DIE ZEIT/Dossier, Nr.29, 15. Juli 1999, S.15-17 © 1999 DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer Manuskriptfassung Titel des redaktionell stark gekürzten Artikels: "Ein Kind ist schwer zu verderben – Eltern können aufatmen. Es war nicht die autoritäre DDR-Schule, die Rechtsradikale erschuf. Es war nicht der antiautoritäre Kinderladen, der Verwahrlosung gebar. Streitschrift wider den Glauben an die Allmacht der Erziehung"
Die Erziehungsillusion Von Dieter E. Zimmer
ES WAR ein heftiger Wirbelsturm der Gefühle, der in diesem Frühjahr über Ostdeutschland fegte – brodelnde Großdiskussionen, Leserbriefe, Bekenntnisse, Rechtfertigungen in Mengen wie seit Jahren nicht mehr. Der Auslöser war unscheinbar: eine kurze Agenturmeldung über ein Interview, das der Hannoveraner Kriminologe Christian Pfeiffer tags zuvor dem Südwestrundfunk gegeben hatte. Die Gewaltbereitschaft ostdeutscher Jugendlicher, hatte Pfeiffer gesagt, sei vor allem eine Folge der DDR-Erziehung. "Die 'Gruppenerziehung Ost' habe Individualität und Kreativität unterdrückt, der Staat habe die Kinder und heutigen Jugendlichen zu Untertanen erzogen, die vor allem in der Gruppe funktionierten." Pfeiffer verwarf die Standarderklärung, die ausländerfeindliche Gewalt im Osten sei vor allem eine Folge von Arbeits- und Perspektivlosigkeit: Viele der Täter seien weder arbeits- noch perspektivlos. Seine These sollte auch einige zusätzliche Tatsachen erklären: warum Gewalttaten gegen Ausländer in Ostdeutschland etwa viermal so häufig vorkommen wie im Westen und zu 55 Prozent aus der Gruppe heraus begangen werden, im Westen aber nur zu 20 Prozent. Kindererziehung in der DDR sei immer noch ein Tabu, meinte Pfeiffer. Tatsächlich hatte schon 1990 der Hallenser Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz in einer schleunigen Kollektivpsychoanalyse des ganzen DDR-Volks fast wortgleich, wenn auch viel wortreicher das Gleiche gesagt: Die Nötigung zur Anpassung an das Kollektiv, vom Staat angeordnet, in Familien, Kinderkrippen, Kindergärten und Schulen rigoros durchgesetzt, habe die Individualität unterdrückt. Bei Maaz fand sich auch bereits jene konkrete Einzelheit, ohne die keine Emotionen hochkochen: die "Töpfchenthese", ihrerseits ein ferner Niederschlag aus Freuds Theorie der "psychosexuellen" Entwicklung, die der "analen" Phase hohe Bedeutung für die Charakterentwicklung beimisst. Schon Einjährige, so Pfeiffer nun, seien in den Krippen der DDR zu festen Zeiten und gemeinsam auf den Topf gesetzt worden – ein Drill, eine "Vergewaltigung junger Seelen" mit verheerenden Folgen. Maaz' Schnelldiagnose war eine von jenem Schlag, der nie ganz falsch sein kann und alles wie nichts erklärt: "Gefühlsstau", der unter anderem dazu führe, dass die aufgestauten Aggressionen an Ausgegrenzten abreagiert würden. Das Buch gleichen Titels war damals ein Bestseller gewesen. Pfeiffers Provokation bestand allein darin, dass ein Jahrzehnt später ein Westländer das alles noch einmal sagte. Die Diskussion war denn auch eher ein gekränkter Aufschrei denn ein Austausch von Argumenten. Müssen wir uns das von einem Besserwessi sagen lassen? Wo doch auch im Westen nicht alles glänzt, wie wir inzwischen nur zu gut wissen? Gibt es nicht auch dort ausländerfeindliche Ausschreitungen? Ist die berühmte westliche Erziehung zum Individualismus nicht nur eine zum Egoismus? Was ist denn so falsch an einer Erziehung zu Ordnung, Disziplin, Sauberkeit? Ist die Erziehung zum Gruppenzusammenhalt nicht gerade eine zur Verantwortung für die Gemeinschaft? So schlimm war die Erziehung bei uns nicht! Oder: Sie war noch viel schlimmer, aber mir persönlich hat sie jedenfalls nicht geschadet. Waren die abgerichteten Untertanen nicht die Gleichen, die ihre Unterdrücker dann in einer gewaltlosen Revolution abschüttelten? Hatte die repressive Erziehung sie also doch nicht gründlich und irreversibel deformiert? War das gruppenweise "Töpfen" für die Kleinen nicht eher unterhaltsam? Was sollten die Krippenbetreuerinnen denn ohne Pampers anderes machen als die Kinder auf den Topf setzen! "Nun erklären Sie uns ausführlich und in Gottes Namen, warum der Gebrauch von Pampers nicht nur vor nassen Hosen schützt, sondern auch vor kriminellen Karrieren!”, schleuderte die Gerwischer Bürgermeisterin Petra Michalski, CDU-Mitglied, in der Magdeburger Pauluskirche dem Professor aus dem nahen Hannover entgegen, und in ihrem Einwurf artikulierte sich nicht nur der Protest gegen den Besserwessi, der schlechtmachte, worauf man in der DDR stolz gewesen war, die Krippenerziehung, die schließlich den Frauen die Berufstätigkeit ermöglicht hatte. Hier begehrte einmal jemand gegen jenes uferlose Psychologisieren auf, das die Menschen in Ost wie West sonst so geduldig über sich ergehen lassen: Dieses oder jenes unerfreuliche Phänomen komme nur daher, dass ... Asoziales Verhalten zum Beispiel erkläre sich aus der Art der Sauberkeitserziehung im frühesten Kindesalter. So könnte es sein. Aber ist es so? Mit dieser Frage verlässt man den öffentlichen Diskussionsraum, in dem alle Katzen grau und alle Theorien gleich gut sind, weil niemand sie beim Wort nimmt, bloße "Denkanstöße", von denen nur verlangt wird, dass sie irgendwie interessant wirken, "Erklärungsmuster", von denen niemand erwartet, dass sie auch noch richtig sind. Zunächst ist die "Töpfchenthese" aber nicht mehr als eine Spekulation: eine Hypothese in Erwartung ihrer wissenschaftlichen Beglaubigung. Diese kann nicht in dem bloßen Sammeln positiver Beispiele bestehen, die die Hypothese zu bestätigen scheinen. Beweiskräftig wären nur systematische Untersuchungen, die von vornherein so angelegt sind, dass die Hypothese auch widerlegt werden könnte. Für die "Töpfchenthese" gibt es bisher nicht den Schimmer eines solchen Beweises. Also muss sie auch niemand glauben. Psychologeme dieser Art verwickeln sich auch auf der Stelle in eklatante Widersprüche, die Rache der unterlassenen Gegenprobe. Ein anderer Grund für die Fremdenfeindlichkeit Ostdeutschland, so Maaz wie Pfeiffer, sei die Erziehung zum Feinddenken; die Glatzköpfe hätten nur den Klassenfeind gegen den Ausländer ausgetauscht. Aber genauso intensiv war die explizite Erziehung zum Freunddenken ("Völkerfreundschaft") – wieso blieb dann diese jahrzehntelange lückenlose Indoktrination so ganz und gar folgenlos, in der DDR und noch viel auffälliger im ehemaligen Jugoslawien? Und wieso war das Staatsvolk der DDR ganz versessen darauf, die Sender des Feindes zu hören, seine Autos zu fahren, seine Jeans zu tragen? Was der Gegner auch in diesem Ost-West-Streit anno 1999 wieder einte, war der implizite Glaube an die Allmacht von Erziehung. Repressive Erziehung führe zu repressivem Verhalten. Die autoritäre (fremdenfeindliche, gewaltbereite) Persönlichkeit entstehe durch autoritäre Erziehung. Die Macht der Erziehung sei sogar so groß, dass schon das Setzen eines Erziehungsziels zwangsläufig das angestrebte Ergebnis hervorbringe. Heißt das Erziehungsziel etwa Einordnung ins Kollektiv, so ist das Produkt der deformierte Kollektivmensch. Es ist eine unerschütterliche allgemeine Überzeugung, die auch nicht davon angefochten wird, dass kaum jemand sie beim Wort nehmen mag.
Der Westen hatte seine Erziehungsdiskussion schon dreißig Jahre früher. Ihre Wurzel damals war genau die gleiche Frage: Wie müssten die Kinder erzogen werden, damit aus ihnen keine potenziellen Faschisten werden? Es ging vordringlich um den Autoritarismus. Die die turbulenten Jahre von 1965 bis 1975 als junge Erwachsene erlebt haben, wurden geprägt von den Kämpfen und Krämpfen um die sogenannte antiautoritäre Erziehung. Sie war ein großes pädagogisches Experiment, aus dem nicht weniger hervorgehen sollte als ein anderer, der Neue Mensch. Irgendwann ist es sang- und klanglos versickert. Weil es gescheitert war? Oder weil es vielmehr zu einer baren Selbstverständlichkeit wurde, über die es kein Wort mehr zu verlieren gab? So blieb unklar, wie das Experiment eigentlich ausgegangen war. Die theorielastige, ausdrücklich antiautoritäre deutsche Spielart der alternativen Kindererziehung der 1960er und 1970er Jahre lässt sich ihrerseits auf ein hochberühmtes, aber wenig bekanntes sozialpsychologisches Grundlagenwerk zurückführen, das die gleiche Frage schon einmal gestellt hatte. Ein Kreis von Philosophen, Soziologen und Psychologen im kalifornischen Berkeley, vereint im Forschungsprojekt Soziale Diskriminierung um Theodor W. Adorno und Else Frenkel-Brunswik, hatte mitten im Zweiten Weltkrieg begonnen, sich eine in der Tat brennende und noch heute aktuelle Frage zu stellen: Wie entsteht Antisemitismus, wie entstehen überhaupt Vorurteile? Allgemeiner: Wie entsteht Ethnozentrismus? Noch allgemeiner: Was macht den Menschen zu einem manifesten oder potenziellen Faschisten? Die Antwort stand, nach langwierigen Erhebungsarbeiten, 1950 in dem dicken Buch Der autoritäre Charakter. Zunächst verwarf sie die naiven Ansichten: implizit, dass sich der Prä-Faschist lediglich ein paar falsche Meinungen zu Eigen gemacht hätte, die man nur korrigieren müsste; explizit, dass die Menschen ihren momentanen ökonomischen Interessen folgten, wenn sie als Konkurrenten erlebten "Fremden" feindselig begegneten; vielmehr widersprächen die ethnozentrischen Einstellungen oft den eigenen ökonomischen Interessen. Sie säßen tiefer als bloße einzelne Meinungen: Wer irgendeiner Bevölkerungsgruppe feindselig gegenübersteht, sei meist auch für einen starken Staat, für Härte gegen Verbrecher und in der eigenen Familie ein kleiner Tyrann. Autoritarismus sei ein Syndrom. Es gebe den autoritären Charakter. (Das Wort 'Charakter' ist in der heutigen Psychologie verpönt. Stattdessen sagt sie 'Persönlichkeit', und 'Charaktereigenschaften' wie etwa Begabungen heißen 'Persönlichkeitsmerkmale'. Es sind übereifrige wörtliche Übersetzungen aus dem Englischen, wo man eine Persönlichkeit "hat" und nicht wie im Deutschen vor allem "ist". Da das deutsche Charakter genau dasselbe bedeutete wie das englische personality und obendrein verständlicher und handlicher ist, wird es hier entgegen dem Komment weiter benutzt. Die elementaren Gemütseigenschaften, die sich von Geburt an zu zeigen beginnen, ehe von einem 'Charakter' die Rede sein kann, heißen dagegen übereinstimmend 'Temperament'.) Wo aber kommt die authoritarian personality her? Auf keinen Fall, meinten die Verfasser des Autoritären Charakters, sei dieser angeboren. Woher also dann? "Charakter ist das Produkt der sozialen Umwelt der Vergangenheit." Aber Menschen aus sehr ähnlichen sozialen Umwelten haben doch sehr verschiedene Charaktere? Der entscheidende Faktor, der die Charaktere verschieden macht, sei die frühkindliche Erziehung. Wer als Kleinkind von seinen Eltern autoritär (gefühlskalt, rigide, aggressiv) behandelt wurde, entwickele später selber einen autoritären Charakter, der dann nicht mehr belehrbar sei. Er verschiebe die eigentlich den Eltern zugedachten Rachegelüste auf Randgruppen der Gesellschaft. Warum aber sind die Eltern selbst autoritär? Weil sie konformistisch politische und soziale Einstellungen übernommen hätten, die ihren ökonomischen Interessen dienen und die in der Gruppe, der sie angehören, im Schwange sind. (Und vermutlich, weil sie ebenfalls autoritär erzogen worden waren.) Wie wäre diesem sich selbst perpetuierenden autoritären Charakter also beizukommen? Der elterliche Erziehungsstil müsste ein anderer werden: "Im Grunde müssten Kinder nur wirklich geliebt und als Individuen behandelt werden." Wie aber bringt man autoritäre Eltern dazu, ihre Kinder unautoritär zu erziehen? Hm. In der Tat ein Problem. Eigentlich müsste man ganze Bevölkerungen einer Psychoanalyse unterziehen – praktisch ein Ding der Unmöglichkeit, aber vielleicht ließen sich ja noch Verfahren der Massentherapie entwickeln. Sonst bleibe nur, "die sozialen Verhältnisse und Institutionen einschneidend [zu verändern]" – also, leise angedeutet, die politische Revolution als Ausweg. Es war eigentlich eine niederschmetternde Diagnose: Antisemitismus keine politische, sondern eine Charakterfrage! Zumal die Autoren keine Rezepte für eine alsbaldige Abhilfe hatten. Zwar glaubten sie an die Allmacht der Erziehung auch über den Charakter, aber dieser Glaube half ihnen wenig. Alles hing – der Beitrag des Freudianismus – an der frühen Kindheit. Dort wurde der autoritäre Charakter an die nächste Generation weitergegeben, dort musste die Kette unterbrochen werden. Wer aber erzog die Erzieher? Was dann in den 1960er und 1970er Jahren als "antiautoritäre Erziehung" Schlagzeilen machte, wollte ebenfalls mit einer Fusion aus Marx und Freud dem autoritären Charakter den Garaus machen, aber der Ton war schärfer geworden, schneidend. Unmittelbare Paten waren nicht die Autoren des Autoritären Charakters, sondern Herbert Marcuse mit seinen Pamphleten für "eine Kultur ohne Unterdrückung und Verdrängung" und insbesondere der Marxist und abtrünnige Freudianer Wilhelm Reich. Er steuerte vor allem seinen unbändigen Hass auf die Kleinfamilie bei, in der er die Wurzel aller gesellschaftlichen Übel sah. Der milde Ratschlag des Adorno-Kreises, man müsse seine Kinder nur lieben, stand nicht mehr auf der Tagesordnung; er wäre nur noch auf Hohngelächter gestoßen. Sein großes Ziel, den “"potenziellen Faschismus" wenn schon nicht auszurotten, dann doch einzudämmen, schien viel zu kleinmütig. Jetzt ging es nicht mehr um unautoritäre, sondern um antiautoritäre Erziehung. Die Kinder sollten zu Menschen gemacht werden, wie es sie noch nie gab, feind jeglicher Autorität und damit (meinte man) notwendig marxistische Revolutionäre. Wie es 1969 die "Kommune 2" im Kursbuch 17 ausdrückte, das damals einer verunsicherten Intelligenzia zeigen wollte und zeigte, wohin der Kurs zu gehen hätte: "Nur der radikale Bruch mit der überkommenen Dreiecksstruktur der Familie kann zu kollektiven Lebensformen führen, in denen die Individuen fähig werden, neue Bedürfnisse und Fantasie zu entwickeln, deren Ziel die Schaffung des neuen Menschen in einer revolutionierten Gesellschaft ist." Voraussetzung für die wahrhaft sozialistische Revolution war in dieser Sicht die Auflösung der "völlig verrotteten" Familie, der "bedeutsamsten Sozialisationsinstanz des kapitalistischen Herrschaftssystem", die "durch autoritäre und lustfeindliche Erziehung den herrschaftskonformen, passiven bürgerlichen Charakter formt". An die Stelle der Familie sollte das Kollektiv treten. Die Kinder sollten natürlich von den Erwachsenen nicht herrisch bevormundet werden, auch nicht durch gute Worte überredet ("manipuliert"), aber die antiautoritäre Erziehung ging weiter: Die Kinder sollten "Autonomie und Widerstandsfestigkeit gegen die Erwachsenen entwickeln". Entsprechend verbuchte es die Kommune 2 triumphierend als Erfolg, ihren einzigen, dass die beiden Kommunekinder sich zunehmend an ihre Kita-Gruppe hielten und "die aggressiven Regungen gegen ihre Eltern aktiv [auslebten]": "Nessim, der früher keine Aggressionen gegen seinen Vater zu zeigen wagte, äußert heute offen seine negativen Affekte gegen Eike. Er schlägt ihn, will ihn erschießen oder äußert Todeswünsche, indem er ihm versichert: 'Du hast nur noch einen Tag zu leben.' Bei dieser Befreiung ... hat mit Sicherheit die Kindergruppe und die Kommune einen günstigen Einfluss gehabt." In den zum Schießen befreiten Nessims sah man froh die Vorboten künftiger revolutionärer Recken. Das waren die radikalen Kommunarden, die ein Ziel hatten und eine Theorie für den Weg dorthin. Bei den vielen Eltern, die ihre Kinder dann in Kinderläden schickten und nicht darauf bestanden, diese unbedingt als sozialistische Kinderkollektive zu betrachten, so wenig wie diese ihre Aufgabe darin sahen, die Kinder zu den Feinden ihrer Eltern zu machen, kam die Botschaft stark verwässert an. Sie mischte sich mit den Ideen des britischen Pädagogen A.S. Neill, dessen optimistischen Vorstellungen von einer liebevollen, zwangfreien Erziehung, bei der sich die Kinder die für ein Gemeinschaftsleben unerlässliche Disziplin selber beibringen ("Selbstregulierung"), erst in der deutschen Taschenbuchausgabe des Buchs über seine Schule Summerhill das Etikett "antiautoritär" aufgeklebt wurde. Was in Deutschland als antiautoritäre Erziehung Siege errang, bestand vorwiegend aus ein paar Daumenregeln, die Adorno und Neill viel näher waren als Reich und seinen militanten Adepten: Du sollst dein Kind nicht verprügeln! Du sollst dein Kind nicht herumkommandieren! Du sollst deinem Kind nichts verbieten (es sei denn, es geht einfach nicht anders)! Du sollst dein Kind als autonome Person achten! Sei lieb zu deinem Kind! Irgendwie, hoffte man, werde solche "Kuschelpädagogik", wie ihre Verächter sie später nannten, den Kindern eine Menge Kinderunglück ersparen und sie vielleicht irgendwie auch zu besseren Demokraten machen, die nicht vor jeder Amtsperson kuschen. Fortschrittliche Linksliberale erziehen zu fortschrittlichen Linksliberalen, indem sie ein Minimum dessen einsetzen, was ihren Eltern einmal als Inbegriff jeder Erziehung gegolten hatte: Disziplinierung. Nicht wenige mussten erleben, dass ihr Neuer Stil nicht immer aufging – dass ihre Kinder zu den Spießern oder Karrieristen wurden, die sie selber um keinen Preis hatten sein wollen, zu Drogensüchtigen, zu Skinheads und jedenfalls zu etwas unvorhergesehen Eigenem. Auch darum ist das Thema, obwohl seit langem aus den Debatten verschwunden, bis heute von hoher Empfindlichkeit. Eltern, auch die vermeintlich "antiautoritären", lassen sich verständlicherweise ungern sagen, dass in ihrem Erziehungsstil vielleicht ein Wurm war.
Man sollte erwarten, dass sich Sozialwissenschaft, Psychologie und Pädagogik beizeiten auf das spektakuläre Experiment gestürzt hätten, um systematisch zu eruieren, ob und inwieweit es ein Erfolg war. Weit gefehlt. In Deutschland scheint es bei einer einzigen empirischen, wenngleich reichlich von Marx, Freud, Marcuse und Reich überwucherten Studie geblieben zu sein. Franziska Henningsen verglich Anfang der 1970er Jahre elf Kinder aus antiautoritären Kinderläden mit elf Kindern aus konventionellen Kindergärten und kam zu dem Ergebnis, dass die meisten der Kinderladenkinder etwas triebhafter, selbstsicherer, ideenreicher, einige aber überfordert waren. Die methodischen Mängel der Untersuchung waren indessen so eklatant, dass wenig auf sie zu geben war. Nicht nur waren die Unterschiede hauchdünn und elf Probanden etwas wenig, um signifikante Schlüsse zu ziehen. Vor allem hatte Henningsen unterlassen, alternative Erklärungen für ihr Resultat auszuloten; sie hatte nicht einmal nachgeprüft, welchem Erziehungsstil ihre Probanden zu Hause ausgesetzt waren. Ganz anders machten es in Amerika Mark Rothchild und Susan Berns Wolf. In ihrem Land gab es die theoriegeladene deutsche antiautoritäre Erziehung nicht einmal als Wort. Aber es gab zur gleichen Zeit eine starke Gegenkultur, deren Anhänger davon überzeugt waren, dass Kinder zwangfrei aufwachsen sollten. Ihr fühlten sich Rothchild und Wolf zugehörig, und jahrelang reisten sie mit ihren eigenen beiden kleinen Kindern, einem alten VW-Bus und einem Zelt durch diese Gegenkultur, um zu beobachten, was dort aus den Kindern der Protestjahre wurde. Sie fanden einige, die weder mit anderen Menschen noch mit sich selbst zurechtkamen und auf sie einen psychisch kranken Eindruck machten. In einigen Landkommunen dagegen fanden sie ungewöhnlich offene, heitere, selbständige, verantwortungsvolle Kinder, wie sie sie draußen in der Mainstream-Gesellschaft nie angetroffen hatten. Wie wurden diese erzogen? Ohne äußeren Zwang in der Tat. Den Kindern wurden keine Vorschriften gemacht, sie wurden vor keinen Konflikten und Gefahren behütet, sie wurden nie getadelt und auch nie gelobt, sie waren keinen moralisierenden Räsonnements ausgesetzt, niemand sorgte sich um ihre Zukunft. Andererseits übten die Erwachsenen eine unablässige Gefühlskontrolle aus. Jeder achtete darauf, dass sich die Kinder in die Gruppe einordneten und jederzeit square waren: ehrlich, direkt, umgänglich. Die Erwachsenen respektierten die Kinder wie Erwachsene, ließen sich von ihnen aber genauso wenig bieten. Es herrschte also eine ungewöhnliche Mischung aus Freiheit und Disziplin. Den Kindern bekam sie offenbar gut. Allerdings schienen sie völlig auf ihre Kommune angewiesen und waren der Welt draußen wahrscheinlich nicht gewachsen. Rothchild/Wolfs Bericht jedenfalls sprach für die permissive so wenig wie für die autoritäre Erziehung. Er lief auf ein Lob des Dritten Wegs hinaus. Während die Gegenkultur ihre Experimente mit alternativen Formen der Kinderbetreuung machte, begann die amerikanische Psychologie mit der systematischen Erkundung des Zusammenhangs von Erziehungsstil und Charakter. Sie kam schnell zum gleichen Schluss. Eine der ersten Studien, 1967 veröffentlicht, der Hunderte, vielleicht Tausende folgen sollten, war die von Diana Baumrind in Berkeley. Sie gab den Ton an, der in der Sozialisationsforschung bis heute nicht verklungen ist. Baumrind suchte sich drei sehr verschiedene Arten von Kindern und untersuchte dann, ob sie zu Hause verschieden erzogen wurden – insbesondere, wie sich das Familienklima in den beiden Hauptdimensionen jeder Kindererziehung unterschied, "soziale Wärme" (Liebe oder Ablehnung) und "soziale Macht" (Anforderung und Disziplin). Die gefühlskalt, fordernd und kontrollierend, also autoritär erzogenen Kinder, so stellte sie fest, waren relativ unsicher, ungesellig, aggressiv. Den lax (permissiv) und lieblos erzogenen Kindern fehlte es an Selbstbewusstsein und Selbstbeherrschung; permissive und dabei liebevolle Eltern fand Baumrind nicht. Am günstigsten schnitten die Kinder ab, die warm und dabei streng erzogen wurden: Sie und nur sie waren selbstständig, selbstbewusst, gesellig, zufrieden. Damit waren drei grundverschiedene Erziehungsstile definiert: der eine autoritär, der zweite permissiv; der dritte und einzige günstige erhielt das missverständliche Etikett autoritativ. 1983 fügte die Stanforder Psychologin Eleanor Maccoby einen vierten hinzu: weder streng noch lax, weder warm noch kalt, sondern in jeder Hinsicht gleichgültig. Aus den Kindern gleichgültiger Eltern schienen lebensuntüchtige Menschen mit den meisten Verhaltensproblemen zu werden. Dies denn wurde nahezu einhellige Meinung: Alle Erziehungsstile bis auf einen führen zu Problemen der Kinder mit sich selbst und der Umwelt. Nicht autoritär, nicht permissiv, nicht gleichgültig: Der Königsweg scheint seitdem die gleichzeitig warme und strenge, die "autoritative" Erziehung. "In den 1990er genau wie in den 1950er Jahren", schrieb der Sozialisationsforscher Laurence Steinberg, "sind Jugendliche, deren Eltern warm, entschieden und demokratisch sind, besser angepasst und lebenstüchtiger." (Dieses "besser angepasst" hätte ihm 1969 natürlich den Hohn der Antiautoritären eingetragen, die nicht Anpassung, sondern Auflehnung wollten.) Die Mehrheit der Eltern und Pädagogen in den westlichen Industrieländern scheint ohne die Nachhilfe der Wissenschaft, einfach durch den täglichen Umgang mit ihren Kindern zum gleichen Schluss gekommen zu sein: Sei nicht autoritär, aber erlaube deinen Kindern auch nicht alles; behandle sie liebevoll, aber verlange etwas von ihnen und setze ihnen wo nötig Grenzen. Darum wohl ist die antiautoritäre Erziehung heute kein brennendes Thema mehr. Eltern halten den autoritativen Erziehungsstil, der gewiss nicht autoritär ist, aber auch nicht antiautoritär, für das temperierte Vermächtnis ihrer antiautoritären Jugend. Angespornt von den radikal antiautoritären Experimenten, gaben sie nur einem Jahrhunderttrend in den verstädterten westlichen Gesellschaften Nachdruck, der den Akzent in der Kindererziehung immer weiter vom Gehorsam hin zur Selbstständigkeit verschob. Wahrscheinlich hat diese Akzentverschiebung den Kindern eine glücklichere Kindheit beschert, als sie die autoritärer erzogenen Eltern hatten. Auf jeden Fall wurde damals physische Gewalt in der Erziehung zwar leider nicht ausgemerzt, aber geächtet. Es war kein gering zu schätzender Erfolg jener Revolution im Kinderzimmer. Und auf dieser positiven Note könnte man den Fall beschließen. Kann man aber leider nicht. Praktisch scheint die Erziehungsfrage zurzeit geklärt. Theoretisch ist sie es noch lange nicht.
Die Wahrheit ist, dass all die Studien, die dem Zusammenhang zwischen Erziehungsstil und Charakter nachgingen, keineswegs so klare und eindeutige Ergebnisse brachten, wie es zunächst schien. Oft war der Zusammenhang nur schwach, widersprüchlich, partiell oder fehlte ganz. Nicht einmal jene Korrelation, die alle Welt, auch der Kriminologe Pfeiffer, bis heute für eine Selbstverständlichkeit hält, hat sich ohne Abstriche bestätigt: dass es einen Zirkel der Gewalt gebe, der aus Kindern, die von ihren Eltern misshandelt oder grob vernachlässigt wurden, gewalttätige Erwachsene und schlechte Eltern macht. Zwar zeigte sich in Amerika, dass Vernachlässigung und Misshandlung das Risiko späterer Straffälligkeit tatsächlich nicht unerheblich erhöhen, von etwa 17 auf 26 Prozent. Aber diese Zahlen bedeuten auch, dass 74 Prozent jener, die als Kinder vernachlässigt oder misshandelt wurden, später nicht straffällig werden, und dass auch von den nie misshandelten oder vernachlässigten Jugendlichen 17 Prozent straffällig werden. Vernachlässigung und Misshandlung können also weder eine notwendige noch eine ausreichende Vorbedingung für späteres asoziales Verhalten sein. Nur ein Zusammenhang erwies sich als stabil: Eltern, die mit ihrem eigenen Leben gut zurechtkamen, hatten oft Kinder, bei denen es genauso war. Irgendwie hatte sich das Wesen der Eltern den Kindern mitgeteilt. Aber wie bloß? Wer meint, dass die Art der Erziehung den entscheidenden Unterschied ausmacht (und wer meint das nicht?), macht eine stillschweigende Voraussetzung. Er setzt die soziale Transmission der entscheidenden Wesensmerkmale voraus. Uneins ist sich die Sozialisationsforschung nur, wie sich diese vollziehe: durch Lernen (nämlich entweder durch Konditionierung, also "Verstärkung" mittels Belohnung und Strafe im Sinne des Behaviorismus, oder durch "Lernen am Modell" im Sinne von Albert Banduras modernerer Lerntheorie) oder durch Identifizierung mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil (im Sinne der Psychoanalyse). Die Sozialisationsforschung hatte sich strikt verboten, auch nur zu erwägen, dass es neben der sozialen Transmission eine ganz andere geben könnte: die genetische. Dass der Mensch nicht als unbeschriebenes Blatt auf die Welt kommt, sondern mit bestimmten, biologisch vorgegebenen Dispositionen, durfte nicht sein; jede solche Überlegung galt als reaktionär, "biologistisch", wenn nicht gar faschistisch. Also wurde die Möglichkeit gar nicht erst mitgeprüft. Könnte etwas mehrere verschiedene Arten von Ursachen haben, dann hilft jedoch alles Messen und Rechnen nicht, solange man nur eine von ihnen im Blick hat. Dass psychisch stabile Eltern oft psychisch stabile Kinder haben, mag darauf zurückgehen, dass sie ihnen die Ausgeglichenheit anerzogen haben; es kann aber ebenso gut sein, dass die Kinder die Ausgeglichenheit der Eltern geerbt haben; oder Erbe und Erziehung könnten in die gleiche Richtung gewirkt haben. Die Korrelation selbst beweist nicht, dass es an der Erziehung lag. Darum rächt es sich, dass sich diese Wissenschaft auf einem Auge blind gemacht hatte: So gut wie alle ihre heldenhaften Untersuchungen, auch die über den Zusammenhang zwischen Erziehungsstil und Charakter, sind Makulatur – nicht direkt falsch, aber nichtssagend. Eine andere Wissenschaft, die Verhaltensgenetik, ließ sich von dem Tabu nicht einschüchtern und ersann immer ausgeklügeltere Methoden, einem möglichen genetischen Beitrag zu Fähigkeiten und Charaktermerkmalen auf die Spur zu kommen. Sie wurde fündig. Natürlich stößt keine wissenschaftliche Erkenntnis je auf hundertprozentige Zustimmung, und eine ideologisch relevante schon gar nicht; dennoch besteht seit Anfang der 1980er Jahre kaum mehr ein Zweifel daran, dass so gut wie allen Charakterzügen eine Erblichkeit von 40 bis 50 Prozent eigen ist (0,5 in anderer Schreibweise); dem IQ, der messbaren Intelligenz, eine etwas höhere, etwa 0,6. Es ist keine Ketzerei mehr; es muss nicht mehr apologetisch in Watte verpackt werden; die große Mehrheit der Fachwissenschaftler würde nicken; es steht inzwischen in den Lehrbüchern, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Zum Beispiel die "Großen Fünf", nämlich die fünf Charakterdimensionen, die die Psychologie heute misst, wenn sie den Charakter eines Menschen in seinen zentralen Zügen beschreiben will. Die "Extraversion" (grob übersetzt: Geselligkeit) hat eine Erblichkeit von 0,49 Prozent – das heißt, wenn der eine mehr, der andere weniger extravertiert ist, rührt das zu 49 Prozent von Unterschieden in jenen Allelen her, die auf eine bisher dunkle Weise am Ende diese Charakterdimension hervorbringen. Die Erblichkeit von "emotionaler Stabilität" beträgt 0,41, von "Freundschaftlichkeit" 0,39, von "Gewissenhaftigkeit" 0,4, von "intellektueller Offenheit" 0,45. Ein Merkmal, das zufällig schon sehr früh auf eine erbliche Komponente untersucht wurde, ist der Autoritarismus, der heute meist unter dem Namen Traditionalismus läuft und nicht mehr als Charaktermerkmal betrachtet wird, sondern als das, was er ja auch ist – eine "soziale Einstellung". Als eine viele Lebensbezirke durchtränkende Grundhaltung, so zeigte es sich, war der Autoritarismus gut beobachtet, besitzt er Realität. Und er hat eine gewisse Erblichkeit, genau so hoch wie die der anderen Persönlichkeitsmerkmale! Die Entwicklungspsychologin Sandra Scarr, die das 1981 in einer der bahnbrechenden Studien feststellte, machte gleich noch eine andere Entdeckung: dass der Autoritarismus und seine Weitergabe eng an die ebenfalls teilweise erbliche sprachliche Intelligenz gekoppelt ist: Hohe Werte im Autoritarismus (in Frenkel-Brunswiks F-Skala) stand bei Eltern wie Kindern ein niedriger verbaler IQ gegenüber. "Zwar sind den Menschen keine sozialen und politischen Einstellungen angeboren, aber offenbar sind sie mit einem Genotyp ausgerüstet, der im Einklang mit ihrer Familienumwelt bestimmt, ob sie ihre Lebenserfahrungen intellektueller oder grobschlächtiger verarbeiten." Ohne Diplomatie übersetzt: Zwar gibt es auch intelligente fremdenfeindliche Gewalttäter, aber das Gros stammt aus der unterdurchschnittlich intelligenten Hälfte der Bevölkerung – und die Höhe des IQ ist überwiegend genetisch bedingt. Um solche Ergebnisse richtig zu beurteilen, muss man ein paar Dinge verstehen. Der Begriff 'Erblichkeit' ist unglücklich, weil er Anlass zu endlosen Mißverständnissen gibt. Als technischer Begriff der Genetik hat 'Erblichkeit' eine sehr viel engere Bedeutung als im Volksmund. In der Genetik ist Erblichkeit ein statistischer Wert, der besagt, welchen Anteil genetische Ursachen an der Gesamtheit der für ein bestimmtes messbares Merkmal in einer Population ermittelten Unterschiede haben, der so genannten Varianz. Ergibt sich beim IQ eine Erblichkeit von 0,6, so heißt das also keineswegs, dass jemand mit einem Durchschnitts-IQ von 100 Punkten 60 seinen Genen und 40 seiner Umwelt verdankt. Es heißt vielmehr: In einer bestimmten Population erklärt sich die vorhandene Gesamtvarianz zu 60 Prozent daraus, dass jene Gene, die gemeinsam am Zustandekommen der Intelligenz beteiligt sind, in verschiedenen Fassungen (Allelen) vorliegen; zu 40 Prozent dagegen haben die phänotypischen Unterschiede nichtgenetische Ursachen. Wie aus einem Genotyp ein Phänotyp wird, sagt die Erblichkeitsberechnung nicht. Das Genom ist nur eine Blaupause, eine Programmbibliothek für die lebenslange Produktion von Proteinen. Realisieren können sie sich nur im Zusammenspiel mit der Umwelt. Jedes genetisch begründete Merkmal, so könnte man sagen, braucht beides, Genom und Umwelt, zu 100 Prozent. Dass Menschen zwei Hände mit fünf Fingern haben, ist ausschließlich Ergebnis eines genetischen Programms. Es ist für alle das gleiche – also hat dieses Merkmal keine genetisch begründete Varianz und damit keine Erblichkeit im technischen Sinn. Die wenigen Ausnahmen sind meist unfallbedingt: Alle Varianz geht auf das Konto der Umwelt. Infektionskrankheiten andererseits stammen zwar eindeutig aus der Umwelt, aber wenn einem Erreger alle gleichermaßen ausgesetzt sind und manche schwer erkranken, andere leicht und wieder andere gar nicht, ist die Erblichkeit dieser Krankheit hoch – vererbt wird aber nicht die Krankheit selbst, sondern die Anfälligkeit für ihren Erreger. Die Höhe der Erblichkeit ist also immer nur relativ und sagt nichts über die absolute Größe der vorhandenen Unterschiede. Und dass ein Merkmal gar keine Erblichkeit aufweist, bedeutet nicht unbedingt, dass es nichts mit Genen zu tun hat, sondern nur, dass es bei den für das Merkmal etwa verantwortlichen Genen keine unterschiedlichen Allele gibt. Weist es irgendeine Erblichkeit auf, so spielen bei seinem Zustandekommen auf jeden Fall unterschiedliche Gene eine Rolle. Die Erblichkeit ist keine Naturkonstante, sondern ein in einer bestimmten Population gemessener empirischer Wert. Sie lässt sich darum nicht wie die Lichtgeschwindigkeit immer genauer ermitteln. Sie besagt nur: Zur Gesamtheit der gemessenen Unterschiede haben in dieser Population unterschiedliche Gene soundsoviel und unterschiedliche Umweltfaktoren soundsoviel beigetragen. Ganz andere Umweltfaktoren, wie sie in den untersuchten Populationen nicht vertreten waren, könnten durchaus die umweltbedingte Varianz erhöhen und damit die Erblichkeit herabdrücken. Je offener und durchlässiger eine Gesellschaft, desto höher werden die Erblichkeiten mancher Merkmale. Denn wo die Umwelt keine Unterschiede mehr erzwingt, ist die verbleibende Variation notwendig genetischer Herkunft. Man kann es auch so sagen: Jeder sucht sich die Umwelt, die seinen genetischen Anlagen am besten entspricht. Je größer die Freiheit, die ihm die Gesellschaft dazu lässt (je größer also die Chancengleichheit), desto reiner sind etwa verbleibende Unterschiede das Werk der Gene. Der genetische Befund war vor allem darum so unwillkommen, weil er eine Einladung zum Fatalismus zu sein scheint. Wenn einer "es schon in den Genen hat", dann sei ja wohl nichts zu machen. Dazu gibt es mindestens dreierlei zu sagen. 1. Streng deterministisch regieren die Gene kein Schicksal; sie begründen nur Dispositionen, legen für bestimmte Chancen und Risiken Wahrscheinlichkeiten fest. Sie determinieren das Leben nicht, sie sind ein Potenzial. 2. Genetisch verursachte Defekte und Defizite sind nicht grundsätzlich unkorrigierbar: Für eine ererbte Fehlsichtigkeit gibt es Brillen. Der Glaube an die unbegrenzte Erziehbarkeit des Menschengeschlechts andererseits kann sich nicht gerade auf überwältigende Erfolge berufen: Den Neuen Menschen haben bisher auch die hochgemutesten und rabiatesten Erziehungsanstrengungen nicht hervorgebracht. Eine falsche Diagnose wird eine falsche Behandlung nach sich ziehen. Die Vorbedingung dafür, irgendeinen Persönlichkeitszug des Menschen effektiv zu ändern, wäre ein realistisches Verständnis dafür, wie dieser sich im Zusammenspiel von Genen und Umwelt entwickelt. 3. Wenn seine Persönlichkeitsmerkmale zu einem beträchtlichen Maß das Produkt eines genetischen Programms sind, so wird der Mensch sich in jeder Situation immer nur selbst wiederfinden. Aber seine Persönlichkeit, das Ensemble seiner Dispositionen, ist sehr viel breiter, als dass er sie in einer Lebenssituation je erschöpfend ausleben könnte. In einer anderen Situation findet er zwar auch sich selbst wieder, aber möglicherweise so, wie ihn bisher keiner gekannt hat, auch er sich selbst nicht. Die Umwelt bestimmt mit, welche genetischen Dispositionen zum Zug kommen. Beispiel Autoritarismus: Eine autoritäre Disposition ist das eine, ihre Aktualisierung etwas anderes. Da der Mensch mit und ohne Kollektiverziehung ein gruppenorientiertes Wesen ist, wird die autoritäre Disposition nur in einem Umfeld Ausdruck finden, das sie bestätigt und befördert. In einem anderen Umfeld wäre sie zwar vorhanden, aber ohne Konsequenz. Es lässt sich also sehr wohl etwas tun: möglichst verhindern, dass Jugendliche in Ermangelung anderer Lebensperspektiven in ein autoritäres Umfeld geraten. Manche meinen, man müsse das alles von vornherein nicht ernst nehmen. Seit 125 Jahren schwinge das Pendel zwischen "Erbe" und "Umwelt", zwischen "Natur" und "Kultur" hin und her, und die nächste Pendelbewegung, zurück zur "Umwelt", werde nicht auf sich warten lassen. Die Erblichkeitsberechnungen der Verhaltensgenetik sind jedoch keine Mode, die sich wieder verziehen wird. Sie haben jetzt dreißig Jahre Test auf Test bestanden, sind dabei immer raffinierter und nie widerlegt worden, obwohl der Mainstream der Wissenschaft auf nichts so erpicht war wie auf ihre Widerlegung. Welche Gene jeweils die wirksamen sind und wie sie wirken, ist ihnen nicht zu entnehmen. Aber die betreffenden Verwandtschaftskorrelationen, auf denen der Kalkül beruht, treten nicht durch Zufall auf. Wo es den Messwert "Erblichkeit" gibt, wird es auch die Allele geben, die sie hervorgebracht haben, und die Molekularbiologie hat angefangen, sie zu entschlüsseln.
Erblichkeiten um 0,5, wie sie für die meisten mentalen Eigenschaften berechnet wurden, sind nicht hoch und nicht niedrig; sie gelten als "mäßig". Und damit könnte man abermals versucht sein, zufrieden einen Punkt zu setzen: Na also, dann haben beide Seiten Recht gehabt im dreißigjährigen Erbe-Umwelt-Krieg. Auch hier käme die Freude zu früh. Zum einen nämlich gehören zur nichtgenetischen Varianz auch Unfälle, (nichtgenetische) Krankheiten und alle die Einflüsse, denen der Fetus im Mutterleib ausgesetzt ist – Ursachen also, von denen man einige "biologisch" nennen würde und deren Folgen teilweise im Wortsinn "angeboren" sind. Zum andern sind die Unterschiede im Genom die mit Abstand größte einzelne Varianzquelle. Die nichtgenetische Varianz erklärt sich dagegen aus vielen ganz verschiedenen Faktoren. Folglich hat kein einzelner von ihnen ein so hohes Gewicht, dass er allein dem genetisch bedingten Varianzblock Paroli bieten könnte. Die treibende Kraft hinter dem Jahrhundertstreit war die Frage, ob irgendeine Veränderung, die man an den Umweltbedingungen vornähme, dazu taugen würde, unerwünschte Varianz zu beseitigen, die dem Einzelnen oder der Gesellschaft zum Nachteil gereicht; also ob man die Menschen gleicher machen kann. Diese Frage ist beantwortet. Alle Patentrezepte, die mit "Man müsste nur ..." beginnen ("nur" die Armut beseitigen, "nur" alle auf gute Schulen schicken, "nur" lieb zu den Kindern sein), die sich also auf eine einzige und noch dazu hypothetische Umweltursache fixieren, sind von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wenn sie überhaupt effektiv sind, dann jedes nur in geringem Maß. Nicht nur, dass die entscheidenden Umweltfaktoren viele und verschiedene sind: Man weiß bis heute schlechterdings nicht, welche es eigentlich sind, man weiß nur, dass es jene nicht sein können, die die Sozialisationsforschung immer im Auge hatte. Als die Versuchsanordnungen der Verhaltensgenetik in den 1980er Jahren immer wählerischer wurden, ergab sich nämlich nebenbei ein Befund, den niemand gesucht oder erwartet hatte. Er kam für alle als ein Schock und ist bis heute nicht verkraftet. Während die Umwelttheorie keinen Gedanken an eine genetische Transmission aufkommen ließ, hatte die Verhaltensgenetik immer für selbstverständlich gehalten, dass jedes interessante Merkmal seine Umweltkomponente besäße. Über den Inhalt der Umweltkomponente glaubte sie aber nichts sagen zu können, da hielt sie sich an die Sozialisationsforschung. Das konnte sie dann aber zu ihrem eigenen Erstaunen doch. Verblüffenderweise zeigte sich nämlich in Adoptionsstudien, dass nichtverwandte Kinder, die zusammen in einer Familie aufwachsen, einander in ihren messbaren Eigenschaften und Merkmalen kaum ähnlicher sind als beliebige Fremde. Falls sie dagegen leibliche Geschwister haben, die in anderen Familien aufwachsen, so sind sie denen ähnlicher als ihren Stiefgeschwistern, auch wenn sie ihnen gar nicht bekannt sind. Auf der anderen Seite ähneln sich eineiige, also genetisch identische Zwillinge, die zusammen in einer Familie aufwachsen, zwar stark, aber nicht völlig. Es muss also Umweltfaktoren geben, die sie verschieden machen; das können jedoch nicht jene sein, die auf alle Mitglieder einer Familie gleichermaßen einwirken und sie einander angleichen. Man nennt diese Faktoren die "geteilte" – also der Familie gemeinsame – Umwelt. Im Falle der Adoptivkinder bewirkt die geteilte Umwelt so gut wie keine Ähnlichkeit; im Falle der getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillinge verhindert sie die (geringen) Unterschiede nicht. Nahezu alle Umweltfaktoren, die die Sozialisationsforschung im Verdacht hatte, gehören nun aber zu den geteilten: die Schichtzugehörigkeit, das Familieneinkommen, das Bildungsniveau, die Familiengröße, die Familienstruktur (Scheidung, alleinerziehende Elternteile), das Alter der Eltern, die familiäre Umgangsweise, die Religiosität, eine etwaige Depressionskrankheit der Mutter, die intellektuelle Stimulierung, die Zahl der Bücher im Haushalt ... Auch der Erziehungsstil, denn Eltern erziehen normalerweise nicht das eine Kind repressiv und das andere permissiv. Alle diese scheinbar großen, wichtigen, ausschlaggebenden Faktoren bringen die Unterschiede zwischen den Menschen also nicht hervor. Die Kinder könnten auch bei anderen Eltern aufwachsen, die ihnen ein normales Maß an liebender und leitender Fürsorge zuteil werden lassen, und gerieten keinen Deut anders. "Ein normales Maß" – dass die geteilte Umwelt nur einen geringen oder keinen Unterschied bewirkt, gilt nur für die normale Bandbreite von Familienumwelten. Vernachlässigung, Deprivation, Misshandlung, Missbrauch, Traumatisierung liegen außerhalb dieser Bandbreite, und sie machen einen Unterschied, einen großen. Dass der Glaube an die Macht der geteilten Umwelt eine Seifenblase war und geplatzt ist, darf darum niemand zu dem Schluss verleiten, es wäre dann ja auch egal, wie er seine Kinder behandelt, verderben könne er sowieso nichts. Aber welches sind dann die entscheidenden Umweltfaktoren? Sie sind bis heute das große Rätsel, und die nötigen Untersuchungen sind so komplex, dass es noch Jahre dauern wird, bis die ersten Antworten eingehen, die mehr als Spekulationen sind. Es müssen Einflüsse sein, die die Kinder einer Familie unterschiedlich betreffen und sie einander unähnlich machen – "ungeteilte" eben. Sollte sich der reine lebensgeschichtliche Zufall als das Entscheidende erweisen, so wäre die auf Gesetzmäßigkeiten erpichte Wissenschaft in einer hoffnungslosen Lage. Ein Mädchen sieht mit zehn einen Naturfilm, der sie fasziniert, und verbringt den Rest des Lebens am liebsten in der einsamen Natur, die Schwester verpasst das Programm, weil sie an der Straßenecke auf ihre Clique gestoßen ist, und wird zum Disco-Typ ... Wäre es so (und eine gewisse Rolle spielen solche Zufälle mit Sicherheit), dann ließen sich überhaupt keine systematischen Beziehungen zwischen Umweltbedingungen und Persönlichkeitsmerkmalen auffinden, und das Schicksal wäre die reine Lotterie. Wenn die geteilte Umwelt nicht den Ausschlag gibt, dann muss die ungeteilte es tun. Tatsächlich hat das Dilemma vielen Psychologen die Augen dafür geöffnet, dass die Eltern ihre Kinder durchaus nicht immer in allem gleich behandeln. Es kommt vor, dass sie mit dem einen viel spielen und schäkern, mit dem anderen aber sehr zurückhaltend umgehen – beide scheinen in verschiedenen Gefühlsumwelten aufzuwachsen. (Diese Ungleichbehandlung hat im Übrigen nichts mit der Geburtsreihenfolge zu tun.) Eine andere Theorie, in den letzten Jahren besonders heftig propagiert von Judith Harris, verficht die Meinung, dass sich die eigentliche Sozialisation überhaupt nicht in der Familie abspiele, sondern in der Spielgruppe, der Clique, der Klasse, der Bande – also in der Altersgruppe. Beide Möglichkeiten wirken plausibel. Die Frage ist nur, wie viel Umweltvarianz damit wirklich erklärt werden kann. Kinder sind nicht nur das passive Produkt von Erziehung; sie bestimmen von Anfang an mit, wie sie erzogen werden. Wenn die Eltern viel mit einem Kind schäkern, dann wahrscheinlich, weil es selber gerne schäkert; während das stille und ängstlichere Kind in einer ernsteren und verschlosseneren Umwelt lebt. Und wenn ein Kind in vielen Cliquen zu Hause ist und den Ton angibt, dann weil es mit einem extravertierten Temperament gesegnet ist. Das heißt, die verschiedenen Temperamente suchen und schaffen sich innerhalb wie außerhalb der Familie die Umwelt, die ihnen die gemäßeste ist. Und da das Temperament zu einem erheblichen Teil erblich ist, spiegelte sich in dieser Umweltvariation nur die genetische wieder. Gar nicht beachtet wurde, dass eine der Quellen der Verschiedenheit nichts anderes sein könnte als ein innerer Hang zur Verschiedenheit. Oft scheinen Kinder mit der Pubertät einen Drang zu entwickeln, sich von ihren Eltern und Lehrern zu unterscheiden – keinesfalls so zu werden wie ihre Erziehungsberechtigten. Widerspruch scheint geradezu ein Teil ihres Reife- und Ablösungsprozesses zu sein. Betrübt stellen die Eltern dann fest, dass alle ihre Erziehungsbemühungen nicht gefruchtet haben und am Ende in ihr Gegenteil umgeschlagen sind. Welches Kind könnte eine schönere Kindheit haben, als sie Grub van Lawick hatte, der geliebte Sohn der Primatologin Jane Goodall und des Tierfotografen Hugo van Lawick? Grub wuchs in der Wildnis und doch ängstlich beschützt auf, in dem Schimpansenreservat Gombe, das seine Mutter mit unendlicher Geduld und Zähigkeit geschaffen und erforscht hatte. Aber Grub konnte die Schimpansen nicht ausstehen, die seine Mutter so liebte, flüchtete sich an den nahen Tanganjika-See und verlegte sich aufs Schwimmen, Tauchen und Fischen. Seine Mutter interessierte sich für Geld nur insofern, als sie es zum Unterhalt ihres Schimpansenparks benötigte; sonst bedeutete es ihr nichts. Grub dagegen wurde Geschäftsmann, der sein Geld damit verdiente, afrikanische Hummer nach Fernost zu verkaufen. Erst als er diese Phase hinter sich hatte, kamen sich Mutter und Sohn über einem gemeinsamen Flusspferdprojekt wieder näher. Eigentlich hätten man erwarten müssen, dass ihn Erziehung wie Gene dazu bewegen, in die Fußstapfen seiner Eltern zu treten. Aber genau das tat er nicht. Er schlug aus der Art.
Was lässt sich durch Erziehung bewirken? Viele wichtige Fragen sind also noch offen. Antworten werden erst eingehen, wenn das Kriegsbeil begraben ist und Verhaltensgenetik und Sozialisationsforschung im Verein an ihren beiden Strängen ziehen. Immerhin, Eltern dürfen aufatmen. Hundert Jahre lang haben die verschiedensten Schulen der Psychologie ihnen Schuldgefühle aufgeredet, wann immer ihre Kinder Probleme bekamen: siehe die schizophreno- und sonstwas-gene Mutter der Psychoanalyse, das durch Verhätschelung deformierte Kind des Behaviorismus. Der Glaube an die Allmacht der Erziehung klang dann etwa so: "Eltern erschaffen ihre Kinder sowohl psychisch wie physisch ... Von ihnen lernt das Kleinkind, wie es denkt und spricht, wie es seine Erfahrungen deutet und benutzt, wie es seine Reaktionen beherrscht, wie andere Menschen zu beeinflussen sind. Kinder lernen von ihren Eltern, wie man sich mit den anderen stellt, wer einem gefällt und wen man nachahmt, wen man meidet und verachtet, wie man Zu- und Abneigung ausdrückt und wann man seine Reaktion unterdrückt. Wie die Eltern die Verstärkung einsetzen, ob Bestrafung oder Belohnung, ändert das Verhalten des Kindes und bestimmt seine künftigen Neigungen und Abneigungen" (Diana Baumrind). Wer das wörtlich nahm, konnte eigentlich nur die Verantwortung von sich weisen und ganz auf Kinder verzichten. Wenn das "Töpfen" wirklich den lebenslangen Charakter ganzer Bevölkerungen formte, wäre aus keinem Menschen vor der Erfindung von Pampers etwas geworden. Wenn "kein Zornesausbruch ohne Einfluss auf das Kind" bliebe, da er sich später "wieder[findet] in seinem Charakter" (Neill), dann gäbe es nur verdorbene Charaktere. Und wenn der Mensch alles, was er ist, allein durch Erziehung würde, so hielte zudem nichts die Menschheit zusammen: Sie wäre fragmentiert in unzählige Erziehungssippen, unter denen es keinerlei Verständigung gäbe. Es ist darum kein Verhängnis, dass der Mensch robuster ist und – in einem breiten Korridor des Normalen – durch Erziehung gar nicht so leicht zu verderben; dass er zu einem nicht unerheblichen Teil schon da ist, ehe er sich durch Erziehung zu erschaffen versucht.
Literaturnachweise
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