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DIE ZEIT/Literaturbeilage, Nr.47, 15.November 2001, S.L3

Titel: "Adolf Atta Ahab – Vor 150 Jahren erschien Herman Melvilles Roman 'Moby-Dick'. Nach langem Streit gibt es jetzt zwei neue Übersetzungen. Welche ist besser?"

Manuskriptfassung

© 2001 DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer

 

  

Moby-Dick und seine Übersetzer

Von Dieter E. Zimmer

 

HERMAN MELVILLES Moby-Dick ist ein Monstrum von einem Buch, wie es weder vorher noch nachher eines gegeben hat. Als es 1851 erschien, vor genau 150 Jahren, stieß es auf nicht mehr als ein reserviertes Befremden. Seine Verleger und sein Publikum erwarteten nicht seinesgleichen von Melville, sondern bunte Abenteuergeschichten aus der Südsee, genau jene, die er auf keinen Fall mehr schreiben wollte.

Bei seinem Tod vierzig Jahre später waren Moby-Dick und er selber lange vergessen. Erst nach dem Ersten Weltkrieg begannen Wiederentdeckung und Rehabilitation, und sie machten nicht nur den Kanon der klassischen amerikanischen Literatur um ein originelles, komplexes, tiefes Prosawerk reicher. Vor allem dank ungezählter Bearbeitungen für die Jugend und mehrerer Verfilmungen löste sich die Idee von Melvilles Text und gravierte sich dem westlichen Bewusstsein als eines jener Urbilder ein, die sich heute ausnehmen, als hätte es sie schon immer gegeben: der grauhaarige einbeinige Kapitän, der verbissen und vermessen ein furchterregendes Ungeheuer über die Weltmeere jagt und von ihm am Ende in die Tiefe gerissen wird – ein negatives Gegenbild zu den eleganten strahlenden Drachenbesiegern St. Georg oder Siegfried.

Seine damalige Befremdlichkeit – und seine heutige Modernität – verdankt Moby-Dick vor allem dem Umstand, dass die Action-Story aus der Seefahrt von dem Moment an, als die Spannung aufgebaut ist, immer wieder unterbrochen und streckenweise ganz verdrängt wird, bis Moby-Dick drei Bücher in einem ist: eine robuste Abenteuergeschichte, eine naturhistorische und mythologische Abhandlung über den Wal (aus der Perspektive seiner Jäger) und eine moralphilosophische Reflexion über die Natur des Menschen – in Melvilles Sicht ein gefährliches Wesen, beherrscht von unberechenbaren tiefen Leidenschaften, an denen alle optimistischen Utopien zunichte werden müssen.

Es ist fast unmöglich, die Geschichte von Kapitän Ahabs Verfolgung des weißen Wals nicht als eine Parabel zu verstehen. So hat ihr Autor – immer darauf aus, hinter der singulären Oberfläche allgemeine Bedeutungen zu lesen – sie gewiss auch gemeint.

Aber als Parabel wofür? Ist es eine Parabel auf den heroischen einsamen Kampf gegen das Böse, das in jenem unheimlich weißen Leviathan verkörpert ist? Oder ist das Böse hier im Gegenteil jener Kapitän selbst, der einer fixen Idee nachjagt und ihr alles opfert, seine Mannschaft und sich selbst? Melville konnte sich offensichtlich nicht entscheiden, und die wahre innere Spannung des Romans geht auf ebendiese Unentschiedenheit zurück. Hätte er sich entschieden, so wäre das Werk ein flacher Traktat von heute nur noch historischem Interesse geworden. Seine Unentschiedenheit aber verleiht ihm eine produktive Mehrdeutigkeit, an der sich nicht nur die Interpreten bis heute die Zähne ausbeißen, sondern die ihm auch eine Art dauerhafter Aktualität sichert.

Die Exposition eröffnet beide Optionen. Jener Kapitän Ahab ist zunächst eine geheimnisvolle, nahezu unsichtbare Präsenz auf der Pequod, vielleicht ein Held, vielleicht nur ein Besessener, so wie der weiße Wal ebenso sehr Gegenstand der Furcht wie der Bewunderung ist. Dann setzen die ausführlichen cetologischen und walfanghistorischen Erörterungen ein. Melville, selber hin und her gerissen zwischen mythisierendem und nüchtern-"amerikanischem" Weltverständnis, hatte ihnen wohl die Funktion zugedacht, das Meerungeheuer durch genaue, fast wissenschaftliche Beschreibung noch ungeheuerlicher erscheinen lassen. Am Ende aber erreichten sie das Gegenteil – sie entdämonisierten den Wal. Ein Leviathan, der anders als ältere Chaosdrachen nur ein normales, allerdings großes Tier ist, das niemandem etwas tut, der ihm nichts tut, und also keine Gemeingefahr darstellt, dem nur vorgeworfen kann, dass es von seiner großen Kraft und seiner kleinen Intelligenz Gebrauch macht, wenn ein Jäger es mit Harpunen spickt, eignet sich schlecht als Symbol alles Bösen in der Welt. Und da der auf ihn fixierte Kapitän während der ernüchternden walkundlichen Enthüllungen immer besinnungsloser in wahnhaftem Aberglauben versinkt und immer ausschließlicher von bloßer persönlicher Rachgier getrieben wirkt (der betreffende Wal hatte ihm bei der Jagd einst ein Bein abgetrennt), sinkt die allegorische Wage entschieden auf die eine Seite.

Da kämpft kein unbeugsamer, aufopferungsvoller Held einen übermenschlichen Kampf gegen das Böse, da hat ein verblendeter Fanatiker ein Schiff samt Mannschaft in seine Gewalt gebracht und reißt sie einem deplatzierten privaten Rachedurst zuliebe mit sich in den Untergang. Adolf Atta Ahab. Aber kurz vor dem Ende macht der Autor eine Kehrtwende. Die frühere Auch-Bewunderung für Ahab meldet sich zurück, und er lässt den monomanischen Wahnsinnigen den Verstand wiederfinden, den verbitterten, hasserfüllten, unnahbaren Kapitän in einem unerwartet zartsinnigen Geständnis schmelzen. Ich bin nicht härter als andere, sagt Ahab etwa, und ich weiß, dass mein Kampf unvernünftig ist – aber ich kann nicht anders, ich muss kämpfen und untergehen. Und was dem Leser bleibt, sind zwei gegenläufige Parabeln – oder eine schillernde Metaparabel über die Fragwürdigkeit aller manichäischen Dämonisierungen.

 

Seine heterogene sprachliche Textur macht Moby-Dick zu einer großen Herausforderung für die Übersetzung. Es amalgamiert die literarische Hochsprache seiner Zeit, nautische und zoologische Partien, Bibel- und Predigtton, Shakespeare-Pastiches, das Pidgin der zusammengewürfelten Mannschaft, Juristen- und Amtssprache, pedantische Umständlichkeiten und geschmeidigste, klingende Poesie. Wer voraussetzt, dass eine Übersetzung nicht nur den Sinn wiedergeben, sondern die sprachliche Textur des Originals abbilden sollte, zumindest näherungsweise, der wird sich jedenfalls einen geglätteten Moby-Dick in flüssigem heutigem Normaldeutsch verbitten. Gleichwohl glaubten einige der bisher vorliegenden sechs deutschen Übersetzungen, sich damit begnügen zu können.

Zum Jubiläum von Moby-Dick sind nun gleich zwei neue deutsche Übertragungen auf den Plan getreten, nicht nebeneinander, sondern gegeneinander. Es ist wieder einmal ein "Fall" aus der Übersetzerszene, die üblicherweise keine Schlagzeilen macht – und diesmal einer, der sich lohnt, denn er hat keine Schurken und führt schnurstracks zu der Grundfrage, die sich jedem stellt, der eine Übersetzung beurteilen will: Wann ist eine Übersetzung richtiger als eine andere?

Der Fall hat eine elfjährige unfrohe Geschichte. 1990 erschien eine Melville gewidmete Ausgabe der Literaturzeitschrift Schreibheft, die den Hanser Verlag bewog, eine neue deutsche Melville-Ausgabe ins Auge zu fassen. Er setzte ein Herausgeberkomitee ein, die Schreibheft-Herausgeber Hermann Wallmann und Norbert Wehr sowie Paul Ingendaay, und diese schlugen für Moby-Dick Friedhelm Rathjen vor, Übersetzer von Robert Louis Stevenson und Mark Twain und Herold einer extrem wortgenauen Übersetzung. 1993 lieferte Rathjen seine tausend Seiten Moby-Dick ab. Der Verlag zögerte jedoch, und als er 1996 immer noch keine Anstalten zur Veröffentlichung machte, traten die drei Herausgeber zurück. Der Hanser Verlag aber hatte keineswegs das Interesse verloren; er hatte nur Zweifel, ob Rathjens Übersetzung sich für die geplante Werkausgabe eigne. Alsbald ernannte er einen neuen Herausgeber, den Göttinger Melville-Kenner und Joseph-Conrad-Übersetzer Daniel Göske, der ihn in seinen Zweifeln an der Eignung von Rathjens Fassung bestärkte und den Übersetzer Matthias Jendis mit ihrer Redaktion beauftragte, der selber zur See gefahren war und sich durch die Übertragung mehrerer seekriegshistorischer Romane von Patrick O’Brian empfohlen hatte. Jendis redigierte, Rathjen akzeptierte die Eingriffe nicht und zog seine Fassung 1999 ganz zurück. Wodurch Jendis freie Bahn erhielt und, beraten von Göske, den ganzen Roman vollständig neu übersetzte. Es ist seine Übersetzung, von Göske mit einem vorzüglichen Anmerkungsapparat versehen, die jetzt im Hanser Verlag erschienen ist. Gleichzeitig legte das Schreibheft einen erheblichen Teil, 28 Kapitel, von Rathjens Fassung vor.

Im Vorwort dazu erweckt die Zeitschrift den Eindruck, die Nichtverwendung von Rathjens Moby-Dick sei irgendwie unethisch, handele es sich doch um nichts Geringeres als die "erste adäquate deutsche Melville-Übersetzung": "Es war sein [Rathjens] standhaftes, jeder Versuchung zur explikativen Überdeutlichkeit, zum eleganten Synonym wehrendes Übersetzen, das uns überzeugt hatte; sein 'Ich möchte lieber nicht', das er den Vertretern einer (falsch verstandenen) Lesbarkeit entgegenhielt, sein Ethos des Verzichts auf Ungenauigkeit ..."

Es sind also verteufelt prinzipielle Fragen, vor die die beiden neuen Moby-Dick-Texte den Leser stellen: Wann ist eine Übersetzung "genau"? Ist die genauere Übersetzung auch die "adäquatere"?

Übersetzungsphilosophische Trockenübungen verlieren sich leicht ins Unergründliche. Die eine oder andere provisorische Antwort findet sich nur anhand von konkreten Beispielen. Also: Welche der beiden Übersetzungen des folgenden Satzes ist genauer, welche adäquater?

But the Pequod was only making a passage now; not regularly cruising; nearly all whaling preparatives needing supervision the mates were fully competent to, so that there was little or nothing, out of himself, to employ or excite Ahab, now; and thus chase away, for that one interval, the clouds that layer upon layer were piled upon his brow, as ever all clouds choose the loftiest peaks to pile themselves on. (Kapitel 28)

Aber die Pequod befand sich jetzt erst auf Passage; kreuzte nicht regulär; beinah aller Walfangvorbereitungen, die der Oberaufsicht bedurften, waren die Maate voll und ganz befähigt, so daß es da nun wenig oder gar nichts gab, um Ahab weg von sich selbst zu beschäftigen oder aufzuregen; und solchermaßen wenigstens für dieses Zwischenspiel die Wolken fortzujagen, die sich Schicht auf Schicht auf seiner Stirne türmten, wie immerdar alle Wolken die erhabensten Gipfel wählen, um sich daran aufzutürmen. (Rathjen)

Aber die Pequod befand sich jetzt bloß auf der Überfahrt; sie kreuzte nicht in den Fanggründen, und fast alle Vorbereitungen für den Walfang, die der Aufsicht bedurften, konnten bestens von den Steuerleuten erledigt werden, so daß es außer ihm selbst zur Zeit kaum etwas gab, das Ahab Arbeit oder Ablenkung hätte verschaffen und wenigstens vorübergehend das Gewölk hätte vertreiben können, das Schicht um Schicht auf seiner Stirne lag, so wie die Wolken stets die erhabensten Gipfel wählen, um sich an ihnen zu ballen. (Jendis)

Beide Übersetzungen geben den Sinn des Satzes vollständig und im Großen und Ganzen richtig wieder. Aber kein Zweifel, Rathjen ist genauer; er bildet sogar seine Syntax und Interpunktion nach. Jendis dagegen ist "explikativ" (etwa wenn er in den Fanggründen hinzufügt), er wählt das elegante Synonym (lag, ballte statt zweimal türmen). Andererseits ist Rathjens größere Wortgenauigkeit des öfteren nur vorgetäuscht. Die wörtlichste Übersetzung von to pile wäre häufen, nicht türmen, supervision wäre mit Aufsicht (statt Oberaufsicht) richtiger und dazu wörtlicher übersetzt, und kreuzte regulär tut zwar so, als wäre es wortgenau, aber regulär ist nichts als ein ein "faux ami" von regularly und trifft dessen Bedeutung nicht wirklich. Der unübersehbare Hauptunterschied zwischen beiden Fassungen besteht jedoch darin, dass die von Jendis in der Tat gut lesbar ist, die von Rathjen nur mit etlicher Mühe; Lesern, die das sprachlich Ausgefallenere suchen, werden sie gerade darum vorziehen. Sind Jendis und der Hanser Verlag also einer "falsch verstandenen Lesbarkeit" aufgesessen?

Der reine Stümper übersetzt holterdipolter und Wort für Wort, so wie er diese in seinem lückenhaften Gedächtnis oder notfalls im Wörterbuch vorfindet: wie jemals alle Wolken die luftigsten Gipfel wählen ... Der fortgeschrittene Stümper bemerkt, dass diese Methode Unsinn erzeugt, verdreht und verkürzt den Satz nach seinem Gusto, bis er einen Anschein von Sinn ergibt, und kaschiert seine Stümperei durch poetisierende Umschreibung: Zwar, alle Wolken haben die Neigung, die höchsten Gipfel zu umwallen (Margarete Möckli von Seggern, 1942).

Ein richtiger Übersetzer geht ganz anders vor. Als Erstes fragt er: Was bedeutet dieser Satz? Im Kopf, nicht auf dem Papier erzeugt er sich mit allen ihm zu Gebote stehenden Hilfsmitteln eine vollständige Bedeutung des Satzes, in der einzelne Wörter nur sozusagen als Platzhalter fungieren. Als Zweites stellt er die entscheidende Frage, die der Stümper niemals stellt: Und wie sagt man das nun auf Deutsch? Da die Sprachen einzelne Bedeutungen mit ganz verschiedenen Mitteln ausdrücken, muss er sich an diesem Punkt oft von den Wörtern, der Idiomatik und der Grammatik des Originals lösen. So kommt er immerhin zu einer näherungsweise "richtigen" Übersetzung.

Der wahre Könner begnügt sich nicht mit der Abbildung der Bedeutung. Er versucht auch, die Sprachtextur abzubilden, und stellt sich sofort eine dritte Frage: Sagt "man" es in der Quellsprache eigentlich so wie in der Vorlage? Wie weit und in welche Richtung weicht diese von der heutigen Normalsprache ab? Und dann versucht er, seinem Text die gleiche Distanz einzubauen.

Rathjens Übersetzung wirkt wie ein Versuch, die zweite Frage ("wie sagt man das auf Deutsch?") unbedingt zu vermeiden. Er geht davon aus, Melvilles Text sei "eigenwillig, dunkel, ungehobelt; fremd", "handwerklich völlig verkorkst", und unternimmt es, das Befremdende an der Sprache des Moby-Dick in ein ebenso befremdendes, verkorkstes Deutsch zu überführen. Tatsächlich ist vieles im englischen Moby-Dick gewollt und ungewollt befremdlich. Aber so radikal befremdlich, wie Rathjen meint und wie sich seine Übersetzung nun liest, ist Melville keineswegs und wirkte er auch auf die Leser seiner Zeit nicht. Wäre er es gewesen, so wäre er als jemand, der ein durch und durch verkorkstes Englisch schrieb, nie gedruckt worden. Aller Walfangvorbereitungen befähigt (für fully competent to all whaling preparatives), weg von sich selbst (für out of himself) – in der Tat ist Melvilles Satz nicht ganz geheuer gebaut, aber so schwer verständlich und vermurkst wie bei Rathjen ist er nicht. Seine Fassung führt Melvilles stilistische Unebenheiten wie unter der Lupe vor, als gälte es den Nachweis, dass Melville ein durch und durch miserabler Schriftsteller war.

Das heißt, Rathjen hat jene Distanz falsch eingestellt, und seine extrem genaue Übersetzung ist ebendarin ungenau und darum inadäquat. Er, der das Dogma vertritt, der Übersetzer dürfe "keine eigene Sprache haben", sondern müsse sich der des jeweiligen Buches anverwandeln, produziert in einem fort ein höchst idiosynkratisches Deutsch, das niemand je gesprochen oder geschrieben hat oder schreiben wird. Seine Sprache macht ihn als Übersetzer nicht so unsichtbar, wie ihm das vorgeschwebt hat, sie macht ihn vielmehr extrem sichtbar; nach drei Zeilen erkennt man schon: Ah, das kann nur Rathjen sein bei seinem dogmatischen Versuch, wortgenau zu übersetzen. Als Übersetzer ist er das Gegenteil des Stümpers, aber im Effekt ist seine gedankenvolle Hand an vielen Stellen von dessen gedankenloser Pranke leider nicht zu unterscheiden. Auf den ersten drei Seiten eines zentralen Kapitels (41) etwa fährt er auf: Walkreuzer (whale-cruiser), weggefiert (lowered the boats), waren weit herumgegangen (had gone far to), umgruseln (horrify), Abergläubigkeit (superstitiousness), halbausgebildete fötale Mutmaßungen übernatürlicher Agentschaften (half-formed foetal suggestions of supernatural agencies), vitalere praktische Einflüsse (vital practical influences) – zur Hälfte inadäquat, zur Hälfte rundheraus falsch. Wie nennt man das? Eine pestilenzliche Fopperei (plaguey juggling)?

Nein, "schlecht" im normalen Sinn ist Rathjens Übersetzung nicht, dazu ist sie zu reich an durchaus glücklichen Trouvaillen. Sie ist jenseits von Gut und Böse – ein Irrtum. Die endgültige, vollkommene Übersetzung gibt es nicht; eine für alle Fälle richtige Übersetzungstheorie ebenso wenig. Übersetzen sollte nicht als ein dogmatisches, sondern als ein pragmatisches Geschäft betrieben werden; es sollte sich nicht zu schade sein für die Frage: Wozu? Rathjens Moby-Dick hat keine ersichtliche Funktion. Wer sich Melvilles Text so nahe besehen will, wie Rathjen ihn heranzuholen meint, braucht keine Übersetzung und täte besser daran, sich an das Original zu halten.

  Der Hanser Verlag handelte also nicht unmoralisch und opportunistisch, als er vor der Veröffentlichung zurückschreckte. Die vergleichsweise konventionelle Übersetzung von Matthias Jendis ist den älteren sehr viel ähnlicher, von denen einige (vor allem die von Güttinger, den Seifferts und von Mummendey) gar nicht übel waren, aber sie merzt nicht nur deren kumulierte Schnitzer aus – nichts Geringes! –, sondern ist genauer, vor allem bei der nautischen Terminologie, der Markierung des historischen Sprachzustands, den essayistischen Exkursionen. Gewiss schönt auch sie das Original. Aber das will mir verzeihlicher vorkommen als dessen systematische und dogmatische Verholperung und Verhässlichung.

 

Herman Melville: Moby-Dick, aus dem Englischen von Matthias Jendis. Carl Hanser Verlag, München. 1043 S., 68,00 DM

Schreibheft – Zeitschrift für Literatur, 57/2001. Rigodon-Verlag, Essen. 186 S., 20,00 DM

Drei Jahre später erschien Friedhelm Rathjens Fassung vollständig: Moby-Dick; oder: Der Wal, herausgegeben von Norbert Wehr. Zweitausendeins, 2004. 992 S., 42,80 € ("Erfolgsausgabe" 29,90 €)

 

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8 × das Gleiche

Herman Melville (1851): And as for those who, previously hearing of the White Whale, by chance caught sight of him; in the beginning of the thing they had every one of them, almost, as boldly and fearlessly lowered for him, as for any other whale of that species. But at length, such calamities did ensue in these assaults—not restricted to sprained wrists and ankles, broken limbs, or devouring amputations—but fatal to the last degree of fatality; those repeated disastrous repulses, all accumulating and piling their terrors upon Moby Dick; those things had gone far to shake the fortitude of many brave hunters, to whom the story of the White Whale had eventually come.

Wilhelm Strüver (Knaur, Berlin 1927): [Kürzung] Im Anfang hatten sie ebenso kühn und unerschrocken, wie bei anderen Gelegenheiten, die Boote heruntergelassen, als ob es sich um einen gewöhnlichen Wal handelte. Doch dann waren schließlich immer mehr Unglücksfälle vorgekommen; man hatte von gebrochenen Gliedern, zerschlagenen Booten und abgerissenen Körperteilen, höchst bedenklichen Vorfällen gehört. Als so etwas wiederholt vorkam, hatte man hinter allen Schrecken Moby-Dick vermutet und sie auf sein Konto gesetzt. Es war so weit gekommen, dass viele tapfere Jäger es mit der Angst bekamen.

Margarete Möckli von Seggern (Büchergilde Gutenberg, Zürich 1942): Und jene, die schon vorher vom weißen Wal gehört hatten und die ihm dann zufällig begegneten, hatten meist seit Beginn der Fahrt ebenso furchtlos wie kühn und mit mehr Begierde als auf irgendeinen anderen Wal auf ihn gelauert. Doch allmählich hatten sich die Unglücksfälle bedenklich vermehrt; sie beschränkten sich nicht nur auf verrenkte Handgelenke und Knöchel, gebrochene, abgerissene oder verschluckte Gliedmaßen, sondern sie erlangten allmählich den höchsten Grad des Verhängnisses selbst. Solche unheilvollen, immer häufiger wiederholten Geschehnisse vereinigten mit Moby Dick alle erdenklichen Angstvorstellungen, sodass mancher kühne Fischer, der die Geschichte des weißen Wals hörte, seinen Mut wanken fühlte.

Fritz Güttinger (Manesse, Zürich 1944): Diejenigen, die von dem Weißen Wal schon gehört und ihn dann zufällig gesichtet hatten, nahmen es anfänglich durchs Band weg kühndreist und unerschrocken mit ihm auf, so gut wie mit jedem andern Wal der betreffenden Gattung. Auf die Dauer häuften sich jedoch die Unglücksfälle im Gefolge dieser Jagd dermaßen, dass manch einem beherzten Waljäger, zu dem die Kunde vom Weißen Wal schließlich gedrungen war, der Mut zu entsinken drohte. Die Vorkommnisse beschränkten sich nämlich keineswegs auf verstauchte Gelenke, Knochenbrüche und den Verlust von Gliedmaßen; meist brach vielmehr eine äußerst endgültige Art von Verhängnis über die Leute herein, und die wiederholten unseligen Erfahrungen hatten zuletzt Moby Dick zu einer schreckenumwitterten Erscheinung werden lassen.

Thesi Mutzenbecher & Ernst Schnabel (Claassen, Hamburg 1946): Wer Moby-Dick unversehens zu Gesicht bekam und nichts von ihm wusste, hatte zunächst wie bei jedem anderen Pottwal unerschrocken und furchtlos die Boote zu Wasser gelassen. Auf die Dauer häuften sich aber die Unglücksfälle, es blieb auch nicht bei verrenkten Armen und Beinen, Knochenbrüchen und schweren Amputationen, manch braver Mann fand den Tod, und Moby-Dick wurde in aller Herzen zu einem furchtbaren, unbesieglichen Ungeheuer.

Alice & Hans Seiffert (Dieterich, Leipzig 1956): Was aber diejenigen anbelangt, die schon vorher von dem Weißen Wal gehört hatten und ihn dann unversehens zu Gesicht bekamen, so hatten sie anfangs, einer fast wie der andere, ihre Boote so kühn und furchtlos zu Wasser gelassen wie jedem anderen Pottwal gegenüber. Mit der Zeit ereigneten sich jedoch bei diesen Angriffen sehr schwere Unglücksfälle – es blieb nicht bei Verrenkungen von Hand- und Fußgelenken, bei Knochenbrüchen und abgerissenen Gliedmaßen, sondern das Unheil ging bis zum unheilvollsten Ende; und alle Schrecken dieser immer neuen blutigen Niederlagen häuften und türmten sich auf Moby Dick, bis schließlich der Mut manches tapferen Jägers wankte, der die Geschichte vom Weißen Wal von ungefähr vernommen hatte.

Richard Mummendey (Winkler, München 1964): Diejenigen, die vorher schon von dem Weißen Wal gehört hatten und ihm zufällig begegnet waren, nahmen es anfangs mit ihm ebenso kühn und furchtlos auf wie mit jedem anderen seiner Art. Aber auf die Dauer hatten diese Angriffe so viele Unglücksfälle zur Folge, die sich nicht nur auf verstauchte Hand- und Fußgelenke, auf Knochenbrüche und Verluste von Gliedmaßen beschränkten, sondern äußerst verhängnisvoll waren, und diese wiederholten Misserfolge knüpften sich mit all ihren Schrecken so an den Namen Moby Dick, dass sie die Tapferkeit manches braven Walfängers zu erschüttern geeignet waren, zu dem die Geschichte vom Weißen Wal drang.

Friedhelm Rathjen (Schreibheft, Essen 2001): Und was jene betrifft, die, zuvor bereits über den Weißen Wal in Kenntnis gesetzt, seiner zufällig angesichtig wurden; zu Beginn der ganzen Sache hatten sie ein jeder, fast jedenfalls, seinethalben ebenso kühn und unerschrocken weggefiert wie bei jedem anderen Wal dieser Art. Doch auf die Dauer ergaben sich solche Missgeschicke bei diesen Jagdaktionen – nicht beschränkt auf verstauchte Knöchel und Handgelenke, gebrochene Glieder oder malmende Amputationen –, sondern verhängnisvoll bis zur letzten Stufe des Verhängnisses; diese wiederholten unglückseligen Gegenschläge, die alle sich summierten und ihre Schrecknisse auf Moby Dick häuften; diese Sachen alle waren weit herumgegangen, um die Standfestigkeit vieler tapfrer Jäger zu erschüttern, zu denen die Geschichte vom Weißen Wal schließlich gedrungen war.

Matthias Jendis (Hanser, München 2001): Was nun jene betrifft, die schon vorher vom Weißen Wal gehört hatten und seiner dann zufällig ansichtig wurden, so hatten sie anfangs alle, oder doch fast alle, seinethalben die Boote ebenso kühn und unerschrocken zu Wasser gelassen wie bei jedem anderen Wal seiner Spezies. Mit der Zeit aber ereigneten sich bei diesen Angriffen schlimme Unglücksfälle, die nicht auf verstauchte Knöchel und Handgelenke, gebrochene Knochen oder abgerissene Glieder beschränkt blieben, sondern so verhängnisvoll waren, wie sie verhängnisvoller nicht sein konnten. Diese wiederholten, unglückseligen Rückschläge summierten sich und häuften Schrecken um Schrecken auf Moby Dick. All das hatte die Tapferkeit vieler mutiger Jäger, denen die Geschichte vom Weißen Wal schließlich zu Ohren gelangt war, schon stark erschüttert.

 

PS [nicht veröffentlicht]. Ein sehr aufmerksamer Leser könnte meinen, ich hätte mich bei meinem Votum für die Übersetzung von Matthias Jendis in einem peinlichen Widerspruch gefangen. Habe ich selber nicht vierzig Jahre lang Vladimir Nabokov übersetzt, und habe ich etwa nicht dessen Credo unterschrieben, seine leidenschaftliche Verfluchung der "flüssig" gemachten freien Übersetzungen?    "... der Rezensent der 'Übersetzung', der keinerlei Ahnung von dem Original hat und ohne Spezialstudium auch gar nicht haben kann, lobt eine Imitation als 'lesbar', nur weil ein Kuli oder Reimeschmied die atemraubenden Vertracktheiten des Textes durch eingängige Plattitüden ersetzt hat. Lesbar, dass ich nicht lache! Der Schnitzer eines Schuljungen ist ein geringerer Hohn auf das alte Meisterwerk als dessen kommerzielle Umdeutung oder Poetisierung. 'Rhyme' reimt sich auf 'crime‘, wo Homer oder Hamlet gereimt übersetzt werden. Der Begriff 'freie Übersetzung‘ schmeckt nach Schurkerei und Tyrannei. Sobald der Übersetzer es darauf abgesehen hat, den 'Geist' [spirit] – und nicht den Wortsinn [textual sense] – wiederzugeben, beginnt sein Verrat an dem Autor. Die unbeholfenste wörtliche [literal] Übersetzung ist tausendmal nützlicher als die hübscheste Paraphrase" (in Partisan Review, 22.4, Fall 1955*). Als er dies schrieb, hatte Nabokov gereimte freie englische Übersetzungen – auf Deutsch nennt man sie "Nachdichtungen" – von Puschkins Versroman Eugen Onegin im Auge und war seit Jahren damit beschäftigt, selber eine ganz andere Übersetzung zu versuchen, die kein Verrat am Original wäre – und der später auch "Unlesbarkeit" vorgeworfen werden sollte.

Ich gebe zu, es kann aussehen, als habe ich mich in meinen eigenen Kriterien verheddert. Auch ich habe erst im Laufe meiner langen Übersetzungs- und Herausgebertätigkeit begriffen, dass Nabokov nicht meinte, was er laut Wörterbuch zu meinen schien. Die Schwierigkeit liegt in dem englischen Adjektiv literal, das Nabokov hier und an anderen Stellen für seine Art des Übersetzens gebrauchte. Das Wörterbuch übersetzt es zwar gemeinhin mit 'wörtlich' oder 'wortgetreu'. Das bedeutet es aber längst nicht immer. Der Unterschied scheint auf den ersten Blick minimal. Aber im engen Sinn "wörtlich" übersetzte Nabokov selber nicht, auch nicht den Eugen Onegin. Eine wörtliche Übersetzung des Onegin, jede wörtliche Übersetzung würde nicht nur etwas holprig, sie würde lächerlich. Maschinelle Übersetzungen sind wörtlich oder wollen wenigstens das sein. Nabokovs englischer Onegin behielt die russische Wortstellung und Interpunktion nicht bei und war auch keineswegs eine Wort-für-Wort-Übersetzung. An anderer Stelle machte er klar, dass er jeweils nicht über Wörter, sondern über Sätze befinde. Nicht auf die wörtliche Bedeutung der Wörter kam es ihm an, sondern auf den Sinn, den Inhalt der Sätze. Für ihn hatte eine "literal" Übersetzung also nicht "wörtlich", nicht wortgenau zu sein, sondern sinngenau, satzgenau. Sie durfte den Inhalt der Sätze, den textual sense nicht verfälschen, etwa dem Reim oder dem Metrum zuliebe. Dann lieber in Prosa und reimlos, aber richtig! Das war es, was er meinte.

Sinngenau aber ist Jendis' Moby-Dick sehr wohl, genau wie Rathjens.


 


* Auf Deutsch enthalten in Eigensinnige Ansichten, Reinbek: Rowohlt, 2004, S.451

 

 


 

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