich sozusagen die Außenministerin des Paares abgibt, die, an die man sich wendet, wenn man beiden etwas sagen will. Nur eine von ihnen hat Angst vorm Fliegen, und auch ihre Ohren sind ein wenig anders geformt — die gleiche Ohrmuschelform aber ist ein ziemlich, wenn auch nicht hundertprozentig sicheres Erkennungsmerkmal eineiiger Zwillinge. Andererseits, beide haben am gleichen Zeh einen gespaltenen Nagel, und ihr Lachen ist schlechterdings identisch ... Wir schließen Wetten ab; die Zwillinge selber tippen darauf, daß sie zweieiige Schwestern seien.

Sie irrten sich. Als nach einigen Wochen die Ergebnisse der umfangreichen serologischen Untersuchungen vorlagen, die die Frage der Zygosität zuverlässig klären, war ihre Eineiigkeit erwiesen. Beide waren ein lebendiger Beweis dafür, daß eineiige Zwillinge manchmal und in mancher Hinsicht auch recht verschieden sein können. Vielleicht hatte eine von ihnen schon im Mutterleib das bessere Teil abbekommen, und die andere hatte ihr Defizit nie ganz wettmachen können; vielleicht lag es daran, daß die zurückhaltendere von ihnen in einer strengen und lieblosen, nach ihren Andeutungen zu schließen sogar brutalen Atmosphäre aufgewachsen war und noch der Schatten dieser Kindheit über ihr lag.

In den ersten Jahren waren es vor allem Geschichten dieser Art, die aus Minneapolis zu berichten waren — anrührende, sonderbare, manchmal unheimliche Anekdoten über Menschen, denen im späteren Leben plötzlich ein leibhaftiger Doppelgänger gegenübertrat; Berichte von unerwarteten, unerklärlichen und darum sehr irritierenden Übereinstimmungen, die es eigentlich nicht geben dürfte. Aber die Wissenschaft ist nicht auf solche Geschichten aus; letztlich sind sie ihr sogar eher lästig. Sie will allgemeine objektive Erkenntnisse. Die liegen inzwischen vor. Es sind keine endgültigen. Endgültigkeit gibt es in den Erfahrungswissenschaften nicht; selbst die beste Untersuchung beantwortet nicht alle Fragen und mag überholt sein, sobald eine Frage sich genauer stellen läßt. Doch sie sind deutlich genug; sie fügen sich fast widerspruchslos in das allgemeine Bild, das diese Forschungsrichtung in den letzten beiden Jahrzehnten erarbeitet hat; sie lassen sich nicht mehr leicht beiseite wischen.

Um sie zu verstehen, muß man zunächst die Logik dieser Art von Untersuchungen verstehen.

 

 

Es gibt mindestens zwei Arten von Zwillingen: eineiige (auch als monozygote oder identische bezeichnet) und zweieiige (dizygote oder geschwisterliche).

Zweieiige Zwillinge entstehen, wenn gleichzeitig zwei Eizellen durch den Eileiter der Frau wandern und von verschiedenen Spermien befruchtet werden. Dann wachsen zwei Embryos heran, und beide haben den gleichen Vater. Das muß aber nicht so sein, wie eine fünfundzwanzigjährige Offenbacherin erfuhr, die 1970 Zwillinge zur Welt brachte — eins schwarz, eins weiß. Die beiden Eier waren in kurzem Abstand von zwei Vätern befruchtet worden. Verursacht wird die dizygote Zwillingsschwangerschaft von einem (ererbten) Überschuß an Geschlechtshormonen, der zu einer mehrfachen Ovulation führt. Darum bringt eine solchermaßen fruchtbare Frau zuweilen auch mehrfach zweieiige Zwillinge zur Welt.

Zu einer eineiigen Zwillingsschwangerschaft dagegen kommt es, wenn nur eine einzige Eizelle befruchtet wird, aus dieser aber mehrere Embryos hervorgehen. In den ersten vierzehn Tagen teilt sich die Zygote (die befruchtete Eizelle) achtmal. Jede Zelle dieses kleinen, maulbeerförmigen —  und darum Morula genannten — Zellhaufens ist »äquipotent«: Aus jeder kann noch ein ganzer Mensch hervorgehen. Erst wenn sich die Morula in die Wand der Gebärmutter einnistet, beginnen sich die Zellen zu differenzieren. In dem frühen Stadium kommt es vor, daß sich eine Zelle der Morula abspaltet und zu einem eigenen Embryo zu entwickeln beginnt. Die Ursachen dieser Abspaltung sind bis heute völlig ungeklärt.

In der weißen Bevölkerung kommen auf tausend Geburten acht zweieiige Zwillingspaare. Bei Orientalen ist ihr Anteil nur halb so hoch, bei Schwarzen sind es doppelt so viele — bei einigen Stämmen, den Yoruba in Nigeria zum Beispiel, sogar viermal so viele. Die Quote der eineiigen Zwillinge dagegen ist auf der ganzen Welt dieselbe: dreieinhalb auf tausend Geburten. In der weißen Bevölkerung von Europa und Amerika ist also jede siebenundachtzigste Geburt eine Zwillingsgeburt, und zweieiige Zwillinge sind über doppelt so häufig wie eineiige.

 Nicht jede Zwillingsschwangerschaft führt auch zu einer Zwillingsgeburt. Nicht selten verschwindet einer der beiden Embryonen in den ersten drei Monaten nach der Empfängnis unbemerkt wieder, wird wahrscheinlich vom Körper der Mutter resorbiert. Aufgrund von Ultraschalluntersuchungen an schwangeren Frauen war es in den letzten Jahren möglich, annähernd zu bestimmen, wie oft dergleichen geschieht. Danach sieht es so aus, als würden zwei- bis viermal soviele Zwillinge empfangen wie geboren.22 Das aber hieße: Die Mehrzahl der Zwillinge erblickt nie das Licht der Welt.

Jeder Mensch hat die Hälfte seiner Gene von der Mutter und die andere Hälfte vom Vater. Aber die mütterliche Eizelle wie die väterliche Samenzelle enthält jeweils immer nur eine Hälfte der Gene von Mutter und Vater, und jedesmal ist es eine anders gemischte Hälfte. Wenn dann bei der Befruchtung die mütterliche und die väterliche Hälfte der Gene zusammenkommen, um wiederum eine Zelle mit der vollen Anzahl von Genen zu bilden, erhält jedes ihrer Kinder ein anderes Sortiment von Genen. Es ist die große Lotterie des Lebens: Aus zwei Sätzen von etwa dreißigtausend Genen können durch immer wieder verschiedene Halbierungen und Rekombinationen astronomische Zahlen einmaliger Individuen hervorgehen.

Der Verwandtschaftsgrad zwischen Kindern und jedem Elternteil beträgt 0,5 — das heißt, jeder hat 50 Prozent mütterliche und 50 Prozent väterliche Gene. Der Verwandtschaftsgrad zwischen Geschwistern beträgt ebenfalls 0,5, doch dies ist nur der durchschnittliche Wert. Es könnte im extremsten — und extrem unwahrscheinlichen — Fall vorkommen, daß ein Geschwister genau jene beiden Hälften der elterlichen Gene erbt, die das andere nicht geerbt hat — der tatsächliche Verwandtschaftsgrad wäre dann 0. Oder daß das Geschwister exakt jene beiden Hälften erbt, die auch das andere besitzt — was den Verwandtschaftsgrad 1 ergäbe. Irgendwo dazwischen liegt es, durchschnittlich eben bei 0,5; aber daß es bald mehr, bald weniger sein können, erklärt, warum sich normale Brüder oder Schwestern manchmal ungewöhnlich ähnlich, manchmal ungewöhnlich unähnlich sind.

Daß Geschwister in 50 Prozent ihrer Gene übereinstimmen, ist zwar die allgemein gebrauchte Formel, aber ganz richtig ist sie nicht. Tatsächlich stimmen Geschwister, stimmen alle Menschen im Großteil ihrer Gene völlig überein. Genauer müßte es heißen: Geschwister teilen 50 Prozent jener Gene, die in verschiedenen Varianten — sogenannten Allelen — vorkommen und für Unterschiede bei bestimmten ihrer Produkte sorgen.

Dizygote Zwillinge sind miteinander genauso verwandt wie andere Geschwister auch. Wie andere Geschwister können sie verschiedenen Geschlechts sein (in welchem Fall man auch von »Pärchenzwillingen« spricht). Im Durchschnitt haben sie 50 Prozent ihrer Gene (richtiger: Allele) gemein; mit anderen Worten, ihr Verwandtschaftsgrad beträgt 0,5. Monozygote Zwillinge dagegen haben zu 100 Prozent die gleichen Allele. Ihr Verwandtschaftsgrad ist immer 1. Sie sind genetisch völlig identisch und immer gleichen Geschlechts. Sie sind Clones. Dieser Umstand ist es, der sie so interessant macht.

Die dritte Art von Zwillingen sind möglicherweise die sogenannten Polkörperchen-Zwillinge, auf deren Existenz es bisher nur indirekte Hinweise gibt. Das Polkörperchen ist die Zelle, die mit entsteht, wenn sich eine weibliche Keimzelle teilt, um eine Eizelle zu bilden — also sozusagen die überflüssige andere Hälfte der Keimzelle. Normalerweise bildet sie zunächst ein kleines Anhängsel der Eizelle, geht dann zugrunde und wird ausgestoßen. Es mag aber auch vorkommen, daß sie erhalten bleibt und ebenfalls befruchtet wird.

Eine vierte Art ist beim Menschen bisher nicht viel mehr als ein Gerücht. Sie soll entstehen, wenn innerhalb eines Monatszyklus eine zweite Eizelle nachzüglerisch heranreift und dann ebenfalls noch befruchtet wird; dann brächte die Mutter zwei Geschwister verschiedenen Alters zur Welt. Ihr Verwandtschaftsgrad wäre der gleiche wie der von zweieiigen Zwillingen. Normalerweise verhindert eine hormonelle Sperre einen derartigen Betriebsunfall.

Ob es sich um dizygote oder monozygote Zwillinge handelt — die Frage also der Zygosität —, läßt sich nicht auf einen Blick entscheiden. Eineiige Zwillinge haben immer nahezu die gleiche Augenfarbe, die gleiche Ohrläppchenform und die gleichen Fingerabdrücke. Aber das reicht noch nicht zu einer sicheren Diagnose, denn zweieiige Paare müssen nicht, aber könnten darin ebenfalls übereinstimmen. Für eine zuverlässige Diagnose sind umfangreiche Untersuchungen vieler Bluteiweiße oder eine Gewebetransplantation nötig.

Wie werden die Einflüsse von Erbe und Umwelt, von Natur und Kultur auseinanderdividiert? Dafür zuständig ist die Verhaltensgenetik. Mit ihren Mitteln läßt sich leider nicht erkennen, wie Erbe und Umwelt in irgendeinem Einzelfall zusammengewirkt haben mögen; Aussagen über Einzelfälle macht sie grundsätzlich nicht. Sie spricht über Populationen, Bevölkerungsgruppen. Was für die eine Gruppe zutrifft, kann sich bei der nächsten unter Umständen anders verhalten.

Und zwar versucht die Verhaltensgenetik an geeigneten Testfällen abzuschätzen, zu wie vielen Teilen die bei irgendeinem Merkmal gemessenen Unterschiede zwischen den Menschen auf Unterschiede in den Erbanlagen zurückgehen.

Mit den Unterschieden und nicht mit den Übereinstimmungen zwischen den Lebewesen beschäftigt sich die Genetik, weil nur jene faßbar sind. In unzählbar vielen Genen stimmen zwei beliebig herausgegriffene Menschen zunächst einmal miteinander überein. Sogar mit dem Schimpansen stimmt der Mensch in 98,8 Prozent seines genetischen Materials überein. Das Genom eines jeden Menschen muß zunächst die Blaupause des Menschseins enthalten, die Blaupause des Menschseins ist ein Spezialfall der Blaupause der Anthropoiden, diese einer der Primaten — und so geht es letztlich zurück bis zu der ersten lebendigen Zelle, die auf der Erde entstand, und über sie hinaus zu den vorzellulären Lebensformen und in das Reich des Anorganischen, mit dem das Leben die Atome und Moleküle teilt. Auf jeden Fall haben zwei Menschen sehr viel mehr miteinander gemein, als sie voneinander unterscheidet. Wir sind mit allem verbunden und in alles eingebettet, und man wüßte also gar nicht, wo man anfangen und aufhören sollte, nach Übereinstimmungen zu suchen.

Um dagegen Unterschiede zu erfassen, muß man sich nicht in das ganze unübersehbare Reich der Übereinstimmungen verlieren. Alle Menschen zum Beispiel (und alle Wirbeltiere) haben zwei ähnlich konstruierte Augen, und unbekannt viele Gene sind zu ihrem Aufbau nötig. Unter diesen Genen sind ein paar, die die Färbung der Iris bestimmen, und diese kommen beim Menschen in verschiedenen Versionen (den erwähnten Allelen) vor. Je nachdem, welche Allele einer erbt und welche sich davon durchsetzen, bildet sich eine individuelle Augenfarbe, die sich von den Augenfarben anderer Menschen unterscheidet. Solche Unterschiede bei einem bestimmten Merkmal lassen sich registrieren und messen, und bei solchen Unterschieden zwischen den Individuen läßt sich sinnvoll bestimmen, inwiefern sie auf Unterschiede in den Erbanlagen (also auf verschiedene Allele für das gleiche Merkmal) oder auf andere Ursachen zurückgehen.

Zwei statistische Grundbegriffe sind zum Verständnis nötig: Variabilität und Varianz. Zum Beispiel wollen wir wissen, ob zwei Bevölkerungsgruppen unterschiedlich groß sind und ob die eine Gruppe hinsichtlich der Körpergröße heterogener ist als die andere. Was ist zu tun? Wenn möglich wird jeder Angehörige beider Gruppen gemessen; wenn das nicht möglich ist, muß man mit Stichproben vorliebnehmen; natürlich sollten sie möglichst repräsentativ sein. Nun liegen zwei Reihen von Meßwerten vor uns. Wie könnte man feststellen, ob die eine Gruppe größer ist als die andere? Klar, man rechnet die Durchschnittsgröße jeder Gruppe aus und vergleicht diese. Will man aber auch noch wissen, ob die eine Gruppe homogener oder heterogener ist als die andere, so reicht ein Vergleich der Mittelwerte nicht. Diese könnten auch dann die gleichen sein, wenn in der einen Gruppe alle annähernd gleich, in der anderen sehr verschieden groß sind. Man muß vielmehr die Variabilität beider Gruppen vergleichen. Um das Ausmaß der Unterschiede, die Variabilität, zu beziffern, muß man mehr kennen als die Mittelwerte: Man muß wissen, wie weit um das Mittel die einzelnen Meßwerte gestreut sind. Die statistische Größe, die das Ausmaß der Variabilität eines bestimmten Merkmals ausdrückt, heißt Varianz. Die Varianz ist um so höher, je mehr Abweichungen vom Mittelwert es gibt und je höher diese ausfallen. Die vielen großen und kleinen Menschen einer variablen Gruppe führen zu einer hohen Varianz der Körpergröße. Je homogener eine Gruppe dagegen ist, desto kleiner ist ihre Varianz.

Die Wissenschaft sucht Ursachen, wie man weiß. Diese Ursachensuche besteht zu einem großen Teil darin, Varianz »aufzuklären« — also zu bestimmen, zu welchem Teil beobachtete Unterschiede einer bestimmten Ursache zuzuschreiben sind. Sie triumphiert, wenn sie sagen kann: Soundsoviel Prozent der Varianz gehen auf das Konto von Faktor X.

Auf ihre Art versucht auch die Verhaltensgenetik, Varianz aufzuklären. Sie versucht zu berechnen, zu welchem Prozentsatz genetische Unterschiede die Varianz bedingen. Diese Prozentzahl ist das, was man unter der Erblichkeit (Heritabilität oder einfach h) im technischen Sinn versteht. Daß das Merkmal soundso eine Erblichkeit von 60 Prozent hat, heißt also: zu 60 Prozent lassen sich die in einer bestimmten Population beobachteten Unterschiede durch Unterschiede in den für dieses Merkmal relevanten Genen erklären. Der ganze übrige Teil der Varianz, der keine genetischen Ursachen hat, wird gewöhnlich den in der betreffenden Population bestehenden Unterschieden in der Umwelt gutgeschrieben. Die eine Varianz ist die Erbvarianz (Ve), die andere die Umweltvarianz (Vu). Die Umweltvarianz definiert sich als jener komplementäre Teil der Varianz, der nicht Erbvarianz ist. Unter einem »Umweltfaktor« stellt sich jedermann sofort irgendeine kulturelle, soziale, erzieherische Beeinflussung vor. Um die muß es sich indessen keineswegs handeln; auch ein Sauerstoffmangel im Mutterleib ist ein Umweltfaktor. Tatsächlich splittet die Erblichkeitsberechnung die Varianz nur in einen genetischen und einen nichtgenetischen Teil.

Die Erblichkeit ist also keine Konstante, die für alle Menschen in jeder Umwelt gültig wäre und der man durch immer raffiniertere Versuchsanordnungen näher und näher kommen könnte. Sie ist ein relativer empirischer Wert, der sich von Population zu Population, von Epoche zu Epoche durchaus verändern mag. Was sich nicht verändert, sind die Mechanismen der Vererbung. Aber möglicherweise hat eine Population Mittel und Wege und auch ein Interesse daran, den Ausdruck eines genetischen Programms zu behindern, zum Beispiel ein genetisch bedingtes Krankheitsrisiko herabzusetzen, die einer anderen Population fehlen. Dann sinkt bei ihr die Erblichkeit dieser Krankheit, und ein entsprechend größerer Teil der verbleibenden Varianz geht auf nichtgenetische Ursachen zurück. Einer punktuellen Erblichkeitsrechnung ist nicht anzusehen, ob die Varianz insgesamt größer oder kleiner ist, als sie war oder als sie sein müßte. Es gibt kein absolutes Maß für die »richtige« Varianz eines Merkmals.

Eine hohe Erblichkeit heißt keineswegs, daß sich das betreffende Merkmal grundsätzlich nicht beeinflussen ließe. Sie besagt vielmehr, daß die bestehenden Umweltunterschiede de facto nicht viel zur Varianz der Bevölkerung beigetragen haben; daß das Merkmal sich gegenüber den Umweltfaktoren, die in einer bestimmten Bevölkerung bisher am Werk waren, also relativ stabil gezeigt hat. Die falsche Gleichsetzung von Erblichkeit und Unveränderbarkeit hält sich in der Öffentlichkeit mit großer Hartnäckigkeit, obwohl doch jeder weiß, daß um ihn her ungezählte ererbte Kurzsichtigkeiten mithilfe von Brillen erfolgreich korrigiert werden.

Das Mißverständnis sei an einem etwas komplizierteren, aber unverfänglichen Fall illustriert, dem der Psoriasis. Die Psoriasis — mit deutschem Namen Schuppenflechte — ist eine der häufigsten Hautkrankheiten überhaupt, die ein bis vier Prozent der Bevölkerung plagt. In der Regel befällt sie umschriebene Hautpartien, meist Ellbogen und Knie, die Kopfhaut, die Kreuzgegend, zuweilen aber große Teile des Körpers. Die Haut rötet sich, juckt quälend und stößt dauernd silbrige Schuppen ab. Das sonstige Befinden ist nicht beeinträchtigt, ansteckend ist die Schuppenflechte auch nicht, nur lästig; in den schlimmsten Fällen führt sie zu einer dauernden Entstellung. Wo die Bibel von »Aussatz« spricht, hat sie möglicherweise Lepra und Schuppenflechte zusammengeworfen. Es handelt sich um eine Funktionsstörung der obersten Hautschicht, der Epidermis, bei der sich aus noch nicht ganz durchschauten Gründen bis zu fünfmal so viele undifferenzierte und verhornende Zellen bilden wie normal. Sie bedecken die Haut mit einem dichten, schweißundurchlässigen Filz, der sich immer wieder ablöst und danach schnell wieder nachwächst. Die Psoriasis kommt und geht zuweilen scheinbar von allein, zuweilen geht ihrem Ausbruch aber auch eine Hautreizung, eine Verletzung oder eine seelische Krise voraus; oft setzt sie zwischen dem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr ein und hält viele Jahre an, nicht selten lebenslang. Mit aller Wahrscheinlichkeit geht die Krankheit auf eine Fehlfunktion einiger Gene zurück. Die Konkordanzrate bei eineiigen Zwillingen ist hoch; haben beide Elternteile Schuppenflechte, so beträgt die Wahrscheinlichkeit, daß auch ihre Kinder sie haben werden, über 70 Prozent. Aber was die Gene programmieren, ist nicht die Krankheit selber, sondern die Anfälligkeit für sie — die Eigenschaft gewisser Hautpartien, von einem bestimmten Lebensalter an auf gewisse Reize psoriatisch zu reagieren. Auf den ersten Blick könnte es also scheinen, als sei die Verletzung oder die seelische Krise die ganze Ursache der Krankheit; in Wahrheit sind sie nur ihr Auslöser, ihre Randbedingung. In vielen Fällen reagiert die Psoriasis günstig auf ultraviolettes Licht; die wirksamste Kur ist immer noch ein langer Aufenthalt an einem sonnigen Strand, besonders in Verbindung mit Meerwasser, die nur den einen Nachteil hat, daß sie nicht vorhält. Wenn von zwei Zwillingsbrüdern einer in einem nordeuropäischen Büro arbeitet, der andere als Surflehrer am Mittelmeer, so kommt eine Psoriasis wahrscheinlich nur bei jenem zum Ausbruch. Wer einige solche Fälle sammelte, könnte auf den ebenfalls oberflächlichen Schluß verfallen, es seien die mit der Büroarbeit verbundenen Lebensumstände, die Psoriasis verursachen. So gäbe es viele Möglichkeiten, den Auslöser mit der Ursache zu verwechseln und die genetische Bedingtheit zu übersehen. Die Krankheit hat aber eine genetische Grundlage, und die Dermatologie hat diverse Mittel, sie günstig zu beeinflussen: Waschungen, Salben, Diäten, Hormongaben, Bestrahlungen, eine entsprechend veränderte Lebensweise; leider hilft nicht jedes jedem, und leider haben die wirkungsvollsten Medikamente dramatische Nebenwirkungen. Kein Mensch ist, als die genetische Grundlage deutlich wurde, auf die Idee gekommen, daß dann eben nichts zu machen sei, daß man die Krankheit als unabänderliches Schicksal hinnehmen müsse. Im Gegenteil, nur wenn man die Wechselwirkungen zwischen einer genbedingt abnormen Hautfunktion und diversen Umweltfaktoren bis in alle biochemischen Details durchschaut hat, besteht die Hoffnung, eines Tages ein tatsächlich wirksames Mittel zu finden. Die Einsicht in die genetische Komponente zwingt mitnichten zur Resignation, sondern ist die Voraussetzung für die Suche nach Heilungsmöglichkeiten.

 

 

Bei Pflanzen und Tieren bestimmen Genetiker die Erblichkeit eines Merkmals durch Züchtungsexperimente. Beim Menschen kommen diese natürlich nicht in Frage. So ist man auf indirekte Schlüsse angewiesen. Sie können aus dem systematischen Vergleich geeigneter Gruppen von Menschen gezogen werden.

Familienmitglieder sind sich in gewisser Hinsicht ähnlich, wie jedermann weiß. Was besagt das? Sie sind miteinander verwandt, das heißt, sie haben zum Teil die gleichen Gene: Die Mutter und der Vater geben je die Hälfte ihrer Gene an ihre Kinder weiter; Geschwister teilen durchschnittlich ebenfalls die Hälfte ihrer Gene. Ihre Ähnlichkeit könnte also sehr wohl genetischen Ursprungs sein. Aber wenn ein Kind seinen Eltern gleicht, könnte diese Ähnlichkeit ebensogut auch auf absichtsvolle Erziehung zurückgehen oder darauf, daß Eltern und Kind in mehr oder minder der gleichen Umwelt leben, den gleichen Umwelteinflüssen ausgesetzt sind. Zusammen lebende Verwandte zu vergleichen, führt also zu nichts: Es läßt sich nicht trennen, was genetisch und was auf andere Weise weitergegeben wurde. Dazu braucht es schlüssigere Vergleiche. Im Falle des Menschen sind die ergiebigsten Zwillings- und Adoptionsuntersuchungen. Ihre Logik ist etwa die folgende (und der Rest ist höhere statistische Mathematik).

Da eineiige Zwillinge genetisch hundertprozentig gleich sind, müssen sämtliche Unterschiede, die man in irgendeinem Merkmal zwischen ihnen beobachten und messen kann, nichtgenetischen Ursprungs sein, also von irgendeiner Einwirkung der Umwelt hervorgebracht worden sein.

Wenn in einer Familie leibliche Kinder zusammen mit Adoptivkindern aufwachsen, mit denen sie genetisch ja überhaupt nichts gemein haben, dann muß jede Übereinstimmung zwischen ihnen von Umwelteinflüssen erzeugt worden sein.

Wenn eineiige Zwillinge zusammen aufwachsen, läßt sich so wenig wie bei anderen Geschwistern sagen, ob die Ähnlichkeiten zwischen ihnen auf ihre übereinstimmenden Gene oder auf die ihnen gemeinsame Umwelt zurückgehen. Wenn sie dagegen in verschiedenen Familien aufwachsen, dann muß ihre gesamte Unähnlichkeit das Produkt ihrer verschiedenartigen Umwelten sein — jedenfalls dann, wenn diese im Schnitt wirklich so verschieden sind, wie Familien in dem betreffenden Kulturkreis nur sein können. Untersuchungen an getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen sind also Zwillings- und Adoptionsstudie in einem.

Wenn sich zusammen aufgewachsene identische Zwillinge ähnlicher sind als solche, die in verschiedenen Familien groß geworden sind, so muß das an den ihnen jeweils gemeinsamen Lebensumständen liegen: an dem sozialen Status oder dem Bildungsgrad ihrer Eltern, dem Gefühlsklima, das in ihrer Familie herrschte — als Ursache kommt alles in Frage, was beiden Geschwistern gemeinsam war, sie geformt und ihre Ähnlichkeit verstärkt hat. Wenn sie aber im Gegenteil kaum ähnlicher sind, dann verlangt die nämliche Logik, daß jene Umwelt, die beiden Geschwistern gemeinsam war, keinen großen Einfluß gehabt haben kann. Der gleiche Schluß drängt sich auf, wenn keine nennenswerten Ähnlichkeiten zwischen Adoptivkindern und den leiblichen Kindern ihrer Eltern bestehen: Die Einflüsse, die ihnen gemeinsam waren, haben sie ja nicht ähnlicher gemacht.

Ein besonders mächtiger Vergleich ist der zwischen ein- und zweieiigen Zwillingen, die getrennt aufgewachsen sind. Die eineiigen stimmen in ihren Genen zu 100 Prozent überein, die zweieiigen nur zu 50 Prozent, wie andere Geschwister auch. Wären alle ihre Unterschiede genetisch bedingt, so sollten sie sich im Durchschnitt auch nur halb so ähnlich sein. Aus der Differenz ihrer Ähnlichkeit läßt sich also direkt auf die Erblichkeit des betreffenden Merkmals schließen.

Gleichzeitig aber erlaubt dieser Vergleich, einem immer wieder geäußerten Verdacht zu begegnen: dem Verdacht nämlich, daß die aus den meisten Zwillingsstudien gewonnenen Erblichkeitsschätzungen aus zwei Gründen irreführend oder gar falsch sein könnten. Erstens, weil Untersuchungen an zusammen aufwachsenden Zwillingen nicht einkalkulieren können, was »Zwillingseffekt« genannt wird — den Umstand nämlich, daß Zwillinge möglicherweise ähnlicher erzogen werden als andere Geschwister, also überdurchschnittlich ähnlichen Familieneinflüssen ausgesetzt sind. Zweitens, weil Untersuchungen an getrennt aufwachsenden Zwillingen sonst meist außer acht lassen müssen, daß diese bei ihrer Adoption von den Vermittlungsstellen nicht in eine wirkliche Zufallsauswahl von Familien, sondern in möglichst ähnliche Familien vermittelt werden. Beide Einwände entfallen hier. Denn gleichgültig, ob bei der Vermittlung der blinde Zufall waltet oder nicht — eine etwaige Nicht-Zufälligkeit bei der Auswahl der Adoptivfamilien träfe eineiige und zweieiige Zwillinge im gleichen Maß. Und ihre Adoptiveltern werden ein einzelnes Kind, das noch irgendwo ein eineiiges Geschwister hat, von dem sie manchmal nicht einmal wissen, nicht systematisch anders behandeln als eins mit einem zweieiigen Geschwister. Gerade dieser aussagestarke Vergleich aber wird mit wachsendem Datenmaterial zu beiden Gruppen beim Zwillingsprojekt von Minnesota möglich.

Bei der Berechnung der Erblichkeit hat es in den achtziger Jahren einen deutlichen Fortschritt gegeben. Früher bildete man sich als erstes eine Theorie darüber, was alles für Faktoren womöglich in die Rechnung eingehen könnten, verwandelte diese in eine mathematische Formel, wandte sie auf die vorliegenden Daten an und errechnete aus denen mit ihrer Hilfe dann die Erblichkeit. Heute prüft man die Alternativen gleich mit: nimmt versuchsweise alle erdenklichen Möglichkeiten an, baut sich aus diesen eine ganze Reihe von mathematischen Modellen und sieht dann nach, wie gut die erhobenen Daten zu jedem einzelnen von ihnen passen. Das Modell, zu dem sie am besten passen, hat die größten Chancen, der Wahrheit nahezukommen. Die Theorie also entsteht erst hinterher.

So viel muß man wissen, um die Ergebnisse der Zwillingsforschung verstehen und einordnen zu können. Welches also sind die Ergebnisse?

 

 

In Minneapolis werden die Zwillinge eine Woche lang von morgens bis abends untersucht, medizinisch wie psychologisch. Selbst in den kurzen Pausen füllen sie noch den einen oder anderen Fragebogen aus. Sie werden von verschiedenen Wissenschaftlern getestet, und das, um Voreingenommenheiten vorzubeugen, teils in Unkenntnis des Zwillingsgeschwisters. Sie werden interviewt, fotografiert, gefilmt. Im Laufe der Woche prasseln Tausende von Fragen auf sie nieder. Alles, was am Menschen überhaupt meßbar ist — es wird gemessen.

Von 1979 bis 1988 sind sechzig eineiige und (als Kontrollgruppe) vierunddreißig zweieiige getrennt aufgewachsene Zwillingspaare auf diese Weise untersucht worden, dazu dreimal Drillinge. Jedes Jahr kommen etwa zehn weitere Paare hinzu.

Wenn Zwillinge irgendwann in der Kindheit getrennt werden, aber nach einigen Jahren wieder zusammenkommen und erst Jahrzehnte später untersucht werden, so sind auch sie »getrennt aufgewachsene Zwillinge«; aber aussagekräftig ist ihr Fall nicht gerade. Für die Wissenschaft am vorteilhaftesten wäre es, die Zwillinge wären am Tag der Geburt getrennt worden, hätten viele Jahrzehnte in grundverschiedenen Milieus verbracht und sich vor ihrer Untersuchung nie gesehen. Dieser Fall aber kommt nicht vor. Also muß die Wissenschaft ihm wenigstens nahezukommen suchen. Die Qualität eines Sample ist um so höher, je mehr Fälle es umfaßt, je früher die Zwillinge getrennt wurden, je länger sie getrennt gelebt haben und je kürzer ihre Wiedervereinung zurückliegt. Die älteste Studie dieser Art war eine amerikanische, unternommen von Newman, Freeman und Holzinger und im Jahre 1937 veröffentlicht36: 19 Paare insgesamt, im Durchschnitt mit 19,5 Monaten getrennt, mit 12,5 Jahren wieder vereint, mit 26,1 Jahren untersucht. Die zweite Studie war eine englische aus dem Jahre 1962, der Autor war James Shields47: 44 Paare, getrennt mit 16,8 Monaten, vereint mit 11 Jahren, untersucht mit 38,8 Jahren. Die dritte war eine dänische, 1965 von Niels Juel-Nielsen veröffentlicht25: 12 Paare, im Schnitt mit 18 Monaten getrennt, mit 15,9 Jahren vereint, mit 51,4 Jahren untersucht. Es fällt auf, daß die Paare erst relativ spät getrennt wurden, nämlich im Durchschnitt mit anderthalb Jahren; daß sie relativ früh wieder zusammenkamen, nämlich im Durchschnitt mit zwölf Jahren; und daß sie erst lange, zum Teil erst Jahrzehnte nach ihrer Wiedervereinung untersucht wurden, nämlich im Durchschnitt mit siebenunddreißig Jahren. Alles das mindert die Aussagekraft der drei Untersuchungen. Die Zwillinge hätten reichlich Gelegenheit gehabt, sich gegenseitig »anzustecken«.

Das Minnesota-Projekt hat schon heute mehr getrennte Zwillingspaare aufzuweisen als alle früheren Studien zusammengenommen. Das aber ist nicht sein einziger Vorzug. Auch die Aussagekraft des Sample ist höher, denn die Paare wurden sehr viel früher getrennt (im Durchschnitt mit 6, nicht erst mit 18 Monaten), wesentlich später wieder vereint (im Durchschnitt mit 31 Jahren, nicht schon mit 12) und eher nach ihrer Wiedervereinung untersucht (nicht im Schnitt 25 Jahre, sondern 8 Jahre später). Darum kommt den Ergebnissen eine ganz andere Überzeugungskraft zu.

Keinerlei Überraschung stellt es dar, daß eineiige Zwillinge fast gleich groß sind und die Körpergröße somit eine sehr hohe Erblichkeit hat: h = 0,9, 90 Prozent.5 Hoch ist auch die Erblichkeit des Körpergewichts, sonderbarerweise aber für Männer (mit 91 Prozent) viel höher als für Frauen (49 Prozent).8 Auf den zweiten Blick ist es gar nicht mehr sonderbar: Das Gewicht läßt sich nämlich durch einen »Umweltfaktor« sehr wirksam beeinflussen, aber nur ein Geschlecht macht von dieser Möglichkeit in nennenswertem Ausmaß Gebrauch — durch den Umweltfaktor »Eßgewohnheiten«. Frauen leben oft Diät; Männer lassen ihrem genetisch vorprogrammierten Gewicht öfter freien Lauf.

Es war auch vorher schon bekannt, daß eineiige Zwillinge — und nur sie — sehr ähnliche Elektroenzephalogramme haben.52 In ihrer Herzrate stimmen sie ebenfalls überein, und mehr: auch in der Art, wie die Herzrate im Laufe eines typischen Tags schwankt. Auch dieser Tagesrhythmus also ist mitbedingt von den Genen.21

Am umstrittensten war immer die Behauptung, das Meßbare an der menschlichen Intelligenz, ausgedrückt im Intelligenzquotienten (IQ), sei in erheblichem Umfang erblich. Es ist hier nicht der Ort, all das zu rekapitulieren, was im Laufe der Jahrzehnte für und gegen die Messung des IQ vorgebracht wurde. Es mag schon sein, daß sich jenes hochkomplexe Etwas, das wir mit dem Begriff Intelligenz meinen, nicht in eine einzige Zahl zwingen läßt. Aber was auch immer diese Tests messen: Es bleibt über die Zeit hinweg ziemlich stabil, es läßt sich kaum lernen, es hat eine beträchtliche Vorhersagekraft für den Schulerfolg und eine nicht unbeträchtliche für den Erfolg in der Universität und im Beruf. Zwar garantiert ein hoher IQ diesen Erfolg noch keineswegs; aber ein zu niedriger bedeutet ein unüberwindliches Handicap. Dieser sein Filtereffekt ist es, der den IQ zu einer sozial so ungemütlichen Sache macht. Jedem ist es im übrigen unbenommen, unter Intelligenz zu verstehen, was er will; er sollte nur wissen, daß IQ-Tests und Volksmeinung gar nicht so weit auseinandergehen (und die Wissenschaft nicht »wieder einmal etwas mißt, was im wirklichen Leben gar keine Rolle spielt«): Wer in den Tests gut abschneidet, gilt meist auch bei seinen Mitmenschen als intelligent.

Zwischen den Forschern herrscht inzwischen weitgehend Einigkeit darüber, daß die Erblichkeit der Intelligenz hoch ist. Wie hoch genau, darüber aber gehen die Meinungen auseinander. Die Schätzungen bewegen sich zur Zeit zwischen 35 und 85 Prozent. In Minneapolis kam man zu dem Schluß, daß der Wert, je nach Bevölkerungsgruppe, irgendwo zwischen 50 und 80 Prozent liegen dürfte33, vermutlich in der Nähe von 60 Prozent. Das also hieße: Die in der europäischen und amerikanischen Gesellschaft heute bestehenden IQ-Unterschiede haben zu mehr als zur Hälfte genetische Gründe.

Die Legitimation, eine so komplexe Eigenschaft wie die menschliche Intelligenz in einer einzigen Zahl auszudrücken, besteht darin, daß alle Arten von Intelligenzleistungen stark miteinander korrelieren. Wer den Sinn einer Geschichte schnell und richtig erfaßt, kann in der Regel auch ein Objekt im Geist richtig drehen, und wer darin gut ist, ergründet in der Regel auch rasch die Logik einer Serie von Piktogrammen oder kann zügig zwei Zahlen miteinander multiplizieren; und wer mit der einen Art von Aufgaben Mühe hat, kommt meist auch mit den anderen nicht gut zurecht. Gleichgültig, was man mißt: solange die gestellten Aufgaben nur irgendeine gedankliche Anstrengung verlangen, sagen Erfolg oder Mißerfolg bei der einen mit einiger Sicherheit voraus, wie man bei ganz andersartigen abschneiden wird — und das bedeutet, daß allen Spielarten der Intelligenz ein gemeinsamer Faktor zugrunde liegen muß. Ob es irgendeine Fähigkeit gibt, die man unbedingt zur Intelligenz zählen möchte, obwohl sie unabhängig ist von dieser Art denkerischen Problemlösens, wie es in den IQ-Tests verlangt wird, ist eine offene Frage. Der aussichtsreichste Kandidat scheint die sogenannte soziale Intelligenz zu sein: die Fähigkeit, sich geschickt in der menschlichen Gesellschaft zu bewegen und durchzusetzen. Sollte es so sein, so wären vielleicht eine eher theoretische und eine lebenspraktische Intelligenz zu unterscheiden, die beide nicht notwendig zusammen vorkommen.

Der allgemeine, der gemeinsame Faktor der theoretischen Intelligenz ist bei jeder Art von Aufgabe für einen meist erheblichen Teil des Ergebnisses verantwortlich, aber nicht für das ganze; im übrigen ist jede Aufgabe auf spezifische Fähigkeiten angewiesen. Da also die einzelnen Intelligenzbereiche zu einem gewissen Teil tatsächlich unabhängig sind, stellen die verbreitetsten IQ-Tests sehr wohl verschiedene Arten von Aufgaben. Am Ende ermitteln sie zwar eine einzige Zahl; aber ihr voraus geht ein differenzierteres Begabungsprofil.

Auch in Minneapolis wurden bei den Zwillingen verschiedene geistige Fähigkeiten gesondert untersucht. Bei Testaufgaben, die die Fähigkeit zu sprachlichem Schlußfolgern prüften, betrug die Erblichkeit 43 Prozent. Wo das räumliche Vorstellungsvermögen gefordert war, betrug sie 52 Prozent. Wo es auf die Geschwindigkeit und Genauigkeit der Wahrnehmung ankam, waren es 47 Prozent. Nur auf einem Sektor fiel sie mit 35 Prozent deutlich niedriger aus: beim bildlichen Gedächtnis.34 Auffällig daran ist vor allem, daß auch die sprachliche Intelligenz, der man doch eine besondere Plastizität zutrauen möchte, eine nicht unerhebliche Erblichkeit aufweist.

Ein heikles Gebiet ist das der mathematischen Begabung, heikel darum, weil sich hier vom zwölften Lebensjahr an erhebliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern zeigen: Je höher die Begabung, desto größer die Wahrscheinlichkeit, daß es sich um einen Jungen handelt; im allerhöchsten Begabungsbereich kommen dreizehn Jungen auf ein Mädchen.2 Vermutlich hängt die relative Vielzahl mathematisch hochbegabter Jungen und Männer damit zusammen, daß die räumliche Intelligenz beim männlichen Geschlecht aufgrund einer anderen Lateralisierung des Gehirns stärker ausgebildet ist, abstraktes mathematisches Denken (im Unterschied zum arithmetischen Rechnen, bei dem Mädchen teilweise sogar besser abschneiden) diesen Sinn für Figuren und Bewegungen im Raum aber sehr stark beansprucht.

Aus Minneapolis gibt es bisher keine Ergebnisse, die Rückschlüsse auf die Erblichkeit mathematischen Denkens zuließen. Andere Zwillingsstudien in Dänemark, Schweden, Großbritannien und den Vereinigten Staaten haben zwar nicht die Erblichkeit mathematischen Denkens, aber die Erblichkeit der Leistungen im Bereich der Mathematik untersucht. Maße der »Leistung« beruhen vorwiegend auf Schulzensuren, und in die geht manches neben dem mathematischen Denken ein: Fleiß, Wohlverhalten, Rechenfertigkeit (die etwas ganz anderes ist als die Befähigung zu höherer Mathematik), die Anwendung auswendig gelernter Regeln. Zum Teil aber wird die Leistung im Fach Mathematik auch die Befähigung zu mathematischem Denken spiegeln. Und alle diese Studien ergaben ziemlich einhellig eine Erblichkeit um die 60 Prozent.2

Neuerdings ist in Minneapolis nun auch ein anderes Feld unter die Lupe genommen worden: das der Persönlichkeitsunterschiede.

Objektive Messungen sind hier noch schwieriger. Der Charakter ist ein Ganzes. Als Ganzes läßt er sich nicht messen. Wie aber soll man ihn zerlegen? Es reicht ja nicht, ein Sammelsurium von menschlichen Charakterzügen herauszupicken, für die die eigene Sprache zufällig Wörter bereithält, und die dann irgendwie zu messen — je nach Zeitgeist vielleicht »Tugendhaftigkeit«, »Kühnheit«, »Empathie«, »Introversion«, »Verletzlichkeit«, und dann fällt es dem nächsten ein, die »Empfindlichkeit« zu untersuchen, und niemand weiß mehr, ob er damit dasselbe meint wie sein Vorgänger mit der »Verletzlichkeit«. Und wie wesentlich beide Eigenschaften für das sind, was die Umgangssprache Charakter nennt, ob man mit ihnen also irgend etwas Bedeutungsvolles erfaßt hat, wüßte ohnehin niemand zu sagen. Das führte schnell ins Uferlose und ganz und gar Unübersehbare. Was man braucht, sind grundlegende Charaktermerkmale: wenige, aber vielsagende und möglichst voneinander unabhängige Eigenschaften. Sie müssen darüber hinaus einigermaßen konstant sein; denn daß man überhaupt von einem Charakter sprechen kann, setzt voraus, daß es dauerhafte und berechenbare individuelle Wesenszüge gibt. Die gesuchten Wesenszüge können unter Umständen so abstrakt sein, daß die Alltagssprache bisher keine Wörter für sie hat. (Das war der Fall bei der »Extraversion«, die erst in den allgemeinen Sprachgebrauch einsickerte, als die Wissenschaft sie als solch einen grundlegenden Charakterzug identifiziert hatte.) Und da man nicht weiß, welches die grundlegenden Wesenszüge sein könnten, muß man zunächst Konstrukte bilden: muß den Leuten immer wieder alle nur erdenklichen Fragen über ihre Ansichten und Gefühle und ihr potentielles Verhalten vorlegen, muß jene aussortieren, die von ein und demselben Probanden mal so, mal so beantwortet werden, also wohl kaum einen dauerhaften Charakterzug reflektieren, und schließlich — mit einem statistischen Verfahren, das Faktorenanalyse heißt — jene heraussuchen, die immer wieder zusammen in ein und demselben Sinn beantwortet werden. Die so gefundenen »Faktoren«, die zunächst nichts als rechnerische Größen sind, muß man sich schließlich daraufhin ansehen, ob sie nicht auch jeweils sozusagen eine Thema bilden. So ist man etwa auf den Umstand gestoßen, daß eine ganze Reihe verstreuter Fragen von dem einen fast allesamt positiv, von dem anderen negativ beantwortet wurden; und als man sich dann ansah, was das für Fragen waren, stellte man fest, daß sie alle irgendwie darauf hinausliefen, wie gern jemand mit anderen Menschen zusammen ist. So wurde der Faktor »Extraversion« geboren, dem man nun gezielter zuleibe rücken konnte, um festzustellen, ob man wirklich auf ein tragfähiges Konstrukt gestoßen war. Man war.

Auf diese Weise wurden fast alle großen Persönlichkeitstests entworfen. Der bekannteste ist wohl der von Hans Jürgen Eysenck, der den Temperamentsunterschieden in drei Dimensionen beikommen will. Der erste dieser drei »Superfaktoren« drückt aus, wie stark und gern sich jemand anderen zuwendet (die Extraversion); der zweite die seelische Stabilität und Ausgeglichenheit; der dritte, wie selbstsicher und zupackend einer sich fühlt und gibt.

In Minneapolis, wo die Persönlichkeitsforschung eine lange Tradition hat, verwendet man am liebsten einen Test, der hier vor etwa zehn Jahren von Auke Tellegen erarbeitet wurde. Er mißt elf Dimensionen, die Namenetiketts wie »Wohlbefinden« (etwa: Freudigkeit und Optimismus) oder »soziale Potenz« (etwa: Durchsetzungsvermögen) tragen und aus denen sich wiederum drei übergeordnete Faktoren ableiten lassen, welche gewisse Ähnlichkeiten mit den Eysenckschen haben. Alle zusammen bilden recht verläßlich ein unverwechselbares »Profil«, aus dem man einiges von dem entnehmen kann, was üblicherweise das »Wesen« eines Menschen, sein »Charakter«, sein »Temperament«, seine »Persönlichkeit« heißt.

Um es kurz zu machen: Die Zwillingsstudie von Minneapolis hat nur noch einmal bestätigt, was auch schon frühere Untersuchungen an den Tag gebracht hatten, vor allem die große Studie von John C. Loehlin und Robert C. Nichols von der Universität Texas, die Mitte der siebziger Jahre nicht weniger als 850 Zwillingspaare untersuchten30 — nämlich: Eineiige Zwillinge sind sich in ihrem Wesen in jeder Hinsicht viel ähnlicher als zweieiige, und zwar so viel ähnlicher, daß die Erblichkeit für alle Persönlichkeitsmerkmale durch die Bank um 50 Prozent liegt. Die niedrigste — 39 Prozent — wurde in Minnesota für den Faktor »Leistungsorientiertheit« (etwa: Ehrgeiz, Hartnäckigkeit, Perfektionismus) errechnet, die höchste — 58 Prozent — ergab sich für den Superfaktor »Befangenheit« (etwa: Zurückhaltung, Vorsicht, Abhängigkeit von der Meinung anderer, Konventionalität).49

Zusätzlich zeigte sich in Minnesota, daß die getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillinge sich nur geringfügig unähnlicher sind als zusammen aufgewachsene. Das kann nur bedeuten, daß der Umstand, in den gleichen Familienverhältnissen groß geworden zu sein, nicht viel zu deren Gleichheit beigetragen hat.

Neu ist höchstens zweierlei. Einen Wesenszug haben andere Tests bisher nicht erfaßt. Er trägt das Etikett »Absorption« und drückt aus, wie stark einer sich von Sinnesreizen gefangennehmen läßt und wie sehr und gerne er sich bildlichen Phantasien hingibt; auch die Fähigkeit zu synästhetischem Denken, also zu der engen Assoziation verschiedener Sinne — Klänge zu sehen, Farben zu hören. Er nimmt sich damit irgendwie künstlerisch aus: so, als könnte ein Maler oder Musiker oder auch Dichter ihn gut gebrauchen, als käme er gar nicht ohne ihn aus. Seine Erblichkeit beträgt 50 Prozent.

Etwas verstören könnte manches Gemüt ein anderes Persönlichkeitsmerkmal. Der verwendete Test mißt auch, was er »Traditionalismus« nennt. Traditionalist in seinem Sinne ist, wer Moral und Religion hochhält und die Permissivität verurteilt, wer auf Manieren und einen guten Ruf bedacht ist, wer für Strenge in der Kindererziehung eintritt — sozusagen also der in der Wolle gefärbte Konservative. Traditionalismus hat eine Erblichkeit von 45 Prozent. Auch das, was scheinbar bloße »Ansichtssache« ist, die allgemeine soziale und politische Grundhaltung, hat also eine kräftige genetische Komponente. Vielleicht erklärt das mit, warum es Traditionalisten — Menschen mit einem ausgeprägten Autoritätsbedürfnis, denen alles Neumodische und Fremdländische suspekt ist — in allen politischen Systemen gibt, auch entgegengesetzten, ganz als sei die politische Ideologie, an die der Traditionalist sich klammert, sekundär. In der Bundesrepublik tendiert er zu den rechtesten Parteien, in der Sowjetunion hängt er am linkesten Stalinismus.

Wie zufrieden ist einer mit seinem Beruf? Das hängt ganz davon ab, wird man sofort sagen, welche Art von Arbeit er macht, wie die Arbeitsbedingungen aussehen, wie die Entlohnung ist, wie sich Chefs und Kollegen verhalten. Auf den zweiten Blick kommen einem vielleicht Zweifel. Jeder kennt schließlich Kollegen, die unter Bedingungen arbeiten, welche man sich selber nie zumuten möchte, und die dennoch ganz zufrieden damit scheinen; und andere, die man eigentlich um ihre Arbeit beneidet, die aber selber reden, als seien sie zu gräßlicher Fron verurteilt. Also scheint die Berufszufriedenheit doch nicht allein von den äußeren Umständen abzuhängen, sondern auch von den Menschen selber. In Minneapolis hat man sie auf ihre genetische Komponente untersucht. Es fand sich eine Erblichkeit von 30 Prozent.1 Das ist nicht exorbitant hoch, aber doch beträchtlich. Offenbar ist ein Faktor, der eine Menge zur Berufszufriedenheit beiträgt, die Fähigkeit, vielerlei Situationen das Positive abzugewinnen — und diese Bereitschaft ist nicht allen im gleichen Maße eigen und weitgehend eine Sache der genetischen Disposition. Das aber bedeutet: Die Berufszufriedenheit hängt wirklich zu einem großen Teil davon ab, wie die Arbeit im einzelnen beschaffen ist; aber auch optimale Bedingungen werden nie ausreichen, die chronisch Unzufriedenen glücklich zu machen.

Bei der Untersuchung der Persönlichkeitsunterschiede ist man auf einen vertrackten Sachverhalt gestoßen, der nicht leicht aufzuklären sein dürfte. Bei blutsverwandten Geschwistern korrelieren die Persönlichkeitsmerkmale im Mittel etwa ebenso stark wie bei zweieiigen Zwillingen, nämlich um 0,2. Bei Adoptivgeschwistern liegt die Korrelation dagegen nur bei 0,07, das heißt, sie ähneln einander fast gar nicht.41 Die Tatsache, daß die Menschen in der gleichen Familie aufgewachsen sind, trägt zu ihrem Charakter also nicht sehr viel bei; fast gar nichts, denn eine Korrelation von 0,07 ist gleichbedeutend mit Null. (Der Korrelationskoeffizient 1 bedeutet totale Übereinstimmung, 0 keinerlei Beziehung.)

Studien wie das Minnesota-Projekt, die eineiige mit zweieiigen Zwillingen vergleichen, kommen bei den Charaktermerkmalen auf eine Erblichkeit von etwa 50 Prozent. Andere Studien, die leibliche und nichtverwandte Kinder in einer Familie vergleichen, ergeben dagegen nur die Hälfte, etwa 25 Prozent. Zweieiige Geschwister nämlich sind sich nicht sehr viel ähnlicher als unverwandte Kinder, die miteinander aufwachsen, obwohl sie zusätzlich zu dem Milieu auch noch einen Teil ihrer Gene miteinander gemein haben. Diese genetische Übereinstimmung verpufft relativ wirkungslos. Mit anderen Worten: Leibliche Geschwister sind sich zu unähnlich, um auf eine hohe Erblichkeit schließen zu lassen.

Woran aber könnte es liegen? Meist nimmt man an, daß die genetischen Effekte normalerweise additiv sind: daß ein Gen, oder eine Gruppe von Genen, ein bestimmtes Merkmal »kodiert«, und daß die verschiedenen Merkmale sich nebeneinander aufreihen und nicht gegenseitig beeinflussen. Im großen und ganzen, meinen Genetiker heute, ist dieses additive Modell bei den meisten Merkmalen auch ausreichend, sind vertracktere Effekte nicht besonders hoch zu veranschlagen. Aber die volle Wahrheit ist das nicht.

Es gibt etwa Gene, die die Eigenschaft haben, andere Gene zu unterdrücken; entweder solche an der gleichen Stelle des Genoms, die das gleiche Merkmal »kodieren« (in diesem Fall spricht man von Dominanz), oder solche an einer anderen Stelle des Genoms, die für ein anderes Merkmal verantwortlich sind (das heißt Epistasie). Erbt ein Kind von seiner Mutter ein Gen für eine bestimmte Eigenschaft, von seinem Vater aber ein Gen, das dessen Ausdruck verhindert, so ist es, als hätte es die betreffende Eigenschaft gar nicht geerbt. Normalerweise sorgt die Vererbung für Ähnlichkeiten zwischen Eltern und Kindern — aber nicht ihre ganze Unähnlichkeit muß nichtgenetischen Ursprungs sein. Auch Dominanz und Epistasie verringern die Ähnlichkeiten zwischen Eltern und Kindern; sie sind genetische Effekte, die für Unähnlichkeiten sorgen.

David T. Lykken, der Psychobiologe des Minnesota-Projekts, meint, daß es einen dritten Effekt dieser Art gibt, der bisher kaum einkalkuliert wurde und dem gerade bei den menschlichen Persönlichkeitsmerkmalen ein erhebliches Gewicht zukommt.

Um einen simplen Fall zu konstruieren: Angenommen, ein Musiker brauchte zwei Eigenschaften, die von zwei Gen-Gruppen abhängen, nämlich einmal ein absolutes Gehör, zum anderen ein absolutes Rhythmus-Gefühl; und wer nur eins davon hätte, wäre eben kein Musiker. Angenommen weiter, eine Frau mit einem absoluten Gehör, die indessen keinen Takt halten kann, bekäme ein Kind von einem Mann, der zwar den Takt so sicher hält wie ein Metronom, aber nicht merkt, wie falsch er singt. Beide Eltern gälten vor sich und der Welt als unmusikalisch und hätten die Musik nach den entsprechenden Mißerfolgen sicher aufgegeben. Aber ihr Kind erbt nun beide Eigenschaften. Sie ergänzen sich, sie stützen einander, und ein Musiker ist geboren. Seine Musikalität scheint ohne Vorläufer in der Familie. Von seinen Eltern, werden die Leute sagen, kann er sie jedenfalls nicht haben. Dabei hat er sie von seinen Eltern sehr wohl geerbt; nur mußte eben der große Zufall eintreten, daß mehrere seltene Gene zusammenkamen und eine ganz besondere Konfiguration bildeten, ehe sich die Begabung zeigen konnte. Sie ist ererbt, scheint aber wie aus dem Nichts entstanden. Lykken nennt einen derartigen Effekt Emergenesis.32 Er meint das plötzliche Auftreten eines Merkmals, das sich bei den Eltern und Vorfahren nicht nachweisen läßt, das aber bei einem Kind plötzlich da ist, und zwar aus genetischen Gründen. Das Merkmal wurde erst in dem Augenblick sichtbar, als jene besondere Konfiguration von Genen vorlag; solange immer nur Bruchstücke dieser Konfiguration vorhanden waren, kam es nicht etwa in einem minderen Maße zum Ausdruck, wie es das additive Modell verlangt, sondern gar nicht.

Eine solche Emergenesis muß also insgesamt die Unähnlichkeiten zwischen Eltern und Kindern und auch zwischen Geschwistern verstärken. Man darf darum nicht aus jeder Unähnlichkeit schließen, daß sie von irgendwelchen Umwelteinflüssen hervorgebracht worden sein muß und jedenfalls nicht genetischen Ursprungs sein kann. Das Gegenteil könnte richtig sein.

»Ich glaube«, sagt Lykken im übrigen, »daß ein weit größerer Anteil an der menschlichen Varianz eine genetische Basis hat, als wir bislang angenommen haben. Einige Milieutheoretiker finden eine solche Ansicht widerwärtig, da sie auf eine Art blinder Vorbestimmung hinauslaufe, auf die Überzeugung, das menschliche Tier sei eine bloße Marionette, die an den Fäden des Genoms hängt und tanzt. Wer aber je mit leibhaftigen Zwillingen gearbeitet hat, weiß, wie komplex und individuell sie trotz aller Ähnlichkeit sind. Man muß sich ja vergegenwärtigen, daß die Zwillinge in dem großen genetischen Kartenspiel zwar identische Karten erhalten, daß es aber auch sehr viele sind, reich an Möglichkeiten, von denen im normalen Leben nur wenige Verwirklichung finden. Die meisten eineiigen Zwillinge sind sich so ähnlich, weil die Lebensumstände den meisten von uns gestatten, unsere Karten in der naheliegenden Art auszuspielen. Aber wenn sie mit sehr verschiedenen Herausforderungen und Gelegenheiten konfrontiert werden, machen sogar eineiige Zwillinge von verschiedenen Aspekten ihres gemeinsamen Erbes Gebrauch und werden so auf signifikante Weise verschieden« (David T. Lykken).31

Die frühesten Hinweise darauf, daß die erbliche Voreinstellung des Menschen tatsächlich mehr sein könnte als ein müßiger Verdacht, kamen aus dem Bereich der Psychiatrie.56 Als der Zeitgeist noch zwingend gebot, erbliche Einflüsse herunterzuspielen oder ganz abzustreiten, räumten selbst radikale Kulturdeterministen ein, daß sie im Falle der Schizophrenie vielleicht doch nicht ganz zu leugnen seien. Noch 1976 schrieb der amerikanische Genetiker Richard Lewontin, neben dem Psychologen Leon Kamin der kämpferischste und zäheste Kritiker aller Bemühungen, menschliches Verhalten auf seine erbliche Komponente zu untersuchen : »Es gibt nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, daß irgendein Verhaltensmerkmal mit Ausnahme der Schizophrenie eine genetische Grundlage hätte — ob Intelligenz oder Ekligkeit oder Aggressivität.« Daten, wie sie damals für die Schizophrenie vorlagen, liegen heute indessen für etliche psychische Krankheiten vor (und dazu für eine Menge gesunder Merkmale).

Man denkt sich die genetische Komponente heute am besten als eine besondere Anfälligkeit oder »Verwundbarkeit« für bestimmte Krankheiten. Sie führt die Erkrankung nicht zwangsläufig herbei, stellt aber einen besonderen Risikofaktor dar. Vererbt wird nicht die Krankheit selber, wohl aber die Anfälligkeit für sie.

Im Falle von relativ seltenen Krankheiten, die in einem Sample von Zwillingen nicht oft genug vorkommen, um viel Statistik mit ihnen zu treiben und so etwas wie die Erblichkeit ausrechnen zu können, interessiert bei Zwillingsuntersuchungen meist schlicht die sogenannte Konkordanz. Das heißt, man fragt, in wie vielen Fällen beide Geschwister in der untersuchten Zwillingsschar die nämliche Krankheit entwickelt haben. Ein Beweis ist eine hohe Konkordanzrate bei eineiigen Zwillingen selber noch nicht, denn schließlich könnten hüben und drüben auch dieselben nichtgenetischen Ursachen vorgelegen und zum Ausbruch der Krankheit geführt haben. Um in dieser Frage für Klarheit zu sorgen, kann man die Konkordanzrate bei eineiigen zum Beispiel mit der bei zweieiigen Zwillingen vergleichen. Wenn sie bei jenen wesentlich höher ist, ist das immerhin ein starker Hinweis auf eine genetische Komponente, denn ein- und zweieiige Zwillinge wachsen nicht in ganz anderen Arten von Umwelt auf. Der Verdacht, sie täten es vielleicht doch, eineiige Zwillinge würden nämlich von ihrer ganzen Mitwelt in einem entscheidenden Maß ähnlicher behandelt als zweieiige, läßt sich ebenfalls überprüfen. Man kann zum Beispiel das Sample in zwei Teile teilen, auf der einen Seite jene Zwillinge, die eine besonders ähnliche Behandlung erfahren, auf der anderen jene, deren Bezugspersonen dagegen immer ihre Verschiedenheit betont haben — und wenn die Konkordanzrate in beiden Gruppen gleich hoch ist, kann eigentlich nicht die Ähnlichkeit in der Behandlung den Ausschlag gegeben haben.

Je höher die Konkordanzrate, um so stärker der Verdacht, daß genetische Ursachen im Spiel sind. Bei der Schizophrenie beträgt sie für eineiige Zwillinge 50 bis 60, für zweieiige (die ja wohl nicht in einer systematisch anderen, weniger »schizophrenogenen« Umwelt leben) aber nur 10 Prozent.20 Das heißt also: Wer einen schizophrenen eineiigen Zwilling hat, wird mit fünfzig- bis sechzigprozentiger Wahrscheinlichkeit ebenfalls erkranken.

Bei der manisch-depressiven Gemütsstörung liegt die Konkordanzrate anscheinend sogar noch etwas höher. Für eineiige Zwillinge beträgt sie 67 Prozent. Weitere 20 Prozent kommen hinzu, wenn man die Fälle mitrechnet, in denen das eine Geschwister eine Depression, das andere irgendeine andere Psychose hat oder einmal einen Selbstmordversuch unternahm. Bei zweieiigen Zwillingen liegen die Konkordanzraten dagegen nur um 20 beziehungsweise 35 Prozent.3 Solche Zahlen lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.

In Minneapolis hat sich früh gezeigt, daß das gleiche auch für gewisse »Angstneurosen« und Phobien zu gelten scheint12, desgleichen für männliche, aber nicht für weibliche Homosexualität13. Doch die Stichprobe in Minneapolis ist bisher viel zu klein, um irgendwelche Rückschlüsse auf die Erblichkeit relativ seltener Merkmale zu ziehen; Statur, Intelligenz, Charakter hat jeder, aber psychische Störungen kommen in einem Sample wie dem der getrennten Zwillinge nur wenige Male vor. Andere Studien springen indessen in die Bresche.

Leichtere psychische Störungen, die — anders als Psychosen wie die Schizophrenie oder die depressive Gemütskrankheit — nicht zu zeitweiser oder anhaltender geistig-seelischer Invalidität führen, aber für die Betroffenen schlimm genug sein können, hießen früher Neurosen; der Sammelname, der einen gemeinsamen Ursprung suggerierte, kommt langsam außer Gebrauch. In dem verbreitetsten Diagnose-Handbuch, dem amerikanischen DSM-III, taucht er gar nicht mehr auf — statt dessen spricht es nur noch von einzelnen (mutmaßlich voneinander unabhängigen) neurotischen Störungen.

Eine der häufigen neurotischen Störungen sind irrationale — also ohne konkreten Anlaß auftretende — Angstzustände. Das DSM-III unterscheidet unter anderem ein Generalisiertes Angstsyndrom, ein Paniksyndrom und ein Zwangssyndrom. Das Generalisierte Angstsyndrom besteht in einer wochen- und monatelang anhaltenden ängstlichen Unruhe und Angespanntheit. Das Paniksyndrom äußert sich in plötzlichen Anfällen entsetzlicher lähmender Todesangst, die Minuten oder Stunden anhalten. Bei fortgesetzten Zwangsgedanken (etwa einem ständigen Grübelzwang) oder Zwangshandlungen (etwa dem dauernden Bedürfnis, sich die Hände zu waschen) diagnostiziert die Psychiatrie ein Zwangssyndrom.

Der Osloer Psychiater Svenn Torgersen hat 1983 an 85 teils ein-, teils zweieiigen Zwillingen untersucht, wie stark die genetische Komponente bei den verschiedenen Angstzuständen ist. Sonderbarerweise fand er keinen einzigen Fall, in dem eineiige Zwillingsgeschwister genau das gleiche Angstsyndrom hatten. Aber alle Angstsyndrome zusammengenommen, betrug die Konkordanzrate bei eineiigen Zwillingen 34, bei zweieiigen 17 Prozent. Torgersen schloß, daß Angstzustände in ähnlichem Ausmaß erblich seien wie die Schizophrenie oder die endogene Depression.51

Eine Ausnahme bildet das Generalisierte Angstsyndrom, die ständige Unruhe und Ängstlichkeit. Es scheint tatsächlich eine Störung eigener Art zu sein, und zwar eine, für die keine starke genetische Anfälligkeit besteht, die sich also wohl vorwiegend aufgrund bestimmter Lebensumstände entwickelt.

Zu den Angstzuständen werden ebenfalls die Phobien gezählt. Es sind die verbreitetsten psychischen Störungen überhaupt: ganz spezifische Ängste ohne sichtbaren Grund und Anlaß. Der eine fürchtet sich vor Spinnen, der andere vor Schlangen, der eine vor Treppen und Türmen, der andere vor Tunneln, der eine vor weiten Plätzen, der andere vor geschlossenen Räumen, der eine vorm Fliegen, der andere vor Fahrstühlen, der eine vor dem Anblick von Blut, der andere vor dem Zahnarzt — kaum einer, der nicht wenigstens eine solche irrationale Angst hat. Mit den meisten Phobien läßt sich leben, und wenn sich mit einer nicht leben läßt, gibt es die Verhaltenstherapie, die sie einem recht wirkungsvoll abgewöhnt. Eine Ausnahme ist die Platzangst oder Agoraphobie, die Angst vor weiten Plätzen, aber mehr wohl vor den Menschenansammlungen auf öffentlichen Plätzen und Straßen, in Bahnhöfen und Kaufhäusern; wer solche bevölkerten Örtlichkeiten nicht erträgt, ist zu einem sehr zurückgezogenen Leben verurteilt, und die Verhaltenstherapie ist hier recht machtlos.

Wir denken alle, Phobien seien das Produkt unangenehmer, vielleicht vergessener früherer Erlebnisse mit dem Furchtobjekt: als kleines Kind einmal von einer Biene gestochen, für den Rest des Lebens mit einer Angst vor allen stechenden Insekten behaftet. Wahrscheinlich kann eine Phobie auch durchaus auf diese Weise entstehen; die Regel aber ist es nicht.

 Svenn Torgersen gelang es 1979, die Phobien faktorenanalytisch in fünf große Gruppen aufzuteilen. Die erste ist danach die der Trennungsängste: Angst vor Reisen, vor vollen Räumen, vor Menschenmengen, vor Läden, vor dem Verkehr, vor der Einsamkeit zu Hause — alles Situationen, in denen man von seinen Bezugspersonen getrennt werden und verlorengehen könnte. Die zweite sind Tierängste: nicht die Angst vor einem bissigen Hund, der einen tatsächlich bedroht, sondern eine unerklärliche Angst vor Fröschen oder Ratten oder anderem Getier, das einem nie etwas zuleide getan hat. Die dritte Gruppe sind die Verstümmelungsängste, die viele Menschen davon abhalten, medizinische Hilfe zu suchen: die Angst vor Krankenhäusern oder Ärzten, vor Blut oder offenen Wunden oder Injektionen. Die vierte Gruppe bilden die sozialen Ängste: etwa die Angst davor, bei der Arbeit beobachtet zu werden oder mit Fremden zu essen. Die letzte Gruppe sind die Naturängste: vor Bergen oder dem Meer, vor Feuer oder Tunneln, Klippen oder Brücken.

In einer Untersuchung an 99 geschlechtsgleichen Zwillingspaaren, von denen mindestens ein Geschwister an einer solchen irrationalen Angst litt, konnte Torgersen nachweisen, daß gerade auch die Phobien eine erhebliche genetische Komponente haben. Ihre Erblichkeit liegt zwischen 47 und 53 Prozent.50 In der Hälfte der Fälle hat die eineiige Zwillingsschwester oder der eineiige Zwillingsbruder sogar genau die gleiche Phobie. Bei den Tierängsten handelt es sich vermutlich um nichts anderes als psychische Atavismen: Bei einigen Menschen kommt noch einmal eine der angeborenen Ängste unserer vormenschlichen Ahnen vor Schlangen oder Spinnen oder Nagetieren zum Durchbruch (die Schlangen- und Spinnenfurcht mancher Menschenaffen ist belegt). Es ist ja auch eigentlich seltsam, daß es keine vergleichbaren Phobien vor Steckdosen, Autos oder Gashähnen gibt, alles Dinge, die ein moderner Mensch viel eher fürchten lernen müßte — wenn diese Furcht eben gelernt würde.

Eine deutliche Ausnahme aber gab es auch bei den Phobien: die Trennungsängste. Hier betrug die Erblichkeit in dieser Studie nur 23 Prozents.50 Die Vermutung liegt nahe, daß die Trennungsängste anderer Art und anderen Ursprungs sind als die übrigen Phobien; daß bei ihnen entsprechende böse Kindheitserfahrungen eine größere Rolle spielen, vielleicht ein häufiger oder anhaltender Entzug der Vertrauenspersonen.

Anhaltspunkte für eine Erblichkeit von Alkoholismus fanden sich in Minneapolis nicht.12 Aber wiederum sind hier bisher viel zu wenige Zwillinge untersucht worden, um Aufschluß über ein so relativ seltenes Merkmal zu erhalten. Gerade für den Alkoholismus gibt es aus den letzten fünfzehn Jahren Daten aus anderen, spezielleren Studien, die dafür sprechen, daß eine erhebliche genetische Komponente im Spiel ist.

Seit altersher ist bekannt, daß die Kinder von Trinkern oft ebenfalls Trinker werden. Heute weiß man auch, wie oft: Die Kinder von Alkoholikern werden vier- bis fünfmal häufiger selber Alkoholiker als die Kinder von Nicht-Alkoholikern.18 Alkoholismus, so viel ist klar, wird also oft innerhalb der Familie weitergegeben. Aber auch hier heißt das nicht, daß die Art der Weitergabe nur eine genetische sein kann. Ebensogut könnten die Kinder darum Alkoholiker werden, weil sie ihre Eltern so oft beim Griff zur Flasche beobachtet haben und es ihnen schließlich nachtun. Nie erlaubt der Vergleich zusammen lebender Blutsverwandter Rückschlüsse auf die Erblichkeit.

Aufschluß können Adoptionsstudien liefern oder der Vergleich ein- und zweieiiger Zwillingspaare. Eine Reihe von Adoptionsstudien kamen übereinstimmend zu dem Schluß: Söhne von Alkoholikern werden auch dann drei- bis viermal öfter als Söhne von Nicht-Alkoholikern zu Trinkern, wenn sie nicht bei ihren Eltern aufwachsen, sondern in Familien von Nicht-Trinkern.18 Zwillingsstudien deuteten in der Mehrheit ebenfalls auf eine genetische Komponente, aber völlig eindeutig war hier der Befund nicht. 1987 wurde jedoch eine finnische Untersuchung veröffentlicht, die die verbleibende Unsicherheit beseitigt haben dürfte.26 Es war eine der größten Zwillingsstudien aller Zeiten, vielleicht die größte überhaupt: Sie hatte ihre Daten bei über zweitausendachthundert (männlichen) Zwillingspaaren gesammelt. Der Vergleich zwischen den ein- und zweieiigen Paaren ergab für den Alkoholismus eine Erblichkeit von knapp 40 Prozent.

Bei einer früheren Berechnung waren andere Forscher zu 64 Prozent gekommen.43 Die Diskrepanz könnte daher rühren, daß Alkoholismus nicht gleich Alkoholismus ist. Auch Kinder von Nichtalkoholikern werden nicht selten zu Trinkern, und in diesem Fall ist keine Vererbung im Spiel. Dieser nichtfamiliäre Alkoholismus setzt meist später ein und nimmt einen langsameren und glimpflicheren Verlauf.18 Die dramatischste Abart des familiären Alkoholismus dagegen, bei der zum Trinken Aggressivität, Asozialität und Kriminalität kommen, scheint eine besonders hohe Erblichkeit zu haben, an die 90 Prozent.43

Was aber wird da eigentlich vererbt? Schmeckt Ethanol dem einen einfach besser als dem anderen? Ist dem einen mehr als dem anderen an dessen zunächst entkrampfender Wirkung auf die Seele gelegen? Bewirkt es bei dem einen eine stärkere biochemische Umstellung als bei dem anderen, mit dem Effekt, daß der Stoff ihn fester in Griff bekommt? Haben die einen irgendein biochemisches Defizit, das ihnen Unbehagen verursacht und von Ethanol reduziert wird? Erzeugt Ethanol bei manchen mehr körpereigene Opiate als bei anderen, so daß sie süchtig werden nach deren wohltuender, euphorisierender Wirkung?

Was bisher nachgewiesen wurde, sind genetisch bedingte Unterschiede in der Art, wie der Körper Alkohol abbaut. Söhne von Alkoholikern reagieren zunächst schwächer auf Alkohol: Sie fühlen sich anfangs weniger betrunken, und objektiv sind sie es auch.43 So merken sie wohl nicht, wann sie betrunken werden — ihre Körperreaktion warnt sie nicht rechtzeitig.

Unter Ostasiaten ist Alkoholismus verhältnismäßig selten. Viele vertragen Ethanol nicht. Schon nach kleinen Mengen rötet sich ihre Haut, wird ihnen heiß, schlägt ihr Herz schneller, stellt sich Übelkeit ein. Dieser Effekt, »orientalisches Errötungs-Phänomen« genannt, schützt sie davor, dem Alkohol anheimzufallen. Man weiß inzwischen auch, wie er zustande kommt. Ethylalkohol wird im Körper von einem Enzym, der Alkohol-Dehydrogenase, zunächst in Azetaldehyd umgewandelt, und dieses wird von einem anderen Enzym zerstört, der Aldehyd-Dehydrogenase. Eine bestimmte Form dieses Enzyms fehlt bei der Mehrheit der Ostasiaten. Bei ihnen wird das aus dem Ethylalkohol entstandene Azetaldehyd nicht gleich wieder abgebaut. Ein hoher Azetaldehyd-Blutspiegel führt aber genau zu jenem Unwohlsein, das sie nach dem Genuß von Alkohol befällt. Der Mangel an jener besonderen Aldehyd-Dehydrogenase, die andere Menschen rasch vom Azetaldehyd befreit, ist genetisch bedingt; auch bei Neugeborenen besteht er bereits.43

Es gibt, genetisch bedingt, erhebliche individuelle Unterschiede im Metabolismus des Ethylalkohols, und es gibt (geringere) ethnische Unterschiede. Ein großes, vielleicht das größte Problem der indianischen Völker Nordamerikas ist das Feuerwasser. Das gesellige Trinken bis zur völligen Betäubung gilt ihnen oft als ein erstrebenswertes Ziel. Leberzirrhose ist bei ihnen fünfmal so häufig wie unter anderen Bürgern der Vereinigten Staaten. Alkohol ist die häufigste Todesursache, gefolgt von Mord und Selbstmord (teilweise ebenfalls in der Folge von übermäßigem Alkoholgenuß).

Man schätzt, daß bei manchen Stämmen 60 Prozent der erwachsenen Männer Trinker sind und 30 Prozent schwere Alkoholiker (bei den Frauen halb so viele).15 Die normale kulturdeterministische Erklärung lautet, daß sie ihre Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung im Alkohol ersäufen. Zweifellos verleitet soziale und private Not zum Trinken. Aber bei kaum einer anderen Population sonst führt sie zu so schwerem Alkoholmißbrauch. Ungewollt läßt die Erklärung die Indianer mit einer Art moralischem Makel zurück: Sie scheinen der Versuchung schwerer widerstehen zu können oder zu wollen. Vermutlich aber beruht ihre geringere Widerstandskraft auf Besonderheiten ihres Alkoholmetabolismus. Wie sie keine Milch vertragen, weil sie nach dem Säuglingsalter das Enzym Laktase nicht mehr bilden, welches den Abbau von Milch besorgt, so scheinen sie auch den Alkohol schlechter zu vertragen. Was genau sie verwundbar macht, ist noch nicht bekannt. Nachgewiesen aber wurde, daß viele Stämme, wie im übrigen auch die Ostasiaten, Ethylalkohol signifikant schneller abbauen als Weiße.38,39 Auch ihr Azetaldehyd-Spiegel ist verhältnismäßig hoch, aber er scheint sie nicht zu warnen — oder sie trinken über die Warnung hinweg. In diesem Fall hätte, kulturell bedingt, eine ähnliche genetische Disposition bei Ostasiaten und Indianern entgegengesetzte Folgen: Die einen ließen sich vom Alkoholgenuß abschrecken, die anderen suchten ihn jetzt gerade. Aber in Ermangelung ausreichender biochemischer Daten ist das einstweilen Spekulation.

Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß in den letzten Jahren auch in der Bundesrepublik eine größere Zwillingsuntersuchung mit verwandter Fragestellung stattgefunden hat.42 Sie fahndete bei 109 Psychotherapie-Patienten mit Zwillingsgeschwistern nach Konkordanzen in nicht weniger als 78 sogenannten neurotischen oder psychosomatischen Symptomen, von der depressiven Verstimmung zur Fehleinstufung in der Schule. Die Studie krankte einmal an der eigenwilligen — psychoanalytisch inspirierten — Einteilung und Zusammenwürfelung der Symptome. Vor allem aber waren es zu wenige Probanden für zu viele und zu verschiedene Krankheiten und Störungen und Schwierigkeiten, um signifikante Aufschlüsse zu erhalten. Für jedes einzelne »Symptom« gab es natürlich immer nur ganz wenige Fälle. So fand sich in dem ganzen Sample nur ein einziger Fall von »Trödeln und Bummeln«, ohne Konkordanz (das zweieiige Zwillingsgeschwister bummelte nicht); selbst wenn es gebummelt hätte, hätte der Befund keinen Schluß zugelassen. Was Aufschlüsse bringt, ist der Vergleich zwischen den Konkordanzraten bei ein- und zweieiigen Zwillingen. Zehn Fälle in jeder der beiden Gruppen sind vielleicht gerade genug, um die allervorsichtigsten Vermutungen zu wagen. Nur bei 12 der 78 Symptome war diese Zahl erreicht, in etlichen Fällen dagegen gab es gar nichts zu vergleichen. Immerhin deuteten einige Konkordanzraten auch hier auf eine beträchtliche Erblichkeit hin, am klarsten bei Schlafstörungen und bei »Kontaktstörungen« (zu denen Gehemmtheit oder Distanzlosigkeit zusammengewürfelt worden waren); und bei keinem Symptom wurde eine Erblichkeit ausgeschlossen.

Bei den meisten psychischen Störungen ist also mit einer ererbten Anfälligkeit zu rechnen. Auffällige Ausnahmen bilden die Trennungsängste und die chronische Unruhe und Ängstlichkeit. Trotzdem, die Konkordanzraten betragen nie 100 Prozent. Immer kommen auch Diskordanzen vor. Selbst bei den »erblichsten« Krankheiten gibt es nicht wenige eineiige Paare, bei denen nur eines der Geschwister erkrankt. Warum trifft die Krankheit den einen und verschont sein Geschwister, das ihm genetisch völlig gleich ist und weitgehend das gleiche erlebt und durchgemacht hat (denn wir haben es bei den letztgenannten Untersuchungen mit zusammen aufgewachsenen Zwillingen zu tun)? Torgersen fand, was auch andere Zwillingsforscher fanden: Schon bei der Geburt sind die beiden eineiigen Geschwister in mancher Hinsicht oft deutlich ungleich. Eins von ihnen ist kleiner und schwächer. Manchmal gleicht sich der Unterschied nach einiger Zeit zwar aus, manchmal aber erweist sich in der Folgezeit das schwächere auch als abhängiger, zurückhaltender, weniger selbstsicher und insgesamt labiler. Wahrscheinlich liegt es an der Konkurrenz im Mutterleib, bei dem eines den kürzeren gezogen hat; in vielen Fällen kommt der unterlegene Konkurrent gar nicht erst auf die Welt, sondern wird schon in einem frühen Stadium der Schwangerschaft abortiert. Das unterlegene Geschwister aber ist dann oft das anfälligere. Es wird krank, wo das andere unter den gleichen Bedingungen gesund bleibt. Ihre Diskordanz erinnert daran, daß die nichtgenetischen, die Umwelteinwirkungen schon im Mutterleib beginnen und zum Teil nicht etwa sozialer, kultureller, pädagogischer, sondern ebenfalls »biologischer« Natur sind.

Die Begriffe »erblich« und »angeboren« gebraucht man oft als Synonyme. Es ist insofern richtig, als der Mensch von der Geburt, ja vom Augenblick der Empfängnis an alle seine Gene hat und sie bei der Geburt mit auf die Welt bringt. Es ist insofern falsch, als sich keineswegs alle Wirkungen der Gene schon bei der Geburt zeigen. Was sie enthalten, ist sozusagen ein Lebensprogramm für das Geschehen in jeder Körperzelle.

Die Untersuchung von Minneapolis kann Belege dafür nur aus der Retrospektive liefern, etwa wenn sie feststellt, was sie immer wieder festgestellt hat: daß die getrennten Zwillingsgeschwister zur gleichen Zeit zu schielen begannen, kurzsichtig wurden und eine Brille brauchten, eine Fehlgeburt hatten, unerklärlich an Gewicht zunahmen, eine Bauchspeicheldrüsenentzündung oder einen Leistenbruch bekamen. Eine großangelegte laufende Langzeituntersuchung der Universität Louisville im Bundesstaat Kentucky aber gibt dazu direktere Aufschlüsse. Hier verfolgt man seit über zwei Jahrzehnten den Lebensweg von 500 Zwillingspaaren von der Geburt an. Eins der bisherigen Ergebnisse betrifft die geistige Entwicklung von Kindern, die bekanntlich nicht gleichmäßig, sondern in Sprüngen verläuft. Bei eineiigen Zwillingen, zeigte sich, finden diese Sprünge fast im gleichen Takt und im gleichen Ausmaß statt.55

Hier ist zur Zeit ein ganz neues wissenschaftliches Feld im Entstehen begriffen — das der Chronogenetik. Sie untersucht, welchen zeitlichen Ausdruck sich ein genetisches Programm sucht.

 

 

Nun könnte man versucht sein, das Kapitel hier zu schließen. Bei all den wichtigen allgemeinen psychischen Merkmalen liegt die Erblichkeit in der Nähe von 50 Prozent, also bleiben die anderen 50 Prozent der Varianz für die Einwirkungen der Umwelt, und der lange erbitterte Streit zwischen »Biologisten« und Kulturdeterministen wäre am Ende salomonisch entschieden: Beide hätten sie recht, Gene und Umwelt, Natur und Kultur haben das gleiche Gewicht.

Aber hier läßt sich der Punkt noch nicht setzen. Wer meinte, daß es bei diesem Ausgang denn doch wenigstens »halbwegs« möglich sein müßte, durch Veränderung »der Verhältnisse«, also durch die Manipulation der einen oder anderen Umweltvariablen die Menschen gleicher — im Sinne von ähnlicher — zu machen, der hätte sich zu früh gefreut.

Erstens nämlich haben wir es mit einem großen Erbfaktor zu tun, dem kein einzelner Umweltfaktor von auch nur annähernd gleichem Gewicht gegenübersteht, sondern viele verschiedene kleine Faktoren, die nur mit großer Mühe überhaupt zu identifizieren sind. Wer meinte, mit der Manipulation eines einzigen — etwa mit einer Reform des Schulwesens — wäre ein großer Teil der menschlichen Varianz zu beseitigen, gäbe sich also einer Illusion hin.

Zweitens lassen sich Konstrukte wie »Selbstbeherrschung« oder »Aggressivität« nicht so genau messen wie Körpergröße oder Körpergewicht. Allen Messungen ist ein Meßfehler eigen, der sich im übrigen bestimmen läßt. Angenommen, man wollte die Länge einer Tischkante ausmessen, und um ganz sicher zu gehen, mäße man mehrmals nach. Auch wenn man jedesmal dasselbe Zentimetermaß verwendete, wäre das Ergebnis nie ganz das gleiche; näher als vielleicht um einen Millimeter käme man an den wahren Wert mit einer solchen relativ groben Methode nicht heran. Bei psychologischen Tests ist dieser Meßfehler in der Regel viel größer. Wo Hunderte von persönlichen Fragen zu beantworten sind, sind immer einige darunter, bei denen der Befragte seiner Antwort nicht sicher ist und ganz anders antwortet, falls man ihn kurz darauf ein zweites Mal fragt, ohne daß sich das Merkmal, das gemessen werden soll, inzwischen verändert hätte. Der Meßfehler also ist die Diskrepanz, die auftritt, wenn man einen Test kurz hintereinander zweimal gibt; anders gesagt: die Korrelation eines Tests mit sich selber. Immer läßt der Meßfehler die Varianz höher erscheinen, als sie tatsächlich ist. Man kann es sich klarmachen, wenn man annimmt, bei irgendeinem Merkmal liege völlige Gleichheit vor, und nun käme man mit seinen unvollkommenen Meßinstrumenten und mäße — ihre Ungenauigkeit ließe die Meßwerte, die eigentlich die gleichen sein sollten, um irgendeinen Betrag schwanken, übertriebe sie hier, untertriebe sie dort, so daß es schiene, als sei das Merkmal doch variabel. Bei den über Jahrzehnte hin erprobten IQ-Tests macht der Meßfehler nur 5 bis 10 Prozent aus. Bei den weniger »harten« Persönlichkeitsfragebögen liegt er dagegen meist um 20 Prozent (gelegentlich 10 Prozent höher oder niedriger). Der Meßfehler setzt dem, was gemessen werden soll, eine obere Grenze — bei den getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen ihrer Korrelation untereinander, die in diesem Fall gleich der Erblichkeit ist. Mit anderen Worten: Da niemand seinem eineiigen Geschwister ähnlicher sein kann, als er sich selber ist, kann die Erblichkeit nicht höher sein als der Prozentanteil der Varianz, die der Meßfehler übrig läßt — also je nach Test etwa 80 Prozent. Im übrigen aber ist der Meßfehler eindeutig eine nichtgenetische Quelle von Varianz. Anders gesagt: ein beträchtlicher Teil der nichtgenetischen oder Umweltvarianz — nämlich rund 20 von den rund 50 Prozent — geht bereits auf das Konto des Meßfehlers.

Drittens sind manche der wirksamen Umwelteinflüsse so geartet, daß man sie eher biologisch denn sozial nennen möchte: hormonelle Einwirkungen im Mutterleib, Komplikationen bei der Geburt, später vor allem Infektionskrankheiten und Unfälle. Erziehungsmaßnahmen werden an ihnen wenig ändern.

Viertens schließlich ist man in den letzten Jahren in Minneapolis und anderswo einem höchst eigenartigen Sachverhalt auf die Spur gekommen, der über den Haufen wirft, was nicht nur die Öffentlichkeit, sondern was auch die Psychologie immer für selbstverständlich gehalten hat.37

Wenn wir an Umweltfaktoren denken, dann denken wir zuallererst ganz automatisch an die scheinbar »großen« Einflüsse, denen man in den prägenden Jahren des Lebens ausgesetzt ist: die sozioökonomische Stellung der Familie, aus der man kommt, den Bildungsgrad der Eltern, die eigene Schulbildung. Besteht jemand eine wichtige Aufnahmeprüfung nicht, so sind wir schnell bei der Hand mit Erklärungen wie: Er kommt aber auch aus sehr armen Verhältnissen; er hatte zu Hause auch nie geistige Anregung; er hat aber auch eine miserable Schule besucht. In der Tat trägt alles dies sehr wohl auch zu den Unterschieden zwischen den Menschen bei — aber bei vielen Merkmalen offenbar viel geringfügiger, als die Psychologen sich träumen ließen.

Am klarsten zeigt sich das in Adoptionsstudien. Wenn zusammen aufwachsende, nicht blutsverwandte Geschwister bei irgendeinem Merkmal nur schwach miteinander korrelieren, so kann das nur bedeuten, daß die auf sie etwa im gleichen Sinne und im gleichen Maß einwirkenden Faktoren wie der Bildungsgrad der Mutter oder die finanzielle Situation der Familie oder die zusammen besuchten Schulen sie einander nicht viel ähnlicher gemacht haben. Tatsächlich liegt die Korrelation zwischen leiblichen Kindern und ihren adoptierten Geschwistern beim IQ nur bei 0,294, bei Charaktermerkmalen wie der Extraversion gar nur bei 0,0741. (Totale Übereinstimmung ergäbe den Wert 1, keinerlei Beziehung 0.) Das heißt, sie sind sich in ihrer »theoretischen« Intelligenz mäßig ähnlich, in ihrem Charakter aber nicht viel ähnlicher als zwei zufällig herausgegriffene Fremde. Die Einflüsse, die einen wesentlicheren Beitrag zur Umweltvarianz leisten, müssen anderer Art sein — nämlich solche, die Familienmitglieder nicht gemein haben und sie letztlich untereinander unähnlich machen.

Aber welche kämen da überhaupt in Frage? Ein Kandidat wäre die Position in der Geburtenfolge: Erstgeborene Kinder etwa könnten unter Bedingungen aufwachsen, die sich systematisch von denen ihrer später geborenen Geschwister unterscheiden und sie ihnen unähnlich machen. Trotz aller Suche aber haben sich kaum Effekte dieser Art gezeigt.7 

Dann könnte es an der unterschiedlichen Behandlung liegen, die Eltern ihren einzelnen Kindern angedeihen lassen. Oder daran, daß sich Geschwister gegenseitig ein Umfeld bereiten, welches sie in verschiedene Richtung treibt. Aber da sucht man schon nach sehr subtilen, fast geisterhaften Einflüssen, von denen nicht eben zu erwarten ist, daß sie für einen großen Brocken der nichtgenetischen Varianz verantwortlich sind.

Die Psychologen und mit ihnen die Allgemeinheit werden jedenfalls weitgehend umdenken müssen. Die »großen« Einflüsse, denen man im Laufe des Lebens ausgesetzt ist und die vermeintlich den Menschen prägen, sind gar nicht die entscheidenden. Entscheidend sein muß vielmehr die ganz persönliche Art, sie aufzunehmen oder abzuweisen; entscheidend müssen die glücklichen oder unglücklichen »Zufälle« sein, die sich im Leben ereignen.

Noch hat die Psychologie die Botschaft gar nicht richtig empfangen, und wo sie sie empfangen hat, herrscht Verlegenheit. Wenn nämlich die großen, auf die Familienmitglieder gleichmäßig einwirkenden Einflüsse nicht diejenigen sind, die schließlich die Unterschiede zwischen den Menschen hervorbringen; und wenn sich in der Familie keine mächtigen Faktoren auffinden lassen, die Familienmitglieder regelmäßig einander unähnlich machen — dann bleiben wohl nur zwei Möglichkeiten.

Einmal könnte sich die Theorie der Psychologin und Adoptionsforscherin Sandra Scarr bewahrheiten. Sie besagt, daß sich ein Kind seine Umwelt in hohem Maße selber schafft.41 Ein Kind, das gerne Geschichten hört, dem wird die Mutter wahrscheinlich welche erzählen; wenn es viele Geschichten gehört hat, wird es später gerne Geschichten lesen; wenn es gerne Bücher liest, wird es eines Tages in Bibliotheken ein- und ausgehen. Hat es dagegen die Erzählungen der Mutter mit Langeweile quittiert, so nimmt sein Leben möglicherweise einen ganz anderen Lauf, und es wird nie eine Bibliothek von innen sehen. Das aber hieße nichts anderes, als daß auch dieser Teil der Umweltvarianz letztlich genetischen Ursprungs ist. Hinter dem scheinbaren Umwelteinfluß, dem bildenden Charakter einer Bibliothek zum Beispiel, stünde eine genetische Eigenheit: eine Lust an Geschriebenem, und es wäre der Genotyp, der sich die ihm gemäße Umwelt gesucht oder selber eingerichtet hat.

Die andere Möglichkeit ist noch weniger geheuer. Vielleicht ist die Suche nach den Einflüssen, die Familienmitglieder unähnlich machen, darum bisher so ergebnislos geblieben, weil es keine oder nur geringe systematische Einflüsse dieser Art gibt. Vielleicht ist es der pure Zufall, der unser Lebensschicksal weitgehend bestimmt und es von anderen Schicksalen abhebt. Mir scheint es plausibel. Jeder hat viele Potentiale, nutzt aber nur wenige davon je aus. Der eine sitzt in der Schule zufällig neben einem bewunderten Torschützen, versucht es ihm nachzutun und wird dank mehrerer weiterer Zufälle zu einem Tennis-As; sein Bruder stolpert zufällig über einen Stein, zerrt sich den Meniskus, hat fortan keine Freude mehr am Sport, verlegt sich lieber auf die Mathematik und wird aufgrund einiger weiterer Zufälle schließlich Informatiker. Denn welche Teile seiner mehrfachen Begabung einer entwickelt oder vernachlässigt, ist ihm sicher von seinen Genen wie von den Familienverhältnissen, denen er entstammt, nur in geringem Maß vorgezeichnet. Sonst wäre vielleicht auch er Sportler geworden. Sein Beruf, sein ganzer mit diesem zusammenhängender Habitus sind letztlich nur auf jenen Stein zurückzuführen, über den er als Kind fiel. Und dann kommen die Wissenschaftler und wollen wissen, welche systematischen Einflüsse es waren, die zwei Brüder so verschieden gemacht haben! Stolpersteine werden sie unter ihnen nicht suchen und nicht finden.

 

 

Irritierender als die soliden wissenschaftlichen Befunde des Minnesota-Projekts, die wohl manche Erkenntnis erhärtet, aber nichts sensationell Neues an den Tag gebracht haben, waren und bleiben jene unheimlichen Koinzidenzen zwischen den Zwillingen, die sich erst als Erwachsene kennengelernt haben: die Gummibänder überm Handgelenk, das mutwillige Niesen im Fahrstuhl, die zerdrückten Bierdosen, die Namen der Söhne, die weißen Bänke um den Baum auf dem Rasen ...

Etwa Dorothy und Bridget, zwei englische Zwillinge. 1945 geboren und einige Wochen nach der Geburt getrennt, wußte keine von ihnen, daß sie eine Schwester hatte. 1979 begegneten sie sich zum ersten Mal und flogen bald darauf nach Minneapolis. Da stellte sich dann unter anderem heraus, daß sie als Mädchen Tagebücher der gleichen Farbe geführt und mehr oder weniger die gleichen Tage ausgelassen hatten. Jetzt hatten beide je einen Sohn und eine Tochter; die Söhne hießen Richard Andrew und Andrew Richard, die Töchter Catherine Louise und Karen Louise. Sie hatten auch jede eine Katze, und beide hießen Tiger. Beide lasen gern historische Romane, Dorothy von Catherine Cookson, Bridget von Caroline Marchant; beides sind Pseudonyme der nämlichen Autorin. Beide reagierten auf Stress mit Herzklopfen, Übelkeit und Atemlosigkeit. Beide hatten die gleiche Waschmaschine, sammelten Stofftiere, kleideten sich gleich, benutzten das gleiche Parfum, und als sie in Minneapolis eintrafen, trug jede von ihnen an einem Handgelenk zwei Armreifen, am anderen einen Armreifen und eine Uhr, und an den Fingern hatten sie sieben Ringe.54 Sie versicherten, daß sie sich nicht abgesprochen hätten — es sei Zufall gewesen. Tom Bouchard, der Leiter des Minnesota-Projekts, fand, solche »Zufälle« gingen zu weit. »Die bringen uns in teuflische Schwierigkeiten. Das glaubt uns einfach niemand. Eher hält man unsere ganze Studie für Bluff.«

So irritierend sind derlei Koinzidenzen, weil es schlechterdings keine vernünftige Erklärung für sie gibt. Gene machen keine Vorlieben und Steckenpferde; sie machen einzig und allein Proteine, alle die Proteine aller Körperzellen vom Augenblick der Empfängnis bis zum Tod. Unter den Zellen, die sie aufbauen und deren Struktur und Tätigkeit sie unterhalten, sind auch jene des Gehirns; diese erst sind das materielle Substrat unseres psychischen und geistigen Lebens und Erlebens. Es ist den Genen um viele Schritte entrückt; unwahrscheinlich, daß diese mehr festlegen als generelle Prinzipien, daß sie bis in seine letzten Einzelheiten hineinregieren.

Das Genom wäre überfordert, wenn es Anweisungen für alle Eventualitäten des menschlichen Lebens bereithalten sollte. Mehr noch: es ergäbe dies biologisch auch keinerlei Sinn, da die meisten Eventualitäten nie eintreten und eine starre Vorprogrammierung höchst unpraktisch und völlig maladaptiv wäre. Mit dem Menschen hat die Evolution ein extrem lern-, denk- und entscheidungsfähiges Wesen hervorgebracht, eines, das die meisten Situationen selber prüfen und beurteilen und sich entsprechend flexibel verhalten kann. Die ganze Mühe und die blinde Klugheit der Natur wäre für die Katz gewesen, wenn die Gene das menschliche Leben bis in alle Einzelheiten zu regeln hätten.

Außerdem ist es natürlich einfach unmöglich. Damit ein Gen mutiert und die Mutation sich bewährt und in der Bevölkerung ausbreitet, müssen viele Generationen ins Land gehen. Der Gang der genetischen Evolution ist ein sehr langsamer, im Tempo von der kulturellen Evolution längst überholt. Selbst wenn das Genom, das wahrhaftig für Lebenswichtigeres vorzusorgen hat, sich trotzdem noch um derlei Bagatellen kümmern könnte, kann es gar kein Gen für eine Vorliebe für die Wahl von »Budweiser«-Bier oder einer Waschmaschine geben, einfach weil diese noch nicht lange genug existieren.

Aber kann es einfach Zufall sein?

Was ist überhaupt Zufall? »Wir haben uns zufällig auf der Straße getroffen.« — »Er hat zufällig einen Stadtplan bei sich.« — »Sie hat zufällig am gleichen Tag Geburtstag wie ich.« In keinem Fall heißt »Zufall«, daß ein Ereignis sozusagen außerhalb der Kausalität eingetreten ist, durch ein Wunder. Auch die Münze, die man wirft, fällt nicht in diesem Sinne »zufällig« auf Zahl oder Bild; sie fällt, wie sie fällt, weil sie auf eine bestimmte Weise geworfen wurde und weil beim Fall bestimmte Kräfte auf sie einwirken — nur daß es aussichtslos ist, diese Kräfte übersehen und beherrschen zu wollen.

Das Zufällige am Fall der Münze ist also erstens, daß wir das Ergebnis nicht planen, nicht herbeiführen, nicht beeinflussen können; daß er überhaupt keinen planenden Agenten hat. Wenn jemand da ist, der die Münze manipuliert oder die Karten zinkt, setzt er den Zufall außer Kraft.

Zweitens müssen wir uns von ihrem Fall immer wieder überraschen lassen. Eine andere Eigenschaft des zufälligen Ereignisses ist also seine Unvorhersehbarkeit. Wer das elektronische Gewinnprogramm eines Glückspielautomaten knackt, den überrascht dieser nicht mehr, und er gewinnt nicht mehr »zufällig«, obwohl der Automat sein Programm unverändert herunterhaspelt. Die Unvorhersehbarkeit hängt vom Beobachter ab. Wissenschaftliche Erkenntnis reduziert sie; was im Alltag wie »reiner Zufall« wirkt, ist es für den zuständigen Wissenschaftler oft gar nicht mehr.

Damit uns ein Ereignis überrascht, muß ihm eine gewisse Unwahrscheinlichkeit eigen sein. »Am Postschalter gibt es zufällig Briefmarken« ist ein Satz, den keiner sagen würde (es sei denn, er wollte ironisch auf die Tatsache aufmerksam machen, daß die Post ihre »gelben Dienste« vernachlässigt). Briefmarken sind das mindeste, was man an einem Postschalter erwartet; es ist sehr wahrscheinlich, daß man auch welche bekommen wird. »Am Postschalter konnte ich zufällig nicht nur Briefmarken kaufen, sondern auch gleich das Geld ins Ausland überweisen« ist dagegen schon eher ein Satz, der vorkommen könnte, denn er konstatierte ein weniger wahrscheinliches Zusammentreffen.

Damit haben wir eine ganz brauchbare Definition dessen, was die Alltagssprache mit dem Begriff Zufall meint. Ein zufälliges Ereignis ist eines, das wir nicht absichtsvoll herbeiführen können, das sich mit den uns je zur Verfügung stehenden Mitteln nicht voraussagen läßt und das ausreichend unwahrscheinlich ist.

Aber nun geschieht etwas Interessantes. Damit es uns als Zufall erscheint, darf ein Ereignis nicht gar zu unwahrscheinlich wirken. Einerseits ist es kaum ein Zufall und schon gar kein »großer Zufall«, wenn man wettet, daß beim Wurf der Münze die Zahl oben liegen wird, und sie liegt dann tatsächlich oben. Es gibt ja nur die beiden Möglichkeiten, und jede hat die gleiche Chance einzutreten. Die Wahrscheinlichkeit, daß das Geldstück so fällt wie gewettet, ist also eins zu eins. Das sind stattliche 50 Prozent (0,5 in anderer Schreibweise): Bei 50 Prozent aller Würfe wird sie im Schnitt so fallen. Andererseits scheint aber auch ein Satz wie »Er hat zufällig das Große Los gezogen« nicht eben sinnvoll. Natürlich, würde man antworten, kein Mensch hat den Treffer absichtlich herbeigeführt und vorhergesehen — aber nur in diesem Sinn war er Zufall. Ist ein Ereignis dermaßen unwahrscheinlich, daß wir sein Eintreten für so gut wie ausgeschlossen halten, und tritt es dennoch ein, so ist unsere Reaktion: Das kann doch kein Zufall sein! Womit wir meinen, daß es wohl irgendeinen Sachverhalt geben müsse, der seine Unwahrscheinlichkeit verringert, der uns aber unbekannt ist. Wenn wir demselben Fremden morgens im Bus, mittags im Restaurant, nachmittags in der Drogerie und abends vor unserer Haustür begegnen, »kann das doch kein Zufall sein« — vielleicht ist er uns heimlich gefolgt?

Zur Grundausstattung unseres Geistes gehört eine Instanz, die in einem fort Wahrscheinlichkeiten berechnet. Ohne sie wären wir realitätsuntüchtig. Wenn wir auf den Lichtschalter drücken, und wider Erwarten wird es nicht hell, bilden wir uns auf der Stelle Hypothesen, etwa in der Reihe der Wahrscheinlichkeit: Glühbirne defekt, Sicherung durchgebrannt, Stromausfall durch Sturmschäden ... und so weiter. Wer zuallererst annähme, er sei plötzlich erblindet oder Kernkraftgegner hätten die Elektrizitätswerke in die Luft gesprengt, wäre unzurechnungsfähig. Prinzipiell möglich wäre zwar beides. Aber es wäre so unwahrscheinlich, daß ein gesunder Verstand es erst dann in Erwägung ziehen wird, wenn alle wahrscheinlicheren Hypothesen ausgeschieden sind.

Dieser sozusagen intuitive Sinn für die Wahrscheinlichkeiten der Ereignisse ist täuschbar, funktioniert in der Regel aber ganz zuverlässig. Täuschbar ist er vor allem darum, weil wir große Zahlen nicht wirklich erfassen können. Ob bei einer Demonstration zehn- oder hunderttausend Menschen zusammenkamen, kann niemand aus dem Stegreif sagen. Und wer eine der beiden Zahlen später in der Zeitung liest, dem sagen sie nur, daß es eine große Menge war. Ob in einer Bibliothek hunderttausend oder eine Million Bücher stehen, ist für uns kein großer Unterschied — beide Zahlen bedeuten uns nur soviel wie »sehr viele«. Von dieser unserer Unfähigkeit profitieren zum Beispiel die Lotterien. Wer sich wirklich klarmachte, wie unwahrscheinlich es ist, im Lotto sechs Richtige zu tippen, würde sich wahrscheinlich die Mühe und Geldausgabe sparen. Aber selbst wenn wir die Unwahrscheinlichkeit genau zu beziffern wissen, entnähmen wir der Zahl nur, daß wir mit dem Treffer zwar nicht direkt rechnen können, daß er aber auch nicht völlig ausgeschlossen ist.

Dieser Wahrscheinlichkeitssinn sagt uns, daß nichts Besonderes dabei ist, wenn der Nebenmann am linken Handgelenk auch eine Armbanduhr trägt, die die gleiche Zeit zeigt wie die eigene. Nehmen wir an, jeder Zweite trägt dort eine Uhr, und jede dieser Uhren zeigt die gleiche Zeit: Dann ist die Wahrscheinlichkeit einer solchen Koinzidenz 50 Prozent, und in jedem zweiten Fall stießen wir auf sie. Nun aber trägt einer seine Armbanduhr am »falschen« Handgelenk, dem rechten. Die Wahrscheinlichkeit, daß auch sein Nebenmann sie dort trägt, ist viel geringer. Wenn jeder Zwanzigste sie dort tragen sollte, betrüge sie genau 0,5 mal 0,05, also 0,025, und nur noch in einem von vierzig Fällen wird man auf diese Koinzidenz stoßen. Die Wahrscheinlichkeit sinkt weiter, wenn ein drittes seltenes Merkmal dazukommt. Angenommen, einer hätte versäumt, seine Armbanduhr am rechten Handgelenk auf die Sommerzeit umzustellen, und jede hundertste Armbanduhr ginge wie seine ebenfalls eine Stunde nach. Die Wahrscheinlichkeit, daß der Nebenmann eine Uhr am rechten Handgelenk hat, die fälschlich Winterzeit zeigt, wäre nun 0,5 mal 0,05 mal 0,01 — das sind 0,00025, und nur noch einmal in viertausend Fällen wird sich die gleiche Übereinstimmung ergeben. Wo verschiedene seltene Merkmale zusammenkommen, multiplizieren sich deren Wahrscheinlichkeiten (oder Unwahrscheinlichkeiten) miteinander. Die Wahrscheinlichkeit einer Koinzidenz wird auf diese Weise bald verschwindend gering, so sehr, daß wir, tritt der Fall doch einmal ein, ausrufen möchten: Das kann doch kein Zufall sein!

Und genau diesen Ruf entlocken uns etliche der Koinzidenzen zwischen den getrennten Zwillingen. Vergliche man zwei beliebig herausgegriffene Männer, so wäre es nicht weiter überraschend, wenn man feststellte, daß beide gerne Bier trinken, denn das tun viele. Es ist eine Allerweltskoinzidenz, von der niemand irgendein Aufhebens machte. Stellte man außerdem fest, daß sie die gleiche Marke trinken, so machte das den Fall schon etwas unwahrscheinlicher, aber noch nicht weiter verwunderlich, denn immer noch viele trinken genau diese Marke. Wir sagten: »Sie trinken zufällig das gleiche Bier.« Aber wenn beide dabei nun auch noch den kleinen Finger unter die Dose krümmen und diese hinterher zerdrücken, und wenn sie auch sonst noch Dutzende von Übereinstimmungen aufweisen, dann berechnet unser Wahrscheinlichkeitssinn, daß ein solches Zusammentreffen nahezu ausgeschlossen ist, und möchte protestieren: Das ist bestimmt kein Zufall!

Nun ist es aber eine Sache, vorher eine Liste von Merkmalen festzulegen und dann nachzusehen, ob zwei Menschen in ihnen übereinstimmen, und eine ganz andere, nach irgendwelchen beliebigen Übereinstimmungen zu suchen. Wenn sämtliche Übereinstimmungen in Frage kommen und ihre Liste offen ist, werden auch zwei wildfremde Menschen, die man zusammenbringt, irgendwelche Koinzidenzen entdecken. Vielleicht haben beide zwei ältere Brüder oder hören auf einem Ohr schwer oder sind Sonntagskinder oder haben einen Drehbleistift derselben Firma in der Tasche — einiges in dieser Art wird sich einfach immer finden, es ist das Normale. Diese Tatsache nimmt den verzeichneten Koinzidenzen zwischen den Zwillingen einiges von ihrer Verwunderlichkeit. Aber es beseitigt diese nicht ganz; dazu ist die Zahl der Übereinstimmungen zu groß und gehen diese viel zu weit. Ein paar würden wir als das Normale akzeptieren; ihre Häufung aber nicht. In Minneapolis werden auch die zweieiigen Zwillinge aufgefordert, nach derlei Koinzidenzen in ihrem Leben zu suchen. Sie finden kaum je welche, während sie sich bei den eineiigen Zwillingen in großer Zahl geradezu aufdrängen. Es muß also doch eine besondere Bewandtnis mit ihnen haben, und irgendwie muß sie mit ihrer genetischen Identität zusammenhängen. Aber wie?

Gene für die Wahl der Requisiten des modernen Lebens kann es nicht geben. Also bleibt nur eine Möglichkeit: Die Gene müssen eine psychische Grundstruktur festlegen, die dazu führt, daß unter mehr oder weniger gleichen Lebensumständen oft eine mehr oder minder gleiche Wahl getroffen wird. Etwas Ererbtes in uns muß uns zum Beispiel sagen, ob und wie wir unseren Körper schmücken sollen; und wenn zwei Menschen in dieser Vorentscheidung »eines Sinnes« sind, werden sie auch in manchen ihrer Konsequenzen übereinstimmen — vorausgesetzt, es stehen ihnen die gleichen Mittel zur Verfügung. Man kann sich ja auch ganz gut vorstellen, daß jemand, der gerne ein kühles Bier trinkt, in einem anderen Kulturkreis, wo Bier nicht zur Verfügung steht, ein anderes Lieblingsgetränk hätte; und diese Vorliebe führte wahrscheinlich auch seinen Zwilling dort zu dem gleichen Getränk.

Was man postulieren muß, ist also eine von den Genen eingerichtete psychische Grundstruktur. Nur weiß leider kein Mensch, wie diese Grundstruktur aussieht und wie man auch nur nach ihr forschen könnte. Wäre zum Beispiel der Komplex »Körperschmuck« Teil dieser Grundstruktur? Oder ist er seinerseits nur ein beiläufiges Nebenprodukt eines ganz anderen Wesenszugs, und allein dieser wäre genetisch vermittelt — also etwa die Freude am eigenen Körper? Und wenn jene Grundstruktur doch ein Kapitel »Schmuck« enthalten sollte — wie detailliert ist es dann? Sagt es nur »schmücken: ja« oder »schmücken: nein«, oder enthält es Vorschläge zu der Art des angemessenen Schmucks? Und welche Wechselwirkungen bestehen mit anderen Punkten jener hypothetischen Grundstruktur? Über alles dies haben wir bisher so gut wie kein objektives Wissen.

Mir selber scheint auffällig, daß viele jener wundersamen Koinzidenzen auf dem Gebiet der im weiteren Sinne ästhetischen Vorlieben angesiedelt sind: Sie reflektieren Vorlieben zu ganz bestimmten sinnlichen Qualitäten.

Schwer zu sagen, warum jemand ein bestimmtes Bier trinkt; vielleicht liegt es an seinem Geschmack, vielleicht an den Farben des Etiketts, vielleicht an den Assoziationen, die sein Name oder dessen Schriftzug weckt, vielleicht aber auch an dem sozialen Ambiente, in dem man es kennengelernt hat oder das die Werbung evoziert ... Viele Gründe kommen in Frage, manche von ihnen werden zusammenwirken, und sehr wahrscheinlich sind die wahren auch dem Käufer selber undurchschaubar. Aber jedenfalls haben alle damit zu tun, wie einer einen Geschmack, eine Farbe, eine Form bewertet. Ich denke mir also, daß jeder Mensch außer den Wesenszügen, welche die Psychometrie mit soviel List und Raffinement erfaßt, auch ein unverwechselbares ästhetisches »Profil« besitzt: eine charakteristische Art, bestimmte Sinnesreize zu suchen oder zu scheuen oder zu verbinden; auch eine Art, bestimmte Komplexitätsgrade dieser ästhetischen Wahrnehmungen vorzuziehen oder abzulehnen. Ich nehme weiter an, daß dieses Profil eine nicht zu niedrige Erblichkeit besitzt. Und ich glaube schließlich, daß viele jener verblüffenden, jener geradezu unglaublichen Koinzidenzen eine ganz natürliche Erklärung fänden, wenn man jenes Profil ermitteln und seine Erblichkeit bestimmen könnte. »Natürlich«, würde man dann vielleicht sagen, »jemand mit diesen Werten in den Skalen Drei und Sieben und Fünfzehn und dem Superfaktor B: der muß, wenn er dergleichen in seinem Kulturkreis vorfindet, einfach Cranberrysaft trinken und historische Romane lesen und sich eine getigerte Katze halten!« Dann wäre die Koinzidenz nicht mehr das spukhafte Wunder, als das sie uns erscheint, sondern nur noch ein Zufall, nämlich ein unvorhergesehenes und nicht absichtsvoll herbeigeführtes, aber durchaus im Rahmen des Möglichen liegendes Ereignis, oder vielleicht sogar nicht einmal mehr ein Zufall, sondern nur noch eine logische Folge.

Ich denke, ich nehme an, ich glaube ... Es sind alles dies natürlich nur Spekulationen. Hier kommt wohl auf die Psychologen noch viel Arbeit zu.

 

Nachschrift. Mit unzuträglichen Verhältnissen soll man sich nicht abfinden, punktum. Erwägungen über die relative Macht der Gene und der Umwelt braucht es dazu nicht. Aber wer die Menschen in nennenswertem Umfang verändern, wer bestehende Unterschiede zwischen ihnen einebnen — oder verstärken — will, kann nicht darauf hoffen, daß die Manipulation einer Umweltvariablen, die bisher erweislich immer nur wenig zur Variabilität beigetragen hat, große Veränderungen bewirken wird. Und er darf nicht so tun, als wären die Umweltfaktoren allein auf weiter Flur, als stünde ihnen nicht immer schon ein mächtiger anderer Faktor gegenüber: das, was in unserem Genom beschlossen ist.

Die Verhaltensgenetik hat eine bei Anhängern der Milieutheorie verbreitete Meinung als Illusion entlarvt: die Meinung, eine gleiche Erziehung bringe gleiche Menschen hervor. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn die Umweltfaktoren egalisiert werden, wird nichtgenetische Varianz beseitigt. War die groß, so wären die Menschen danach in der Summe gleicher; aber ihre unterschiedliche genetische Ausstattung hielte auf jeden Fall weiterhin Unterschiede aufrecht, und alle verbleibende Varianz wäre genetischen Ursprungs; die Erblichkeit würde also nicht sinken, sondern steigen. Eine völlig egalitäre Erziehung brächte die genetische Verschiedenheit der Menschen nur noch deutlicher zum Ausdruck. Wer sie gleicher machen wollte, müßte sie im Gegenteil verschieden erziehen — die Begabung des Begabten dämpfend, die Unbegabung des Unbegabten vermindernd; er müßte durch individuell angepaßte Maßnahmen der Macht des genetischen Faktors entgegenwirken. Glücklicherweise hat die Utopie einer Egalisierung und Homogenisierung der Menschen (nicht zu verwechseln mit ihrer staatsbürgerlichen Gleichstellung) in der letzten Zeit wieder an Attraktivität verloren. Langsam beginnt man unsere Verschiedenheit als etwas Kostbares zu verstehen, dessen Ausmerzung kein Ziel sein kann. Die Menschen durch Manipulation ihrer Umwelt zu Clones zu machen, erforderte eine rabiate Diktatur und wäre doch zum Scheitern verurteilt. Aber wer will noch den Ameisenstaat?

Kein Untersuchungs-Design kann alle Fragen auf einmal klären, und keine Studie ist ohne Schönheitsfehler. Das gilt besonders für ein Gebiet wie die menschliche Verhaltensgenetik, wo es wenig direkt zu messen und zu zählen gibt und dafür zahlreiche Konstrukte und Inferenzen im Spiel sind. Aber im gleichen Maß, in dem die verhaltensgenetischen Befunde sicherer werden und das Korpus einschlägiger Untersuchungen wächst, wird es Anhängern des Kulturdeterminismus schwerer, das alles als optische Täuschung oder gar reaktionäre Machenschaft abzutun. Wer die Materie auch nur ein wenig kennt, dem wird heute nicht mehr einfallen, was noch vor zehn, zwanzig Jahren gang und gäbe war: zu erklären, daß alle bisherigen Untersuchungen einfach nichts getaugt haben und daß man die Sache nur einmal richtig angehen müßte, um zu den wünschenswerten entgegengesetzten Schlüssen zu gelangen; und daß jemand, der diesen Untersuchungen Glauben schenke, nur ein Faschist sein könne. Angesichts der großen Übereinstimmungen zwischen so vielen verschiedenen und aus verschiedenem Blickwinkel unternommenen Untersuchungen ist die Aussicht, irgendwo könnten vielleicht doch noch ganz andere Ergebnisse zutage gefördert werden, inzwischen minimal. Wer auf sie baut, baut auf Sand. An fast jeder einzelnen Studie gibt es etwas auszusetzen; aber daß sie alle zusammen in die gleiche Richtung weisen, gibt ihnen ziemliches Gewicht.

Kulturdeterministen nehmen darum heute oft die Front zurück und verteidigen eine rein moralische Rückzugslinie. Das mag ja alles mehr oder weniger zutreffen, geht dann das Argument; aber man bedenke doch bitte die Konsequenzen! Die Macht der genetischen Ausstattung zu betonen, das sei schließlich nichts anderes als eine Einladung zum Fatalismus, geradezu ein Aufruf dazu. Er besage: Ihr könnt ja doch nichts ändern, also bleibt, wie ihr seid, laßt alles, wie es ist. Er raube den Menschen die Hoffnung. Er sei darum politisch verhängnisvoll und verwerflich. Am besten wäre es, man beließe die Frage gnädig im Dunkel. Aber wenn man seine Forscherneugier schon nicht zügeln könne, dann rede man wenigstens nicht so laut von ihren Ergebnissen.

Ich kann mich mit derlei Räsonnements überhaupt nicht anfreunden. Ich bin nämlich überzeugt, daß es sich immer rächt, irgendeine Wahrheit unter den Teppich zu kehren. Nicht nur, weil Wahrheiten die Eigenschaft haben, zurückzukehren. Sondern weil es so vieler mühsamer Verrenkungen bedarf und so viele Enttäuschungen mit sich bringt, an einer Wahrheit vorbeizuleben. Ich glaube, ein realistisches Menschenbild ist letztlich auch das menschenfreundlichere, weil es von den Menschen nicht verlangt, was sie nicht geben können.

Die Botschaft der Verhaltensgenetik lautet auch keineswegs, daß wir nichts Besseres tun könnten, als uns mit allem abzufinden, da wir am Ende doch nichts ändern werden. Sie lautet nur: Unseren Veränderungen sind Grenzen gesetzt, die bei dem einen Merkmal enger, bei dem anderen weiter gesteckt sind; wem ganz andere Menschen lieber wären, der sollte also besser nicht zuviel erwarten. Nicht zuviel heißt aber nicht: nichts. Und er sollte nicht drauflos reformieren. Er muß zunächst jene Faktoren erkennen, die bei der Formung der Menschen bisher tatsächlich das größte Gewicht hatten. Erst wenn er sie kennt, kann er sehen, ob sie sich manipulieren lassen und welches die Kosten einer solchen Manipulation wären. Vor einiger Zeit versprach in Venezuela ein neuer Kulturminister, durch einige Schulreformen aus seinen Landsleuten ein Volk von Hochintelligenten zu machen. Vielleicht sind die Reformen sinnvoll, vielleicht haben sie keinen Pferdefuß, vielleicht lassen sie sich durchsetzen; aber da sich das Venezuela der Hochintelligenten nie materialisieren wird, werden sie auf ein falsches Versprechen gebaut sein und ihren Urheber über kurz oder lang als Scharlatan dastehen lassen.

Vielleicht wirkt die Kunde von unserer begrenzten Perfektionierbarkeit auf den einen oder anderen deprimierend. Aber gewiß nicht minder deprimierend ist der explizite oder implizite Vorwurf an Eltern und Lehrer und all die übrigen Erziehungsberechtigten, sie hätten eben alles irgendwie anders machen müssen, dann wären die ihnen Anbefohlenen auch zu ganz anderen Menschen geworden; und das besonders dann, wenn jemand wirklich größte Anstrengungen unternommen hat, das Richtige zu tun, und trotzdem nur bescheidenen Erfolg geerntet hat. Eine Erziehung, die auf das Unmögliche aus ist, mag ehrenwert oder sogar heroisch sein. Über kurz oder lang aber wird ihr die Unmöglichkeit bewiesen, und dann hat sie vielleicht das Mögliche versäumt.

Die Wahl ist nicht unbedingt die zwischen müdem Fatalismus und aufgeregter Utopie. Zwischen ihnen gibt es ein Drittes.

 

Literaturnachweise

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