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Aus Dieter E. Zimmer

Die Wortlupe – Beobachtungen am Deutsch der Gegenwart

Hamburg: Hoffmann und Campe Verlag, März 2006

224 Seiten, 14,95 Euro

10 von 111 Sprachglossen

(c) 2006 Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg. Mit freundlicher Erlaubnis

 

 

 

anal

Da liest man im Literaturteil der Zeitung wohlgefällig vor sich hin, und plötzlich schreckt einen der Satz auf: „Man hat es beim Lesen ziemlich schnell satt, sich diesen analen (Männer-)Quatsch eines hochbegabten Autors anzuhören.“

     Nanu? Anal? Schlag nach im Pschyrembel. „Anal: s. a. After-. After m: s. Anus. Anus (lat Ring) m: After; Abschlussorgan des Darmrohrs.“ Also handelte der Quatsch des hochbegabten Autors vom Darmrohrabschlussorgan? Aber ist das Darmende bei Männern anders beschaffen als bei Frauen? Sollte der anale Quatsch vielleicht nur eine preziöse Umschreibung für Scheiß gewesen sein?

     „Nun tun Sie mal nicht so. Sie wissen doch, wie das gemeint war.“ Ja, weiß ich, nur zu genau. Anal heißt in der Psychoanalyse jene „psychosexuelle“ Entwicklungsphase, in der das Kleinkind angeblich sexuelle Wollust aus dem Darmrohrabschlussorgan gewinnt. Und diese Lust soll manchmal irgendwie – ‘irgendwie’ ist hier das treffende Wort – einen irgendwie zwanghaften Charakter hinterlassen. Also war „zwanghafter (Männer-)Quatsch“ gemeint? Möglich, etwas in der Art; aber bis ich es begreife, muss ich wieder einmal die halbe freudianische Mystik gekauft haben.

 

 

Bür

Gelsenkirchens vielleicht nicht sonderlich bemerkenswerter Stadtteil Buer ist gleichwohl vielen Deutschen bekannt. Es führt dort nämlich eine Autobahn vorbei, auf der es oft bemerkenswerte Staus zu geben scheint, und diese werden dann getreulich im Verkehrsfunk angesagt: … zwischen Herten und Gelsenkirchen-Bür … Das kenne ich. Als ich dort in den fünfziger Jahren einen Sommer lang jeden Morgen mit einem Geschirr voller Kaffeeersatz aus einem großen Waschkessel zur Zeche Graf Bismarck, ja, latschte, hieß der Ort anders, nämlich 'Buhr'. 

     Klar kann nicht jeder alles wissen. Die Halbinsel Pellopóhnes, von der ein Nachrichtensprecher Erderschütterungen zu melden hatte, muss nicht jedem bekannt sein – obwohl es nicht unfair wäre, in dem Spiel Trivial Pursuit, zu dem geworden ist, was früher Bildung hieß, nach der Wiege der europäischen Kultur zu fragen, mit P. Dass bei etlichen nordwestdeutschen Ortsnamen gedehnte Vokale aus sprachhistorischen Gründen anders gekennzeichnet werden als sonst im Deutschen, nämlich mit einem e oder i statt einem h, braucht aber wirklich niemand explizit zu wissen. Dass sich infolge dieses orthographischen Relikts dort ein paar Namen anders aussprechen, als man denken möchte, könnte einem allerdings aufgefallen sein, wenn man mit offenen Ohren durchs Leben geht. Wer in einer größeren Runde etwa 'Bochum' mit kurzem o ausspricht, wird unweigerlich von jemandem darauf aufmerksam gemacht: Es heißt nicht Bochum, sondern Boh-chum. Bür-Sager aber erfahren solche Belehrung anscheinend nie. Auch nicht, wenn sie das richtige Sprechen zu ihrem Beruf gemacht und während ihrer Dienstschicht alle paar Minuten geographische Namen zu verlesen haben. Sie merken es nicht einmal dann, wenn sie ganz in der Nähe wohnen und arbeiten. Dass sich also Coesfeld nicht 'Cösfeld', sondern 'Cohsfeld' spricht, Soest nicht 'Söst', sondern 'Sohst', Straelen nicht 'Strälen', sondern 'Strahlen', Grevenbroich nicht 'Grewenbreuch', sondern 'Grevenbrohch', Troisdorf nicht 'Treusdorf', sondern 'Trohsdorf', aber, so inkonsequent ist die Sprache, Oelde tatsächlich 'Ölde'. Bei den verschiedenen 'Laer' scheint man sich auch an den Orten selbst nicht ganz einig zu sein. 

     Verkehrsfunk wirkt. Erst durch sein Insistieren habe ich schließlich gelernt, dass jene baden-württembergische Stadt nicht 'Neckars-ulm' heißt, sondern 'Neckar-sulm', nach den Flüssen Neckar und Sulm. Aber wenn nun BerufssprecherInnen bei großen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten das brandenburgische Ziesar, ebenfalls in der Nähe einer Autobahnauffahrt, nicht dreisilbig 'Zi-e-sar', sondern 'Zihsar' aussprechen, die Stadt Ganderkesee 'Ganderkäse' – und eben jenes Buer unbeirrbar 'Bür', Verkehrsansage auf Verkehrsansage, Tag um Tag, Monat um Monat, Jahr um Jahr – was sagen sie uns damit? Dass Buer inzwischen tatsächlich Bür heißt, vielleicht weil ihr Vorbild selbst vor Ort Schule gemacht hat? Dass die Sprecher von ihrem Arbeitgeber zwar gehalten zu sein scheinen, sich wortreich zu entschuldigen, sobald ein Telefongespräch mit Timbuktu tontechnisch nicht Topstudioqualität hat, es aber offenbar schnurzegal ist, wie was ausgesprochen wird? Jedenfalls, dass keinem Sprecher je empfohlen zu werden scheint, sich vor dem Verlesen der fremden Texte selber kundig zu machen. Dass infolgedessen jahre-, jahrzehntelang die Stadt Chicago auch unbeanstandet 'Tschikago' ausgesprochen wird, der Staat Michigan 'Mitschigen'. Und das, obwohl sich die Sprecher hierzulande sonst die Zunge abbrechen müssen, um jeden ausländischen Namen um jeden Preis originalgetreu über die Lippen zu bringen, selbst wo seit Urzeiten völlig zufriedenstellende phonetische Eindeutschungen in Gebrauch sind, siehe 'Warrthelohna' und 'Budapescht'. Budapest auf keinen Fall, aber Bür. Das Bravourstück dieser marottenhaften Deutschphobie lieferte jener penible Nachrichtensprecher des Deutschlandfunks, der den karibischen Hurrican Wilma bemüht angloamerikanisch 'Uilme' aussprechen zu müssen meinte, Tage bevor dieser das anglophone amerikanische Festland erreichte.

     In den riesigen öffentlich-rechtlichen Rundfunkapparaten ist offenbar keine halbe Planstelle für einen Ausspracheberater vorgesehen, und kein Verantwortlicher hört je selbst hinein in solche banalen eigenen Sendungen. Darum hier der Hinweis, dass der Westdeutsche Rundfunk die Aussprachen für alle deutschen Autobahnanschlussstellen sogar ins Internet gestellt hat, wenn auch ohne Hinweis auf die Tücke von Ziesar und mit einer falschen Empfehlung für Laer: www.wdr.de/online/verkehr/aussprache.

 

 

Bürger

Ein Wort als Waffe: Bürger. "Bürgerliche Ressentiments!" "Du Kleinbürger!" "Du Bildungsbürger!" "Du Bürger!" Und schon müsste sich der so Titulierte eigentlich zu Tode schämen. Eine ganze Generation – zeitlich umschrieben mit „die Achtundsechziger“ – hat sich damit gegenseitig gequält. Für einen Bürger gehalten zu werden, war fast das Unangenehmste, was einem widerfahren konnte, unangenehm auch darum, weil man sich gegen den Bürger-Verdacht nicht zur Wehr setzen konnte. Das Wort schillerte so ungemein vieldeutig. Es war wie ein Vorwurf, dessen Wortlaut man nicht verstand. Da in irgendeinem Sinn mit Sicherheit jeder ein Bürger war, ließ er sich nicht abwenden und nicht widerlegen. Wie man sich in seinem Denken und Tun auch drehte und wendete, es hatte immer schon von vornherein Recht. Was hat dieses Wort, das es zu einem so effektvollen Schimpfwort macht?

      An seinem Ursprung war es nichts als eine sachliche und völlig harmlose Bezeichnung, die den Wohnort angab. Ein Bürger war derjenige, der im Schutz einer Burg wohnte – nicht der Burgherr und seine Familie, aber alle anderen. Schon im Althochdeutschen existierte der púrgari, der Burgbewohner. Innerhalb der schützenden Burgmauern sammelten sich im Mittelalter außer der Streitmacht des Burgherrn Handwerker, Händler und andere „Dienstleister“ zuhauf, sie allesamt Bürger.

      Aus den Ritterburgen mit allerlei Personal drum herum wurden Ortschaften mit einer Burg in der Mitte, und dann auch ohne Burg. Als der Ansiedlungsring um die Burg eine gewisse Größe und mit ihr eine gewisse Eigenständigkeit erworben hatte, trat für ihn das Wort 'Stadt' auf den Plan, das ursprünglich nur soviel wie 'Ort', 'Stätte' bedeutet hatte. Es ist um Jahrhunderte jünger als 'Burg', denn es kam erst in Gebrauch, als die 'Burg' selbst von ihrer Umgebung begrifflich unterschieden werden musste. Als im 12. zwölften Jahrhundert Stadtverfassungen entstanden, erweiterte sich der Sinn von Bürger folgerichtig zu 'vollberechtigter Einwohner einer Stadt'. Aber ein Bürger blieb dieser; das Wort 'Städter' kam erst sehr viel später auf und war noch im 18. Jahrhundert eine vertraulich-umgangssprachliche Rarität.

     Dieser mittelalterliche Bürger fügte sich in die übersichtliche Rangordnung des Abzählreims: Kaiser, König, Edelmann, Bürger, Bauer, Bettelmann, vereinfacht zu Adelige, Bürger, Bauern und Besitzlose. Oben die Inhaber der weltlichen Macht, unten die arbeitende Landbevölkerung, und dazwischen mit wachsendem Selbstbewusstsein die Bürger. Allerdings ignorierte dieses eingängige Vierschichtenmodell große Gruppen der Bevölkerung: den Klerus, die Soldaten, die Schüler, Studenten, Lehrlinge und Gesellen. Auch bestand die Unterschicht keineswegs nur aus Bettlern. Zu ihr gehörten die Vaganten wie Gaukler und Spielleute, die Juden, die Zigeuner und die Recht- und Ehrlosen wie Henker, Schergen, Büttel, Abdecker, Bader, Türmer, aber auch Leinweber und Müller – ein Sammelsurium von Menschen mit minderen Rechten, eine Schicht der Unterprivilegierten, eine Art Lumpenproletariat, bevor diese Begriffe erfunden waren.

     Dem Begriff Bürger blieb immer etwas von der einleuchtenden Anschaulichkeit seines Ursprungs, des krassen Unterschieds zwischen Stadt und Land: Im Schweiß seines Angesichts beackerte der Bauer das weite Land, an einigen Stellen spitzte sich dieses zu den Orten der Macht zu, wo gar nicht gearbeitet wurde, und an den Flanken der Ritterburgen entwickelte sich die wachsende die Zwischenklasse der Bürger, die sauberere Arbeit verrichteten als die Ackerbauern und anständigere als die Unterschicht. Der Bürger war zwar kein Adeliger und konnte diesen höchstens im Lebensstil nachahmen, er brauchte sich aber die Hände nicht schmutzig zu machen wie der Landmann, eroberte sich innerhalb seiner Zünfte auch eine gewisse Eigenständigkeit und war aber damit "etwas Besseres".

      Im sechzehnten Jahrhundert wurde eine deutsche Übersetzung von civis romanus benötigt, dem stolzen Untertanen des römischen Kaisers. (Zunächst war der civis nur ein freigeborener Bürger der Stadt Rom; erst 212 erhielten durch einen Erlass von Kaiser Caracalla alle freigeborenen Bewohner des Imperium Romanum das volle Bürgerrecht.) Ein römischer civis musste kein Stadtbewohner sein und ein Burgbewohner schon gar nicht; es war überhaupt gleich, wo im Römischen Reich er ansässig war und wovon er lebte. Trotzdem war es eine nahe liegende Wahl, civis mit Bürger zu verdeutschen. Der Bedeutungsakzent lag auf "vollberechtigtes Gemeinschaftsmitglied", und dem wurde das Wort Bürger durchaus gerecht. So kam dieser Begriff zu seiner dritten Bedeutung nach 'Burgbewohner' und 'Stadtbewohner': 'Staatsangehöriger'. Als deutsche Entsprechung zum französischen Citoyen erhielt der so verstandene Bürger mit der französischen Revolution eine frische Injektion von Selbstbewusstsein. Bürger war ein Ehrenname, und alle waren Bürger. Der Doppelsinn war für Kant offensichtlich: Der französische Bourgeois war im Deutschen der Stadtbürger, der Citoyen der Staatsbürger, auch der "bewusste", der "politische" Staatsbürger, gewillt, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Für den, der es nicht so genau ausbuchstabieren wollte, waren beide kurzerhand Bürger.

     Diesen Doppelsinn hätte das Wort leicht verkraftet; der jeweilige Zusammenhang hätte ausreichend klargemacht, welcher Bürger gerade gemeint war. Schwerer machte ihm zu schaffen, dass sich die eine seiner beiden Bedeutungen, 'Stadtbürger/Bourgeois', nebenher schon früh pejorativ aufzuladen begann. Es konnte nicht ausbleiben, dass Menschen, die viel mit vollberechtigten, also wohletablierten Stadtbürgern zu tun hatten, aber selber nicht zu ihnen gehörten, sie nicht mochten. Dann blickten sie hochnäsig auf sie hinab (der Adel) oder neidisch-ablehnend zu ihnen hinauf. Die comme il faut bewaffneten Adeligen verspotteten die nur mit Schilden versehenen Stadtbürger als Schildbürger. Nachdem dieses Wort zu einem Synonym von 'Narr' geworden war, kam um die Mitte des 17. Jahrhunderts in der Studentensprache das Spottwort Spießbürger auf (dessen Kurzform Spießer erst vom Ende des 19. Jahrhunderts stammt; es wurde der Jagdsprache entnommen, in der der Junghirsch Spießer heißt). Damit war eine ganz neue Bedeutungskategorie ins Spiel gekommen, eine sozusagen charakterologische. Denn diese Art von Bürger war man nicht durch seinen Wohnsitz oder durch irgendeine soziale Zugehörigkeit, sondern gleichsam qua Temperament: der engstirnige, selbstgefällige, dummstolze, langweilige 'Philister'. Sein Standardepitheton wurde 'bieder'. Hatte es einmal 'brauchbar', 'tüchtig' und 'rechtschaffen' bedeutet, so war es im 18. Jahrhundert zu 'borniert' heruntergekommen.

Ein Begriff mit einem neutralen sozialen Doppelsinn war damit zusätzlich zu einem Spottwort mutiert, ohne dass dieses die älteren Bedeutungen außer Kraft setzte. "Du bist ein Bürger" – am Ende des 18. Jahrhunderts konnte das bedeuten: Du bist ein Städter, du bist ein Staatsbürger, du bist ein Philister. Das machte das Beschimpfen leicht, denn in mindestens einem Sinn war es fast immer richtig.

      Den entscheidenden Dreh gab dem Begriff dann aber Karl Marx. In seinem brachialen Versuch, die gesamte Sozialgeschichte der Welt als eine gesetzmäßige Folge von Klassenkämpfen zu interpretieren und der Gegenwart den letzten und dramatischsten dieser Kämpfe vor der Errichtung der klassenlosen Gesellschaft zu attestieren, brauchte er zwei sich aktuell bekriegende Klassen. Er fand sie in den Inhabern der Produktionsmittel einerseits und den ausgebeuteten Lohnarbeitern andererseits. Diese nannte er Proletarier, jene Bourgeois oder Bürger. "An die Stelle der Manufaktur", heißt es im Kommunistischen Manifest, "trat die moderne große Industrie, an die Stelle des industriellen Mittelstandes traten die industriellen Millionäre, die Chefs ganzer industrieller Armeen, die modernen Bourgeois … Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat …" Der Bürger war damit zum Schicksalsfeind des Arbeiters erklärt.

     Ein Teufel muss Marx geritten haben. Es war schließlich offensichtlich, dass die Stadtbürger, die Bourgeois in ihrer großen Mehrheit keine industriellen Millionäre, keine Chefs industrieller Armeen waren, keine "Kapitalisten" (das heißt Menschen, die von der Arbeit anderer leben), sondern in heutigem Sprachgebrauch mittelständische Handwerker und Kaufleute sowie Beamte und Angestellte aller Sorten. Um diesem störenden Umstand Rechnung zu tragen, behalf sich Marx mit dem Begriff Kleinbürger. Der Kleinbürger, dafür bürgte schon seine Bezeichnung, war nichts als der Marx'sche Bürger, nur ohne eigenes Kapitalvermögen und die damit verbundene Ausbeutungsmacht. Er war ein bloß ideeller Bürger, was ihn nicht hinderte, im Klassenkampf auf der Seite der richtigen Bourgeois zu stehen. Er war – mit einer Formel aus den 68-ern – der "Lakai des Kapitals".

     In welche gedanklichen Schwierigkeiten einen die gewaltsame Umdefinition und Aneignung eingeführter Begriffe bringt, zu welchen Sophistereien sie einen nötigt, demonstrierte Marx in seiner Streitschrift wider seinen Philosophenfeind Max Stirner (von ihm als "Sankt Max" verspottet) gleich selber: "Es ist unserm Schulmeister [Stirner] nicht entgangen, dass in neuester Zeit die Liberalen mit den Bourgeois identifiziert wurden. Weil Sankt Max die Bourgeois mit den guten Bürgern, den kleinen Deutschbürgern identifiziert, fasst er das ihm Tradierte nicht, wie es wirklich ist und von allen kompetenten Schriftstellern ausgesprochen wurde – nämlich so, dass die liberalen Redensarten der idealistische Ausdruck der realen Interessen der Bourgeoisie seien, sondern umgekehrt, dass der letzte Zweck des Bourgeois der sei, ein vollendeter Liberaler, ein Staatsbürger zu werden. Ihm ist nicht der bourgeois die Wahrheit des citoyen, ihm ist der citoyen die Wahrheit des bourgeois. Diese ebenso heilige als deutsche Auffassung geht so weit, dass uns 'das Bürgertum' (soll heißen die Herrschaft der Bourgeoisie) in einen 'Gedanken, nichts als einen Gedanken' verwandelt wird und 'der Staat' als 'der wahre Mensch' auftritt …" (Die deutsche Ideologie). Verstanden? Ist nun der Bourgeois der Bürger und dieser der Kleinbürger und dieser der Citoyen und dieser der Liberale, oder gerade nicht?

      Aber das ist hängen geblieben. Links im Spektrum der politischen Meinungen war der Bürger hinfort anrüchig. In der Bedeutung des Wortes waren auf denkbar diffuse Weise Kapitalisten, Kapitalistenknechte, Faulenzer (nicht von ihrer Hände Arbeit lebende Menschen) und Spießer amalgamiert. Um das Jahr 68 war der deutlichste Sinn, der sich in dem Wort Bürger erkennen ließ, schlicht 'nichtsozialistisch' – genauer: nicht zu dem Konventikel gehörig, der meinte, den Sozialismus für sich gepachtet zu haben, und bei allen anderen das bürgerliche Denken entlarvte. In dem Begriff vermengen sich so viele semantische Farben zu einer verschwommenen, fast leeren Großbildwand, dass sich unterschiedliche gerade akute soziale Antipathien darauf projizieren lassen. Der Bürgerschreck: geradezu eine gesellschaftliche Heldentat.

"Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut" – welchem der vier Bürger? Dennoch sehen wir ihn prompt vor unserem inneren Auge, wie gezeichnet von George Grosz, ein stiernackiger Kerl mit Zigarre, wahrscheinlich borniert, wahrscheinlich rücksichtslos.

Manchmal aber tat das Wort auch plötzlich wieder harmlos und wollte nichts anderes als 'Stadtmensch' oder 'Staatsbürger' heißen. Trotz seiner Vieldeutigkeit ist und bleibt das Allzweckwort offenbar unentbehrlich. Die DDR hatte mit der Verstaatlichung der Produktionsmittel das Bürgertum, die Bourgeoisie als Klasse offiziell abgeschafft. Aus Marx' Proletariern (also Industriearbeitern) waren nach der Ausschaltung der verhassten Großgrundbesitzer ('Junker'), die natürlich zur Bourgeoisie gezählt wurden, 'Arbeiter und Bauern' geworden. Nach der Kollektivierung der Kleinbauern, die diese de facto zu Landarbeitern machte, war 'Bauer' eigentlich hinfällig; trotzdem waren noch nicht alle 'Arbeiter', denn da blieb die große Gruppe der Angestellten und der Intelligenzler, die nicht in das Marx'sche Begriffsschema passten. So wurden alle miteinander zu "Werktätigen" umgetauft, und damit war nunmehr die ganze arbeitende Bevölkerung auf der guten unbürgerlichen Seite untergebracht. Trotzdem kam auch die DDR nicht ohne das verschriene Wort aus. Jeder, der nicht Genosse war, wurde offiziell als Bürger angeredet. In der Bedeutung 'Staatsbürger' lebte es also munter fort, und wieder war eine Zweiteilung der Gesellschaft da, die in Parteigenossen (die Teilhaber der Macht) und gewöhnliche Bürger. So wie es heute in der ehemals strikt antibürgerlichen Linken fortlebt, wenn sie sich auf Bürgertugenden besinnt und die Bürgergesellschaft auf ihr Panier schreibt.

     Seine Effektivität als Spott- und Schimpfwort scheint derzeit abzuklingen. Bürger zu sein ist nicht mehr von vornherein eine Schande. Hier und da wird eine "Neue Bürgerlichkeit" ausgerufen. Was das sein soll, weiß man nicht so recht – nur, dass manche Medien eine Rehabilitierung des Begriffs Bürger entweder befürchten oder betreiben. Trotzdem liegt die Injurie noch auf der Lauer. 'Bürger' heute: Das ist ein durch keine bestimmte soziale Zugehörigkeit definierter, aber in seiner Durchschnittlichkeit und Beschränktheit irgendwie unerfreulicher Zeitgenosse, der meint, etwas Besseres zu sein und sich mit Statussymbolen umgibt, die falsche Rolex am Handgelenk, das blankgewienerte dicke Auto gut sichtbar in der Garageneinfahrt. Dieser Bürger konstituiert keine Klasse, nicht einmal eine Schicht, höchstens eine informelle Koalition von Milieus. In diesem Sinn bleibt das Wort unentbehrlich. Auch dem, der ihm generell misstraut, rutscht es in bestimmten Situationen unweigerlich heraus.

     Trotzdem brauchte sich heute niemand mehr von ihm bange machen zu lassen. Der beste Weg zu so viel Zivilcourage ("Bürgermut") ist es, seine wechselvolle Geschichte zu durchschauen, und einen etwaigen Vorwurf einfach mit "Wie meinen?" zu kontern.

 

 

Falsche Freunde

Von den ungezählten Anglizismen und Internationalismen, die seit dreißig Jahren ins Deutsche einströmen ("Denglisch), kommen viele so heimlich, dass man sie kaum bemerkt. Deutsche Wörter, Wendungen und Redensarten werden nach englischen Mustern neu gebildet, oder vorhandene deutsche Wörter verschieben ihre Bedeutung so, dass sie deckungsgleich mit analogen englischen Ausdrücken werden.

     Plötzlich heißt das, was immer Nebenwirkungen hieß, Seiteneffekte, und nur wer Englisch kann, begreift, warum: side effects. Plötzlich wird ein Flugzeug von einer Fluggesellschaft operiert, und nicht jeder merkt, dass es gar nicht krank war. Plötzlich versichert einem ein Freund Ich vermisse dich, obwohl man gar nicht verloren gegangen ist. Plötzlich hört man Der Vatikan tut sich hart mit China, wo er sich bis dahin immer nur schwer getan hätte – warum? Weil to work hard oft, immer öfter mit hart arbeiten übersetzt wurde; selbst bei den weichsten Jobs wird heute nicht mehr schwer, sondern hart gearbeitet. Mittlerweile schickt sich hart nunmehr an, schwer ganz zu verdrängen, und nebenbei deklariert es jede Anstrengung zu einer Schicksalshärte um.

     Eine Reihe dieser klandestinen Anglizismen, die sich ins Deutsche einschleichen, sind nichts anderes als Übersetzungsfehler, wie sie gelegentlich in informierenden Medien, massenhaft aber in dilettantisch synchronisierten oder untertitelten Spiel- und Fernsehfilmen vorkommen ("kein Weg).

     Eine besonders gefährliche Falle, in die ahnungslose Übersetzer gerne tappen ("Übersetzen), sind die „falschen Freunde“ (false friends, faux amis). Ein „falscher Freund“ ist ein Ausdruck, der in Lautung oder Schreibung oder beidem einem fremden Wort so ähnlich ist, dass er sich als dessen Übersetzung anbietet, anbiedert, ja geradezu aufdrängt, obwohl er etwas ganz anderes bedeutet. In den französisch-deutschen Sprachbeziehungen zum Beispiel sind délicatesse und Delikatesse, humeur und Humor solche falschen Freunde. In Wahrheit bedeutet jenes ‘Feingefühl’, dieses ‘Laune’.

     Je verwandter zwei Sprachen sind, desto mehr falsche Freunde gibt es in ihnen; die nahe Verwandtschaft von Deutsch und Englisch führt zu besonders vielen.

     Professionellen Übersetzern sind sie wohlbekannt. Aber wer nicht auf sie gefasst ist, wird das, was er in den Medien hört und liest, oft rätselhaft finden und nicht wissen, warum. Ein Satz wie Eventuell ging sie aus ihrem Heim ins Warenhaus ist nicht geeignet, ohne Umschweife für bare Münze genommen werden. Wer die falschen Freunde kennt, durchschaut, dass er im Original Eventually she went from her home to the warehouse gelautet haben könnte und auf Deutsch ganz anders hätte heißen müssen, nämlich Schließlich fuhr sie von zu Hause ins Warenlager.

     Hier folgt eine Liste der 111 nach meinen Erfahrungen häufigsten falschen Freunde, die dem Übersetzer aus dem Englischen auflauern. Nur wer sie kennt und mit ihnen rechnet, kann sich gegen falsche Übersetzungen behaupten. Jeder von ihnen ist ein Argument gegen die liberale Laxheit jener Linguisten, für sie ein Ausdruck so gut ist wie ein anderer und die der Meinung sind, die Sprache führe besser, wenn ihr niemand irgendwelche Vorschriften machte. Manifeste Ignoranz muss schließlich niemand in der Sprache willkommen heißen. Sie beeinträchtigt die Genauigkeit wie die Verständlichkeit.

abortive attempt ‘gescheiterter Versuch’, nicht ‘Abtreibungsversuch’ (attempted abortion)

actual ‘wirklich’, nicht ‘aktuell’ (current, up-to-date)

administration ‘Regierung’, nicht ‘Administration’

advocate ‘Befürworter’, nicht ‘Advokat’ (attorney, lawyer)

alley ‘Gasse’, ‘(schmaler) Weg’, nicht ‘Allee’ (avenue)

ambulance ‘Rettungswagen’, nicht ‘Ambulanz’ (outpatient clinic)

artist ‘Künstler’, nicht ‘Artist’ (artiste)

balcony oft auch ‘Galerie’, ‘Rang’, nicht nur ‘Balkon’

benzene ‘Benzol’, nicht ‘Benzin’ (GB petrol, US gas)

billion ‘Milliarde’, nicht ‘Billion’ (trillion)

brave ‘tapfer’, nicht ‘brav’ (well-behaved)

briefcase ‘Aktentasche’, nicht ‘Briefkasten’ (letter box)

catcher ‘Fänger’, nicht ‘Ringer’ (wrestler)

character oft 'Figur’ (in einem Buch oder Film), nicht ‘Charakter’

chef ‘Küchenchef’, nicht ‘Chef’ (boss)

class US Altersjahrgang einer Lehranstalt, nicht Klasse (im deutschen Sinn inexistent, brit. form)

closet ‘Wandschrank’, nicht ‘Klosett’ (toilet)

computer science ‘Informatik’, nicht ‘Computerwissenschaft’

confession ‘Geständnis’, nicht ‘Konfession’ (religious denomination)

consequent ‘daraus folgend’, nicht ‘konsequent’ (consistent)

critic auch ‘Literaturtheoretiker’, nicht nur ‘Kritiker’ und ‘Rezensent’

critical oft ‘entscheidend’, ‘lebenswichtig’, nicht ‘kritisch’

cult oft ‘Sekte’, nicht ‘Kult’

curious ‘neugierig’, nicht ‘kurios’ (odd)

decent ‘anständig’, nicht ‘dezent’ (discreet)

definite ‘bestimmt’, nicht ‘definitiv’ (definitive)

director bei Film und Theater ‘Regisseur’, nicht ‘Direktor’

disinterested ‘unvoreingenommen’, nicht ‘desinteressiert’ (lacking interest)

drug oft ‘Medikament’, nicht ‘Droge’

effectively ‘wirksam’, nicht ‘effektiv’ (really)

etiquette ‘Etikette’, nicht ‘Etikett’ (label)

eventually ‘schließlich’, nicht ‘eventuell’ (perhaps)

expertise ‘Sachverstand’, nicht ‘Expertise’ (expert’s report)

fabric ‘Gewebe’, nicht ‘Fabrik’ (factory)

faculty ‘Fähigkeit’, ‘Lehrkörper’, nicht ‘Fakultät’ (department)

famous ‘berühmt’, nicht ‘famos’ (great)

fantasy ‘Tagtraum’, nicht ‘Phantasie’ (imagination)

flipper ‘Flosse’, nicht ‘Flipper’ (pinball machine)

genial ‘liebenswürdig’, nicht ‘genial’ (u. a. ingenious)

genie ‘Flaschengeist’, nicht ‘Genie’ (genius)

gothic US auch ‘grotesk’, ‘schauerlich’

grade US ‘Zeugnisnote’, nicht ‘Grad’ (degree)

gratification ‘Genugtuung’, nicht ‘Gratifikation’ (bonus payment)

gymnasium, gym US ‘Sporthalle’, nicht ‘Gymnasium’ (high school, junior college)

hall oft ‘Lobby’, ‘Diele’, ‘Universitätsgebäude’, ‘Bau’, nicht ‘Halle’

handy ‘bequem’, ‘zur Hand’, nicht Mobiltelefon (‘cell phone’ oder ‘mobile phone’)

hard oft ‘schwer’, ‘schwierig’, nicht ‘hart’

high school ‘Oberschule’, nicht ‘Hochschule’ (college, university)

home oft ‘eigenes Haus’, ‘eigene Wohnung’, ‘Zuhause’, nicht ‘Heim’ wie in ‘Altersheim’ oder ‘Kinderheim’

humanities etwa ‘Geisteswissenschaften’, nicht ‘Humanismus’ (humanism)

humanity ‘Menschheit’, nicht ‘Humanität’ (humaneness)

kindergarten ‘Vorschule’, nicht ‘Kindergarten’

Knickerbocker ‘New Yorker’, nicht ‘Reithose’ (breeches)

liquor ‘Flüssigkeit’, ‘Schnaps’, nicht ‘Likör’ (liqueur)

lyrics ‘Liedtext’, nicht ‘Lyrik’ (poetry)

marmelade ‘Orangenmarmelade’, nicht ‘Marmelade’ (jam)

meaning ‘Bedeutung’, nicht ‘Meinung’ (opinion)

menu ‘Speisekarte’, nicht ‘Menü’ (daily special)

minister oft ‘Pfarrer’, nicht ‘Minister’

mocha US Espresso mit Schokolade, Milch und Sahne, nicht Mokka

mundane ‘weltlich’, ‘schlicht’, nicht ‘mondän’ (chic)

neck ‘Hals’, nicht ‘Nacken’ (nape)

not necessarily ‘nicht unbedingt’, nicht ‘nicht notwendigerweise’

not really ‘eigentlich nicht’, nicht ‘nicht wirklich’

novel ‘Roman’, nicht ‘Novelle’ (novella)

number oft ‘Zahl’, nicht ‘Nummer’

objective ‘Ziel’, nicht ‘Objektiv’ (lens)

offensive ‘anstößig’, nicht ‘offensiv’ (aggressive)

oldie alte Popmusiknummer, alter Witz, nicht altes Auto

ordinary ‘normal’, nicht ‘ordinär’ (vulgar)

overhear ‘mithören’, nicht ‘überhören’

oversee ‘überwachen’, nicht ‘übersehen’

paragraph ‘Absatz’, nicht ‘Paragraph’ (section of a law)

pathetic ‘ergreifend’, nicht ‘pathetisch’ (emotional)

period US auch ‘Punkt’, nicht nur ‘Periode’

popular oft ‘beliebt’ statt ‘populär’

postman ‘Briefträger’, nicht ‘Postmann’

potassium ‘Kalium’, nicht ‘Pottasche’ (potash)

pregnant ‘schwanger’, nicht ‘prägnant’ (concise)

preservative ‘Konservierungsmittel’, nicht ‘Präservativ’ (contraceptive)

principally ‘hauptsächlich’, nicht ‘prinzipiell’ (in principle)

prospect ‘Aussicht’, nicht ‘Prospekt’ (brochure)

provision ‘Vorrat’, nicht ‘Provision’ (commission)

public school GB ‘Privatschule’ statt ‘öffentliche Schule’

pudding ‘Nachspeise’, ‘Pastete’, nicht notwendigerweise ‘Pudding’ (custard)

receipt ‘Quittung’, nicht ‘Rezept’ (recipe, prescription)

reform house ‘Besserungsanstalt’, nicht ‘Reformhaus’ (health food store)

rent ‘Miete’, nicht ‘Rente’ (pension)

romance ‘Affäre’, nicht ‘Romanze’

sensation oft ‘Sinneseindruck’, nicht ‘Sensation’

sensible ‘vernünftig’, nicht ‘sensibel’ (sensitive)

serious ‘ernst’, nicht ‘seriös’ (respectable)

shawl ‘Kopftuch’, nicht ‘Schal’ (scarf)

shellfish ‘Schalentiere’, nicht ‘Schellfisch’ (haddock)

silicon ‘Silizium’, nicht ‘Silikon’ (silicone)

site ‘Platz’, ‘Ort’, ‘Präsenz im Internet’, nicht ‘Seite’ (page)

slip u. a. ‘Unterrock’, nicht ‘Schlüpfer’ (panties) oder ‘Herrenunterhose’ (briefs, underpants)

slipper ‘Hausschuh’, nicht ‘Slipper’ (loafer)

sodium ‘Natrium’, nicht ‘Sodium’

solid-state bei elektronischen Geräten ‘Transistor’, nicht ‘Festkörper’

stadium ‘Stadion’, nicht ‘Stadium’ (stage)

storm oft ‘Gewitter’, nicht ‘(Regen-)Sturm’

student US auch ‘Schüler’, nicht nur ‘Student’ (college student, university student)

sympathetic ‘mitfühlend’, nicht ‘sympathisch’ (nice, likeable)

sympathy ‘Mitgefühl’, nicht ‘Sympathie’ (liking)

take it easy ‘immer mit der Ruhe’, nicht ‘nimm es nicht schwer’ (never mind)

twilight oft ‘Abenddämmerung’, nicht ‘Zwielicht’

ultimate ‘letzte(r)’, ‘endgültig,’ nicht ‘ultimativ’ (as an ultimatum)

undertaker ‘Leichenbestatter’, nicht ‘Unternehmer’ (employer, business man)

unsympathetic ‘ablehnend’, nicht ‘unsympathisch’ (not likable)

vital ‘lebenswichtig’, nicht ‘vital’ (vigorous)

volume oft ‘Umfang’, ‘Lautstärke’, ‘(Buch-)Band’, nicht nur ‘Volumen’, ‘Rauminhalt’

wall ‘Mauer’, nicht ‘Wall’ (rampart)

warehouse ‘Lagerhaus’, nicht ‘Warenhaus’ (department store)

to wonder ‘sich fragen’, nicht ‘sich wundern’ (to be surprised)

 

 

Gemengelage

Die Gemengelage ist in den letzten dreißig Jahren zu einer der Lieblingsvokabeln der öffentlichen Sprache geworden. „Das Hickhack um die Staatsräte-Posten tat ein Übriges. Das ergibt eine brisante Gemengelage, denn untereinander wird kräftig gekeilt …“ – „Das ist die Gemengelage, in der sich die europäische Verfassung befindet.“

     Aber wer weiß schon, was eine Gemengelage ist? Und kann also entscheiden, wo das Wort angebracht ist und wo nicht?

     Ursprünglich stammt der Begriff aus dem mittelalterlichen Flurrecht. Er bezeichnet die gestreute Lage der zu einem Ackerbesitz gehörenden Parzellen. Das Gegenteil ist die Einödlage, bei der die Flurstücke (und ihre verschiedenen Nutzungen) zusammenhängend daliegen, arrondiert sind. Seit langem wird das Wort auch metaphorisch gebraucht, vor allem in der Geschichtsschreibung, der Soziologie und der Publizistik, und dagegen ist an sich nicht das mindeste einzuwenden. In diesem übertragenen Sinn ist die Gemengelage eine Situation, an der auf schwer entwirrbare Weise verschiedene Einflussfaktoren beteiligt sind. Die metaphorische Gemengelage hat oft ein Adjektiv bei sich. Sie ist schwierig, komplex, kompliziert, diffus, konfus, unübersichtlich, wirr, verworren, unentwirrbar, undurchsichtig, vertrackt, verzwickt, unsicher, gefährlich, beängstigend, aber nie so günstig, vorteilhaft, vielversprechend, wie es die wortwörtliche Gemengelage ebenfalls sein könnte – und schon das deutet darauf hin, dass der ursprüngliche Sinn in Vergessenheit gerät.

     Wenn die Zeit schreibt, der Konzern Microsoft sei eine Gemengelage unterschiedlicher Firmen mit Bill Gates an der Spitze, ist dem Autor der ursprüngliche Sinn offenbar so deutlich präsent, dass er damit sogar seinen Scherz treiben kann. In einem Satz dagegen wie „Es wandelt sich die parteipolitische Gemengelage“ bedeutet das Wort nur noch so viel wie ‚(irgendwie konfuse) Situation’. Wenn ein Politiker die Stimmung in Ostdeutschland als eine „Gemengelage von Nostalgie und Frustration“ bezeichnet, meint er schlicht ein Gemenge, das er durch eine wichtigtuerische Verlängerung sprachlich ein wenig aufmotzt.

     Und was bedeutet sie, wenn ein Pfarrer (im Internet) Folgendes predigt? „Wenn wir uns selbstkritisch betrachten, dann werden wir feststellen, dass unsere Motivationen immer ein Gemenge sind, … viele eigennützige Motive [bestimmen] unser Handeln und Gutes-Tun mit … Wir werden nur ganz selten aus der Gemengelage herauskommen. Aus der Gemengelage unserer Motivationen und aus der Gemengelage, in die das Tun des Guten immer wieder gerät, wenn es öffentlich getan wird … Wir werden darum in der Gemeinde auch weiterhin Sponsoren in der Zeitung abbilden und ihnen danken für ihre Spende.“ Hier ist der ursprüngliche Sinn gänzlich entschwunden, und die Gemengelage ist nur noch, was sonst ein Dilemma heißt – das Dilemma, Geldgeber im Gemeindeblatt dankbar abbilden zu müssen und es nicht zu wollen.

     Geht auch das in Ordnung? Gemengelage als bloßes Synonym für ‚vertrackte Situation’? Die Ausweitung eines fortgesetzt ungenau gebrauchten Begriffs lässt sich natürlich nicht aufhalten. Aber man muss sich über den Preis jeder solchen Bedeutungserweiterung klar sein. Wenn die Gemengelage vollends ausgeleiert ist, haben wir zwei Wörter für den Begriff Klemme, von denen eins überflüssig ist – und keines mehr für eine Gemengelage.

 

 

Globalesisch

Die Welt wird immer globaler", orakelte ein Intelligenzblatt neulich. Auch sprachlich, kann man nur hinzusetzen.

     Durchaus global breitet sich ein pidginartiges Kauderwelsch aus Wortfragmenten internationaler Provenienz heraus. Oft sind sie englischer Herkunft, oft gräkolateinischer, manchmal lässt sich ihnen ihre Herkunft nicht mehr ansehen. Es ist ein eigenes Rumpfvokabular, bestehend aus nur einer Handvoll Stummelwörter, zwei Hundertschaften etwa, oder sagen wir: vier Hundertschaften, denn bei systematischer Suche ließen sich möglicherweise doppelt so viele finden, aber nicht beliebig viele: absolut, aktiv, anti, audio, auto, basis, bio, boom, boss, box, business, call, care, cash, casting, center, chance, check, chip, city, classic, clean, clip, club, cluster, code, collect, color, com, compact, concept, contra, cool, crash, cyber, data, deko, demo, depot, design, desk, dialog, digi(tal), direkt, display, doku, download, drive, duo, euro, ex, exit, exklusiv, expo, express, extra, fast, feature, fit, flat, flex, food, force, fuck, fun, gastro, giga, global, guide, hit, horror, hotline, hybrid, hyper, info, infra, inklusiv, instant, inter, invest, job, junior, kid, king, kit, klick, kombi, label, ine, live, logo, lounge, mail, matic, max(i), media, mega, menu, metro, mini, minus, mix, mobil, monster, multi, net, office, okay, öko, on, online, pack, park, partner, party, pay, pic, pix, player, plus, point, polit, poly, pop, post, power, premium, pro, problem, product, profi, pseudo, psycho, queen, quick, rapid, rate, ray, real, relax, report, saga, sat, select, semi, senior, senso, service, set, sex, shock, shoot, shop, show, sign, smart, snack, soft, song, sound, speed, spezial, spot, star, start, station, stop, story, street, super, surf, system, team, tech, techno, teen(ie), tele, terror, test, text, thermo, ticket, tipp, top, total, tour, track, trans, transfer, transit, trend, turbo, tv, ultra, uni, upgrade, user, via, video, vita, ware, web, world, zoom

     Diese Wortstummel sind meist unflektierbar und lassen sich fast beliebig miteinander kombinieren, auch zu längeren Ketten. Niemanden würde ein Super Sex Gastro Premium Service verwundern. Vielfach können sie nicht einmal einer bestimmten Wortklasse zugeordnet werden – man erkennt oft nicht, ob man ein Substantiv, Adjektiv, Adverb, eine Präposition oder ein bloßes Affix vor sich hat oder mal dies und mal das. Eines sind die allermeisten jedenfalls nicht: Verben. Die fehlen dem globalesischen Wortschatz bisher weitgehend. Wo ausnahmsweise ein Verb in diesen Modestrudel gerät, müsste es beim Gebrauch als Verb auf der Stelle flektiert werden, zumindest den deutschen Infinitiv zulassen: Zu shoot müsste shooten entstehen, und damit verlöre das Wort das Hauptcharakteristikum des Globalesischen: die universale Einsatzbarkeit. Ohne Verben aber keine vollständigen Sätze und mithin keine Satzgrammatik. Zu einer eigenständigen internationalen Behelfssprache fehlt dem Globalesischen derzeit immer noch eine Grammatik. Man kann damit nur benennen, aber keine Aussagen treffen.

     Sonst sprächen wir längst alle so.

     Die meisten dieser Wortstummel, wie gesagt, sind englischer Provenienz, aber nicht alle; und viele der aus ihnen spontan gebildeten Zusammensetzungen wirken auf englische Muttersprachler nicht weniger neu und zunächst fremd als auf ihre Anwender irgendwo sonst auf der Welt. Darum ist es zweckmäßig, Globalesisch und Denglisch, Globalisierung und Anglisierung des Deutschen zu unterscheiden. Es ist der Tag vorstellbar, an dem die Anglisierung langsamer wird und die Globalisierung sich beschleunigt, aber mit anderen Zulieferanten.

     Zur Zeit jedenfalls – seit gut drei Jahrzehnten – verstärken sich beide Prozesse gleichzeitig und bewirken im Lexikon und in der Idiomatik den stärksten und schnellsten Sprachwandel, der je im Deutschen stattgefunden hat.

     Ein gewaltiger Traditionsbruch steht uns somit ins Haus. Oder was heißt „steht ins Haus“: Wir befinden uns längst mittendrin. In einigen Jahrzehnten wird die Sprache der deutschen Literatur bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts für den Normalbürger genauso schwer verständlich sein wie für uns das Mittelhochdeutsche. Wie auch nicht? Die Sprache kann sich nicht weniger verändern als das Leben.

     Ein Schriftsteller, der sich seines Werkzeugs bewusst ist, spürt diesen Bruch genauer als der theoriebeschlagenste Linguist, der seinem Untersuchungsgegenstand prinzipiell mit stoischer Neutralität gegenübersteht. Der Schriftsteller Eckhard Henscheid, immer auch aufmerksamer und leidenschaftlicher Beobachter sprachlicher Innovation, sagte es so: „Zirka 51 Prozent eines guten Buchs bestehen aus wörtlichen, verdeckten oder Stilzitaten. Wenn davon jetzt schon 66 Prozent, künftig 90 Prozent nicht mehr verstanden werden, ist es mit der Literatur zu Ende.“ Gegenfrage des Interviewers: „Was ginge verloren, wenn es das Deutsche nicht mehr gäbe?“ Henscheid: „Neben dem geradezu italienisch Klangvollen vieler Konjunktive – wie betörte, beschliefe, ersänne – ginge verloren vor allem das wiesengrundmäßig mühlradkühl Gründelnde, kurz: der Eichendorff’sche Herzensgrund“ („Täglicher Sprachdreck“. München: Focus, 11, 14. März 2005, S. 68).

     Schon zwanzig Jahre vorher, als der Prozess noch längst nicht so offensichtlich war, hatte Henscheid vorausgesagt, dass mit den Wörtern eine ganze Kultur auf Nimmerwiedersehen verschwinden werde: „Nicht leicht zu sagen, was zuerst dahinstirbt, die Wörter oder die von ihnen bezeichneten Zivilisationswelten. Alle Differenzierung, Verfeinerung der Gefühle, Verhaltensweisen, Geselligkeitsformen usw., all das, was wohl im 18. und 19. Jahrhundert sein an der überlieferten Kunst-, aber auch Verkehrssprache ablesbares Oberstes erklommen hatte, sinkt zurück, regrediert schmachvoll, hat kein Äquivalent in etwelcher mitteleuropäischen Wirklichkeit mehr. Und schon um die Jahrhundertwende herum wird, mich und ein paar alte Esel ausgelassen, niemand mehr wissen noch wissen mögen, was gemeint ist mit jenen dem Überfluß entströmten Sprachleistungen, die heute schon auf Pretiosen heruntergekommen sind: ‚Ich kann nicht umhin‘, ‚bedauern‘, ‚mit etwas zufrieden sein‘, ‚entraten‘, ‚sich eines Rates entschlagen‘, ‚erbittert‘, ‚sich grämen‘, ‚verargen‘, ‚argwöhnen‘, ‚es ziemt sich‘, ‚er verfehlte nicht, huldigend seinen Tribut zu zollen den Schätzen seiner Muttersprache‘ … (Eckhard Henscheid, Sudelblätter, Zürich: Haffmans, 1986, S. 336/7).

 

 

Kontingenz

In seinem Buch Unsterbliche (2004) erzählt Friedrich Kittler von dem Philosophen Niklas Luhmann, dieser sei einmal gefragt worden, seit wann er „Kontingenz denke“. Als ich das las, fand ich schon die Frage komisch, aber mehr noch Luhmanns Antwort: „Herr X, unsere Gymnasialklasse ist 1945 noch zur Wehrmacht einberufen worden. Ich stand mit meinem Banknachbarn an der Brücke Y, zwei Panzerfäuste in vier Händen. Dann machte es Zisch, ich drehte mich um – da war kein Freund und keine Leiche, da war nichts. Seitdem, Herr X, denke ich Kontingenz.“

     Je mehr ich über die Geschichte nachsann, desto weniger komisch kam sie mir allerdings vor. Zum einen, weil Luhmann gar nicht, wie Kittler zu vermuten scheint, von der nicht hundertprozentigen „Trefferrate amerikanischer Panzergranaten“ gesprochen hatte, sondern davon, wie er mit seiner Panzerfaust versehentlich seinen Schulkameraden weggepustet hatte. Zum andern, weil ich nicht beurteilen kann, wie gescheit Frage und Antwort eigentlich waren. Komisch hatte ich nur die bedeutungsschwere Großspurigkeit der Frage gefunden („Seit wann denken Sie Abrakadabra?“) und dass Luhmann den penetranten Fragesteller so souverän abgebürstet hatte. Denn es tut mir leid, ich selber kann es einfach nicht, habe es nie gekonnt und werde es wahrscheinlich niemals können: Kontingenz denken. Wenn ich in der Zeitung auf einen Satz stoße wie „die Zuschauer im Fußballstadion berauschen sich an den Mysterien der Kontingenz“, fängt mir der Kopf ganz eigentümlich an zu schwirren. Da berauscht sich also ein ganzes Stadium nicht an Bier, sondern an Kontingenz, nur ich kann nicht mitmachen. Alle scheinen etwas zu wissen, was nur ich nicht weiß und nicht mehr erfahren werde.

Die Kontingenz fehlt heute in keinem kulturphilosophischen Text, der auf sich hält ("Formatierungen des Echten). Aber was bedeutet sie? Wenn ich ihr begegnet bin, habe ich oft in allen erreichbaren Wörterbüchern ihre Definitionen nachgeschlagen und in den jeweiligen Satz eingesetzt. In lernpsychologischen Texten passte ‚Angewiesenheit eines Ereignisses auf ein anderes’ oft recht gut. In anderen ergab ‚etwas Mögliches, aber nicht Notwendiges’ oder schlicht ‚Zufall’ manchmal einen Hauch von Sinn, oft aber wurde der Satz dadurch noch mysteriöser. Bei ‚Ereignishaftigkeit’ oder ‚Eventualität’ verdunkelte er sich vollends. Manchmal schien ‚Nähe’ oder ‚Nebeneinander’ oder ‚Notwendigkeit’ oder ‚unhinterfragbares Miteinander’ das einzig Sinnvolle – stellte einen dann aber vor die Frage, warum etwas so Simples so mysteriös ausgedrückt werden musste.

     Es ist dies ein eklatantes Beispiel dafür, dass sich Bedeutungen nur sehr schwer und manchmal gar nicht aus ihren Wörterbuchdefinitionen lernen lassen. Man lernt die Bedeutung eines Worts auf ganz andere Weise: indem man Sätze hört und liest, in denen es verwendet wird, und diese zu verstehen sucht. Der Satzzusammenhang lässt im Gehirn verknüpfte Sinnstellen entstehen. Wenn eine davon zunächst leer bleibt, eine Wild Card sozusagen, ein Joker, so beginnt man zu raten, also den Inhalt des fraglichen Begriffs immer genauer zu denken, und sobald man sicher genug ist, dass man ihn erfasst hat, übertragt man den an das rätselhafte Wort gekoppelten Begriff erst tastend und dann immer mutiger in selbstproduzierte eigene ähnliche Text- und Satzzusammenhänge.

Wer seine Seminare in Zeiten abgeleistet hat, als höchstens Philosophiestudenten von Leibniz’ Kontingenztheorie gehört hatten und Kontingenz in den Sozialwissenschaften noch kein ubiquitärer Begriff war – tatsächlich, solche Zeiten gab es, und es ist noch gar nicht so lange her, dass ganze Universitäten ohne jede Kontingenz auskamen –, wird vielleicht nie dahinter kommen. Er muss dankbar sein, wenn die gemeinte Bedeutung ausnahmsweise mitgeliefert wird: „... dass die in einem Wort jeweils festgewordene Vereinigung von Form und Inhalt kontingent ist, also keine tiefere Rechtfertigung als eben ihre Tatsächlichkeit hat“. Und er ist entschuldigt, wenn er aller Nachhilfe zum Trotz bei dem Verdacht bleibt, dass Kontingenz oft gar nichts Bestimmtes bedeutet, sondern nur ab und an als Erkennungsmarke eingestreut wird, um dem Leser zu zeigen: Dieser Autor ist nicht von gestern. Zum Beispiel die Autorin einer Rundfunkrezension (Julia Schröder über W.G. Sebald): „Die postume Kontingenz, die uns alle mit den Toten vereinen wird ...“ Die hatte Luhmann jedenfalls nicht gemeint.

 

 

Kontrahenten

"'Food-Nazi' nennen seine Gegner aus der Fritten-Branche ihren großen Kontrahenten", musste man im Spiegel lesen. Mit der "Fritten-Branche" waren die Fast-Food-Ketten gemeint, mit deren "großem Kontrahenten" ein amerikanischer Anwalt, der gegen sie klagt, weil sie an der Fettleibigkeit ihrer Kunden schuld sein sollen und nicht diese selbst. Der Fall sei den Gerichten überlassen, nur ist der Kontrahent nicht das gleiche wie 'Gegner' oder 'Feind', sondern in gewisser Weise das Gegenteil, nämlich derjenige, mit dem man einen Kontrakt schließt, ein Vertragspartner also.

     Es gibt Übergänge. Der Gegner eines Boxchampions ist gleichzeitig sein Kontrahent, denn er hat den Kampf mit ihm vertraglich vereinbart. So ist der Doppelsinn des Wortes entstanden. Die Wikipedia: "Im engeren Sinne wurde in der Studentensprache das Verabreden eines Zweikampfes als kontrahieren bezeichnet. Hieraus hat sich die zweite Bedeutung des Kontrahenten vom Vertragspartner zum 'Gegner im Kampf oder Streit' entwickelt; zu dieser Umdeutung hat auch die klangliche Nähe zu contra (lat. 'gegen') beigetragen."

      Jedoch wäre es Hohn, von den "Kontrahenten des Zweiten Weltkriegs" zu sprechen, und niemand käme so leicht auf die Idee. Ebenso aber waren bei den Auseinandersetzungen zwischen Strauß und Augstein, Kohl und Schäuble, Habermas und Nolte oder Walser und Reich-Ranicki die Beteiligten manches, nur keine Kontrahenten. Die Streithähne und -hennen in Fernsehshows sind Kontrahenten nur insofern, als sie alle einen Honorarvertrag mit dem Sender haben. Sie als Kontrahenten zu bezeichnen unterstellt, dass ihr ganzer Disput nur inszeniert war und sie hinterher einträchtig ein Bier trinken gehen.

      Nun sagt die gegen solche Sprachkritik eingenommene Sprachwissenschaft: Macht nichts, denn keinem Wort komme eine wahre, richtige Bedeutung zu, an der sein aktueller Gebrauch gemessen werden könnte, die Wortbedeutungen seien ständig im Fluss, und die "richtige" ergebe sich immer nur aus seinem aktuellen Gebrauch. Wenn die Leute unter Kontrahenten 'Gegner' zu verstehen belieben, dann sei die richtige Bedeutung eben 'Gegner', und der Kritiker hätte sich damit abzufinden.

Indessen sind solche Bedeutungsverschiebungen keine zwangsläufigen und unhinterfragbaren Naturerscheinungen, die man nur hinnehmen kann; sie sind auch keine Plebiszite. Sie sind kulturelle Prozesse mit offenem Ausgang, die Summe zahlloser Einzelentscheidungen, deren Weisheit von nichts garantiert wird. Wo sie einmal erreichte semantische Differenzierungen einebnen, schaden sie der Ausdruckskraft der Sprache. Das Wort Kontrahent wird noch gebraucht. Wenn der Unterschied zwischen einem Kontrahenten und einem Gegner nicht bewusst gehalten wird, ist es perdu.

 

 

Regierungserklärung

„Es gibt enormen Handlungsbedarf. Nach den Wahlen ist vor den Wahlen. Wir haben große Herausforderungen zu schultern. Im Vorfeld wird das Personalkarussell rotieren. Dann wird die neue Regierung ihre Hausaufgaben machen. Wir werden die Verstetigung des Dialogs vorantreiben. Wir werden mit allen auf gleicher Augenhöhe sprechen. Wir werden Impulse geben und Zeichen setzen, die Signalwirkung haben. Der Staatsbürger wird in die Pflicht genommen. Wir werden den Schulterschluss mit den personalen Akteuren suchen und eine Politik aus einem Guss und zum Anfassen machen. Wir werden den Menschen in den Mittelpunkt stellen und bei sich selbst abholen. Wir gehen davon aus, dass alle Akteure aufeinander zugehen und Verantwortung übernehmen. Wir werden alles auf den Prüfstand stellen. Es gilt, das Land offensiv nach vorn zu bringen. Wir werden einen Schritt in die richtige Richtung gehen. Wir werden eine Vielzahl von Aktionen starten. Wir werden Eigeninitiative, Eigenverantwortung und Eigendynamik fordern und fördern. Wir werden zukunftsfähige Strukturen schaffen, ohne Bewährtes preiszugeben. Wir werden uns auf belastbare Daten stützen. Wir werden größere sozialpolitische Verantwortlichkeiten schaffen. Wir stehen in der Pflicht, bürokratische Verkrustungen ein Stück weit aufzubrechen. Wir werden effiziente und transparente Prozesse anstoßen. Wir werden dafür Sorge tragen, dass innovative Projekte angedacht werden. Wir werden Kompetenzcluster bilden, die zu Synergien führen. Wir werden flexible projektbasierte Mechanismen in Gang setzen. Wir werden Netzwerke für Lebensqualität schaffen. Wir werden Exzellenzinitiativen zur Sicherung des Standorts umsetzen. Wir gehen davon aus, dass das Land hervorragend aufgestellt bleibt. Wir schließen ein Zurück aus. Das ist mit uns nicht zu machen. Wir brauchen Reformen, die sich rechnen. Dazu gibt es keine Alternative. Das werden wir auch hinkriegen.

    Es gibt heute ein einschlägiges Vokabular, für jede Partei, für jeden erdenklichen Zweck das Gleiche, scheinbar zupackend und ganz auf der Höhe der Zeit, um wichtigtuerische Texte daraus zu bauen, deren konkreter Inhalt gegen null tendiert. Seine ganze leere Dynamik drückt aus, dass alles wahrscheinlich bleiben wird, wie es war.

 

Zigeuner

Wie die Dinge stehen, kann das Mahnmal, das an die Menschen erinnern soll, die im Nazistaat "als Zigeuner verfolgt" und zu Hunderttausenden ermordet wurden, einstweilen nur ohne jede Inschrift oder gar nicht gebaut werden. Denn Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats der Sinti und Roma, der in Deutschland die Mehrheit der Angehörigen dieser beiden Volksgruppen vertritt, hält das Wort Zigeuner schon seit vielen Jahren für eine "Beleidigung und Demütigung" und lehnt es strikt ab, selbst in der historisch distanzierenden, sachlich unzweifelhaften Formulierung "als Zigeuner", die sie ja nicht selbst Zigeuner nennt, sondern nur besagt, dass die Verfolger sie damals "unter der Bezeichnung 'Zigeuner'" verfolgt haben. Die Organisation Sinti Allianz hingegen hätte gegen eine solche Formulierung nichts einzuwenden. Eine Einigung in diesem Streit um ein Wort ist nicht in Sicht.

     Keine Gruppe, so lautet der versöhnliche allgemeine Konsens, muss sich unerwünschte Fremdbenennungen gefallen lassen. Jede soll am besten so genannt werden, wie sie sich selber nennt. Wenn also die Betreffenden sich lieber als Sinti und Roma bezeichnet sehen denn als Zigeuner – warum nicht? Spricht denn etwas gegen Sinti und Roma?

    Leider ja: Die Bezeichnung ist sachlich nicht einwandfrei und sprachlich nicht handhabbar.

      Aber was sprach eigentlich gegen Zigeuner? Anders als etwa Nigger oder Polacke war es kein Schmäh- und Schimpfwort. Erst die Nazis machten es zu einem, wie Jude. Die Juden haben sich auch danach nie gegen diese im Nazistaat "negativ konnotierte" Bezeichnung gewehrt und führen sie weiter, mit Stolz. Sie ihnen zu nehmen, wäre für sie eine Beleidigung. Jede andere Bezeichnung empfänden sie wahrscheinlich als diskriminierend.

      Anders die, die ein Z tragen mussten. Dass in vergangenen Jahrhunderten die sesshaften Bevölkerungen Europas den überwiegend nichtsesshaften Volksgruppen jener, die heute nicht mehr als Zigeuner bezeichnet werden dürfen, vielfach mit Reserve, Misstrauen, Ablehnung und klischeehaften Vorurteilen begegneten, ist eine betrübliche Tatsache. Die Bezeichnung Zigeuner hat diese Diskriminierung und "Stigmatisierung" jedoch nicht verschuldet. Und soziale Distanz lässt sich nicht durch eine bloße Umbenennung aufheben, schon gar nicht rückwirkend.

       Die Durchsetzung der Bezeichnung Sinti und Roma für Zigeuner kam nicht von selbst, wie die meisten Veränderungen im Sprachgebrauch. Ein Einzelner nimmt sie für sich in Anspruch, Tilman Zülch, der Gründer der Gesellschaft für bedrohte Völker, der 1979 die erste große Dokumentation über ihre Verfolgung in der Nazizeit veröffentlichte.[1] Die Umbenennung war gut gemeint, aber unklug. Sie hat diese Volksgruppen praktisch unnennbar gemacht. Sie stellt das Unikum einer sprachlichen Selbstdiskriminierung dar.

       Erstens, weil die Formel ein Plural ist, zu dem es ohne Spezialkenntnisse keinen benutzbaren Singular gibt. Ein Einzelner kann nicht ein Sinti und Roma sein, sondern nur entweder ein Sinto oder ein Rom oder, weiblich, entweder eine Sintiza oder eine Romni. Für einen Satz wie "Frau Soundsos Mutter ist eine …" fehlt einem das Wort. Er lässt sich nicht sagen. Denn abgesehen davon, dass so gut wie kein Außenstehender diese Singularformen kennt – er kann auch gar nicht ohne weiteres wissen, welcher dieser beiden Gruppen sich ein Einzelner zurechnet, den seit Generationen in Deutschland ansässigen Sinti (auch Cinti geschrieben) oder den meist in diesem Jahrhundert aus dem Balkan zugewanderten Roma.

      Zweitens ist selbst der doppelte Plural nicht umfassend genug, denn er schließt andere Gruppen dieses Volks aus, die Manusch, die Kalderasch, die Lowara, die Lalleri, die Jerli, die vom Begriff Zigeuner mitgemeint waren und ebenfalls "als Zigeuner" verfolgt wurden. Zum Teil fühlen sie sich von der Bezeichnung Sinti und Roma diskriminiert.

       Aber wenn es gar kein Schmähwort war – was spricht dann eigentlich gegen Zigeuner? Dass das Wort vom Volk als 'Ziehgauner' interpretiert wurde, wie manchmal behauptet wird? Die im Grimm'schen Wörterbuch verzeichneten Volksetymologien besagen alle nur so viel wie 'Zieh einher', eine Anspielung auf die fahrende Lebensweise. Auch die Ableitung zigeunern bedeutet nur 'unstet umherwandern'.

      Die Volksetymologien, die Zigeuner von 'umherziehen' ableiten, sind natürlich so falsch wie alle Volksetymologien. Welches ist die richtige Etymologie von Zigeuner?

      Das Wort kommt von Secan. Secanen wurden die Nachkommen einer wahrscheinlich um das Jahr 900 aus Nordwestindien geflüchteten christlichen Volksgruppe genannt, die im frühen fünfzehnten Jahrhundert in Mitteleuropa eintrafen. Andere bezeichneten sie irrtümlich als Ägypter – ein Name, der schließlich das englische gypsy ergab. das spanische gitano, das französische gitan ergab. Die Bezeichnung Secanen hatten sie sich auf dem Balkan selbst beigelegt. Das gleiche Wort (phonetisch etwa 'tsigan') bürgerte sich entlang ihrer Route in vielen osteuropäischen Sprachen ein und passte sich dabei den Laut- und Schreibregeln der jeweiligen Landessprache an: Griechisch wurde es zu τσιγγάνος, rumanänisch zu ţigan, bulgarisch zu циганин, ungarisch zu tzigány, polnisch zu cygan, tschechisch zu cikán, talienischen zu zingaro, französischen zu gitan, tzigane, spanisch zu gitano, portugiesisch zu cigano.

      Im Deutschen wurde es auf der Stelle zu Zigüner oder Zigeuner. Zum ersten Mal erwähnt sind sie 1417 in einer Lübecker Chronik: "… wanderde durch de land en fromet hupe volkes … Se toghen dorch de stede und leghen in deme velde … unde nomeden sik de Secanen." Für das gleiche Jahr hieß es in einer Magdeburger Chronik: "… quemen hir to Magdeborch de Thateren [Tataren im Sinn von 'Menschen aus dem fernen Osten'] de Ziguner genannt."

      Wie sie auf dem Balkan zu der Bezeichnung 'Secan' gekommen sind, ist bis heute unsicher. Die gängigste Erklärung leitet das Wort aus dem byzantinischen Griechisch ab: athínganoi oder dann tsínganoi wurden die unberührbaren Anhänger einer phrygischen Ketzersekte genannt, und von ihr soll der Name auf die rätselhaften Islam-Flüchtlinge aus Kleinasien übertragen worden sein. Eine andere Erklärung verweist auf das persische Wort für 'Musiker', 'Tänzer', ciganch.

       Jedenfalls war es nicht der Name Zigeuner, der sie diskriminiert und stigmatisiert hat. Dieser war vielmehr genau das, was der heutige Konsens verlangt: die selbstgewählte Eigenbezeichnung, an die verschiedenen Landessprachen assimiliert. In den meisten europäischen Staaten ist sie seit Jahrhunderten unbeanstandet in Gebrauch.

       Nach dem heftigen Einspruch der einflussreichsten deutschen Organisation der Sinti und Roma ist er hierzulande nun jedoch ein für allemal verbrannt. Niemand, der nicht zu ihnen gehört, wird ihn je wieder gebrauchen können. Immer setzte er sich dem Verdacht aus, sie mit dieser arglosen Bezeichnung diffamieren zu wollen. Man kann nur hoffen, dass der Mahnmalstreit um die Inschrift ihre Organisationen dazu bewegt, sich das Dilemma klar zu machen und auf einen Ersatznamen zu einigen. Egal welcher, er müsste nur die beiden Voraussetzungen erfüllen, die das Wort Zigeuner jahrhundertelang erfüllt hat und die seine Entsprechungen in anderen Sprachen noch heute erfüllen: Er müsste für alle ihre Volksgruppen gelten und für sie alle akzeptabel sein, und er müsste sich nach den Regeln der deutschen Sprache sprechen, schreiben und flektieren lassen.

 


[1] Tilman Zülch (Hg.): In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt. Zur Situation der Roma (Zigeuner) in Deutschland und Europa. Reinbek: Rowohlt, 1979.

 

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