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DIE ZEIT/Feuilleton, Nr.15, 6.April 1990, S.68

© 1990 DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer

 

 

Den Völkern Gespött oder Furcht

Persönliche Bemerkungen über die Deutschen und das Nationalgefühl

Von Dieter E. Zimmer

 

 

Angenommen, jemand hat sich neulich, als sich die Bundestagsabgeordneten in einer Anwandlung vaterländischer Ergriffenheit erhoben und gemeinsam das Deutschlandlied sangen, vor Peinlichkeit gewunden; und seit jenen Tagen kommt ihm angesichts des schwarz-rot-gold gerahmten Lieb-Vaterland-Hurra-Geschreis der Bild-Zeitung regelmäßig das Würgen. Was ist das für einer?

Nicht wenige unserer Mitbürger wüssten genau, was er ist: „unpatriotisch“, „undeutsch“ –  einen vaterlandslosen Gesellen hätte man so einen früher geschimpft.

Angenommen, jemand fährt dieser Tage durch die DDR und sieht die schwarzrotgoldenen Fahnen auf Kombinaten und Schrebergartenlauben ganz ohne Unwillen und Abscheu, sogar mit einem Anflug von Gerührtheit; findet auch nicht, daß die Demonstranten auf dem Platz vor der Leipziger Oper das Deutschlandlied „gegrölt“ haben und dass das Deutschlandlied überhaupt immer nur „gegrölt" wird, die Internationale dagegen grundsätzlich „angestimmt“. Was ist das für einer?

„Ich wußte gar nicht, daß du so ein übler Nationalist bist“, sagt der Beifahrer prompt, und aus ihm spricht die Stimme eines anderen Teil unseres Volks, anno 1990.

Angenommen schließlich, die beiden seien ein und derselbe: von rechts gesehen ein Unpatriot, von links ein Chauvinist. Was erst ist das dann für einer?

Ich bekenne, daß ich so einer bin. Und ich bin sicher, daß nicht nur jene beiden Situationen heutzutage tausendfach erlebt werden, sondern daß sie auch tausendfach mit den nämlichen eigentümlich gemischten Gefühlen erlebt werden. Wir vaterlandslosen Nationalisten, wir undeutschen Patrioten, wir Zwar-Aber-Deutschen, wir sind jedenfalls nicht wenige.

Um uns zu erklären, will ich von einigen persönlichen Erfahrungen ausgehen und nicht von Ideen und Ideologien.

Wir wurden hineingeboren in den krakeelenden Nazismus, den zu wollen und zu wählen wir zu klein waren; sahen in der Kindheit die Welt bis zu unserem Horizont in Trümmer fallen; kamen zu Bewußtsein, als Woche für Woche neue große Greuel und kleine Schändlichkeiten bekannt wurden, verübt von Deutschen und auf irgendeine verquere Art dem Vaterland zuliebe.

Kinder nehmen die Erwachsenenwelt noch völlig ernst. Alles, was mit den Begriffen Deutschland, Vaterland („... wir kommen schon!“) zusammenhing, war für uns damals von einer heiligmäßigen Lohe umwabert. In unseren ersten Schulheften übten wir stolz die Insignien dieses Vaterlands; begriffen, das Hakenkreuz ist ein germanisches Sonnensymbol, und seinen oberen Haken muß man andersrum machen, nach rechts offen, und die Runen der SS sind keinesfalls zu verwechseln mit dem Lebensgefahr signalisierenden Starkstromblitz. Auch den Briefträger grüßt du mit dem „deutschen Gruß“, und bald flog bei jeder Gelegenheit der rechte Arm zackig nach vorn, so automatisch, daß er es auch nach dem sogenannten Zusammenbruch eine Zeitlang weiter tat. Zum Deutschlandlied stand man auf, auch wenn es nur das etwas langweilige Vorspiel zu dem flotteren „Die Fahne hoch“ war. Die Fahne: in unseren Schulbüchern begegnete sie uns als etwas unsagbar Hehres, das blutrote Tuch, in das die Kameraden unseren hoffentlich gestählten, aber dennoch sterblichen Körper hüllen würden, wenn wir ein paar Jahre älter wären und eine „Kugel“ in den Eingeweiden hätten, verdient durch den tapferen Dienst am Vaterland, für das man beseligt zu „fallen“ hatte. Unsere Ehre sei Treue. Oder hieß es, unsere Treue sei Ehre? Kinder können sich auch viel unbedingter begeistern. Wir begeisterten uns.

Und dann war alles ein großer Schwindel gewesen, eine kollektive Geisteskrankheit, ein beispielloses Verbrechen, eine bodenlose Schande; wurde nicht nur so genannt, war es tatsächlich gewesen. Der Bruch hätte nicht tiefer sein können. Wir vollzogen eine gründliche Dissoziierung von diesem Deutschland.

Alle Vaterländer konnten uns hinfort gestohlen bleiben. Von uns aus hätte es nie wieder eine Fahne geben müssen, wir wären gut ohne jede Hymne ausgekommen. Die Rubrik „Staatsangehörigkeit“ füllten wir ungern aus; lieber hätten wir andere nicht wissen lassen, hätten wir uns selber nicht erinnert, aus welcher Gegend wir kamen. Sie war anderen nicht lieb und uns selber nicht geheuer. Das Wort Deutschland gebrauchten wir möglichst nie; wir sagten „die Bundesrepublik“ oder noch kritischer, wie die DDR, „die BRD“. Und welche Sprache sprechen Sie? Nun, denn, ja, also, wohl „deutsch“.
Der Gipfel der Kränkung war es, wenn der Taxifahrer in New York kein Geld von uns wollte: Er habe doch gleich gemerkt, daß wir aus Deutschland kommen mußten, und er sei ein Fan von Deutschland, weil „ihr nämlich mit den Juden genau das gemacht habt, was man machen muß“.

Mochten die Älteren weiter zum deutschen Sauerbraten in ihr deutsches Sauerland fahren: Wir machten uns, so bald es irgend ging, wenigstens zeitweise davon, stürzten uns kopfüber und mit Haut und Haar in irgendein Vorzugsausland, für das von nun an unser Herz schlug: nahmen an, was uns als die „feine englische Art“ vorkam, kauten mit breit mahlenden Kiefern amerikanischen Gummi, löffelten unter Girlanden von Trikoloren andächtig französische Zwiebelsuppe, setzten uns baskische Mützen auf den Kopf und fuhren in den Ferien nach Ibiza nicht nur, weil es da schöneres Wetter gab, sondern weil dort nicht Deutschland war. Wir waren wahrscheinlich Weltmeister der Anpassung: Kaum irgendwo angekommen, liefen wir herum wie Ortsansässige und gaben uns alle Mühe, den lokalen Slang einwandfrei über die Lippen zu bringen. Es war gar nicht angenehm, Deutscher zu sein, im Ausland nicht verbergen zu können, daß man einer war. Deutschland – das war so ziemlich das Letzte.

Und trotzdem entkamen wir ihm nicht. Es ist leicht, sich als Deutscher in Deutschland quasi staatenlos zu fühlen: Was habe ich schon Deutsches an mir, stehe ich diesem Land nicht vielmehr sehr distanziert gegenüber, bin ich nicht eigentlich Europäer, Weltbürger? Der Kosmopolitismus als Flucht aus dem Deutschtum – sobald man die deutsche Grenze überschritt, merkte man, daß er nur eine Illusion war. Schon der feine Rest von einem Akzent ausgerechnet im Wort German, den fast kein Deutscher ganz los wird, verriet uns unfehlbar. Unsere Anpassungsleistungen, alle Verrenkungen halfen uns gar nichts. Die Ausländer, von denen wir für voll genommen werden wollten, dachten überhaupt nicht daran, uns das Deutschsein zu erlassen; selbstredend war und blieb man für sie ein Deutscher, was denn sonst, und die Skrupel, mit denen man es war, interessierten sie die Bohne. Unsere gestörte Vaterlandsliebe wurde uns nicht vergolten. Und trotz unserer bitteren Distanzierung von der deutschen Geschichte blieben wir für alle Welt wohl über übel deren Erben.

Mit der Zeit mußten wir uns sogar eingestehen, daß es nicht einmal nur der fremde Blick war, der den Deutschen in aus herausholte. Unentrinnbar waren wir das auch für uns selber wirklich: deutsch. Wir sprachen und schrieben und dachten deutsch. Wir brachten es nicht über uns, den amerikanischen Professor mit dem Vornamen anzureden, wir redeten ihn nach deutscher Gewohnheit mit dem Titel an. In unserer spärlichen Gestik erkannten wir befremdet eine typisch deutsche. Auf Rolltreppen überholten wir auf unverkennbar deutsche Art. An den Postschaltern meckerten wir nach deutscher Sitte. Wenn wir eine nebensächliche Frage so systematisch angingen, wie es sich unserer Meinung nach gehörte, und dafür ein lächelndes Kopfschütteln ernteten, fühlten wir uns als Deutsche durchschaut und gerügt.

Und siehe da, nach der hundertsten Pizza schmeckte uns eines Tages auch wieder ein Schmalzbrot mit Harzer Käse. In der Thomaskirche heulten wir heimlich bei der Vorstellung, daß John Back einst genau diese Steine vor Augen gehabt hatte; und daß es sie noch gab und daß uns erlaubt war, sie zu sehen. Und selbst in unserer politischen Geschichte fanden wir Stellen, die uns nicht verwerflich dünkten, Momente, in denen deutsche Staaten die Zuflucht der Verfolgten und Entrechteten waren. Kurzum, wir lernten es, uns als Deutsche zu sehen und trotz allem halbwegs zu akzeptieren. Ausgesucht hatten wir es uns nicht, hätten wir es uns auch nicht, aber wenn es denn nun einmal so war, half es auf Dauer auch nichts, dem davonzulaufen.
 

Alles dies schreibe ich nur auf, um einen einzigen sehr schlichten Gedanken zu begründen, für dessen Formulierung ich nur eine einzige Entschuldigung sehe: daß ich ihn noch nirgends offen ausgesprochen gefunden habe.

Nämlich diesen: Fanatischer Nationalismus und fanatischer Antinationalismus, denke ich, bedingen einander nicht nur in dem Sinne, daß der eine regelmäßig den anderen provoziert; sie sind darüberhinaus die beiden Seiten ein und derselben Medaille: eines gestörten Selbstwertgefühls.

Die Psychologisierung politischer Fragen ist oft nicht angebracht; in diesem Punkt ist sie unvermeidbar. Das, was man in Ermangelung eines besseren, unbelasteten Wortes „Nationalgefühl“ nennen muß, ist nicht mehr und nicht weniger als ein Teil des Selbstbewußtseins. Jeder Mensch hat das Bedürfnis, sich selber zumindest nicht verächtlich zu finden; er wird viel unternehmen, auch viel beschönigen, um kein vernichtend negatives Selbstbild aufkommen zu lassen. Kein Mensch ist aber nur, was er aus sich heraus ist; ganz aus sich heraus wäre er wenig, ein bloßes Potential. Er ist auch, welchen Gruppen er sich zugehörig fühlt. Jeder gehört zu vielen ineinander verschachtelten Gruppen: den Fünfzigjährigen, den Männern, den Eppendorfern, den Hamburgern, den Norddeutschen, den Angestellten, den AOK-Versicherten, den Nichtrauchern, den Dunkelblonden ... Einige dieser Gruppen hat er sich ausgesucht und kann er notfalls verlassen, in anderen ist er lebenslang Zwangsmitglied. Deutsche sind wir allemal. Wer aber einer verachteten Gruppe angehört oder einer, von deren Verächtlichkeit er selber überzeugt ist, wer eine der Gruppen ablehnt, mit denen er von aller Welt identifiziert wird, kann ein gesundes Selbstbewußtsein nicht entwickeln. Er behält eine wunde Stelle, und die führt je nach Intelligenz und Temperament dann zu Nationalgeschrei oder Nationalmasochismus.

Wie ich es verstehe, will das zugegebenermaßen verschwommene und unbeholfene Wort „nationale Identität“ nichts anderes sagen als: Einsicht in das, was man wohl oder übel ist, und eine elementare Zustimmung dazu, die natürlich keine konkrete Kritik ausschließt, sie sogar bedingt.

Unlängst stand in der Zeitschrift Arbeiterkampf zu lesen, „dem rechten Slogan ‚Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein‘“, habe der Linke gerade heute, in einer Zeit des wiederauflebenden Nationalismus, eine andere Devise entgegenzusetzen: „‚Ich schäme mich, ein Deutscher zu sein.‘“ Die Scham als Lebensform persönlicher Wahl in Ehren: dieses Motto mutete dem Volk zu, was es nicht leisten wird, und eine Linke, die es zum Programm erhebt, hat keinerlei Zukunft. Ein ganzes Volk kann und wird nicht im Zustand der Selbstverachtung leben.
Im übrigen bezweifle ich, daß sie für unsere Nachbarn bekömmlicher wäre. Dem zerknirschten, dem chronisch selbstanklägerischen Deutschen schlägt im Ausland nicht weniger Mißtrauen entgegen als dem großsprecherischen und randalierenden Biergermanen. Mit beiden Typen scheint irgend etwas ganz Zentrales nicht in Ordnung zu sein.

Sicher, der Nationalstaat hat ausgedient, der Nationalismus ist historisch überholt, das Denken in übergreifenden Einheiten muß gelernt werden, Europa steht auf dem Programm. Aber wenn die anderen Nationen das nun nicht so sehen? Wir uns als Nichtnation nicht unter lauter anderen Nichtnationen, sondern allein auf weiter Flur finden? Wie uns die tägliche Erfahrung lehrt, läßt sich die Überwindung des Nationalismus mit auch nur der geringsten Aussicht auf Erfolg nur einer Bevölkerung predigen, die in ihren Nationalgefühlen nicht frustriert ist; den Kurden nicht, den Litauern nicht, den Tibetern nicht – und den Französisch-Kanadiern oder Katalanen erst jetzt, nachdem ihre Sprache, ihre kulturelle Eigenart anerkannt und respektiert werden und sich auch in einer gewissen politischen Autonomie ausleben dürfen. Die Transzendierung des Nationalismus kann nur gelingen, wo die eigenständigen Werte und Wege eines Volkes nicht von außen unterdrückt und verworfen werden – und wo es sie auch selbst nicht verwirft. Supranational zu denken und zu fühlen wird erst einer Bevölkerung möglich, die nicht zwangsweise im Zustand des Infranationalismus gehalten wird.

Diese Grundzustimmung fällt Intellektuellen unseres Landes besonders schwer, weil sie voraussetzte, daß sie auch ihren Frieden mit dem konkreten Volk schließen, nicht mit dem Abstraktum „das Volk“, das immer eine bloße Wunschprojektion war; daß sie sich also mit dem gewöhnlichen Deutschen abfinden, dem Freund der Feuerwehrfeste, der Quizshows, der Schnäppchenmärkte, der gehäkelten Klopapiermützen im Heckfenster des Kadett, dessen geistiger Ehrgeiz höchstens bis zum nächsten Kicker gespannt ist. Der Marxismus hat den Bourgeois als Philister, wie etwa Flaubert ihn so vernichtend analysierte, zum Bourgeois als Klassenfeind umstilisiert, in der Zuversicht auch, der gesetzmäßige Sieg über diesen würde dann auch das Spießertum ausrotten. Das Manöver ging nie auf; auch das lupenreinste, das linientreueste Klassenbewußtsein feite nie gegen Spießigkeit. Wenn jetzt mit dem Marxismus auch dessen Begriff des Bourgeois von der Bildfläche verschwindet, so bleibt, in allen Klassen und Schichten, doch das ewige Spießertum. Ein speziell deutsches Phänomen ist es wahrhaftig nicht. In Deutschland aber hat es sich einmal zu einer mörderischen Staatsdoktrin aufschwingen dürfen. Das macht es schwerer, das Spießertum zwar nicht zu lieben, aber ihm zusammen mit anderen menschlichen Schwächen ein Existenzrecht zuzusprechen.

Jenes gesunde Gefühl der Unzerfallenheit, der Einigkeit – der Identität – mit sich selbst, das ich endlich einmal den bisher von einem Extrem ins andere taumelnden Deutschen wünschte, wäre so frei von Zerknirschtheit wie von jeder Überheblichkeit und Aggressivität gegenüber Fremden; gerade an deren Fehlen wäre es zu erkennen.

 

PS. 2006, im Sommer der Fußballweltmeisterschaft, einen Kilometer von der Berliner „Fanmeile“: Ein unbesorgtes, ungebrochenes nationales Identitätsbewusstsein wird Deutschen nie wieder beschieden sein. Gesund wäre auf unabsehbare Zeit nur ein paradoxes: eines, das sich der Gegengründe voll bewusst bleibt, das nicht vergisst, womit Deutschland einmal bewirkt hat, „dass [es] unter den Völkern sitzet / Ein Gespött oder eine Furcht“ (das schrieb Brecht).

 

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