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Aus Wirbelsturm Lolita (Rowohlt Verlag, 2008), Seite 45-56

von Dieter E. Zimmer

Online mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt Verlags

 

Weder ein Liebesroman noch keiner

 

DEM LESEPUBLIKUM gilt Lolita als Liebesroman, ein eigenartiger vielleicht, ein abartiger, ein zweifelhafter, aber ein Liebesroman gleichwohl. Doch ist er einer?

        Die Frage ist nicht ganz so müßig, wie sie auf den ersten Blick wirkt. Zwar kommt es nicht auf die Etiketten an. Auch lassen sich Begriffe der Alltagssprache nicht patentieren, und ein so schillerndes Abstraktum wie 'Liebe' schon gar nicht, der weiträumige Sammelbegriff für einen großen Teil unserer Emotionen, von der Liebe Gottes zur Liebe zu den drei Orangen. Wer jeden Roman, der von einer erotischen Beziehung handelt, 'Liebesroman' nennt, mag das tun und wäre sowieso durch nichts davon abzubringen. Ich für mein Teil jedoch nenne Lolita nicht 'Liebesroman', widerstehe auch der Verlockung des Widerspruchs und nenne das Buch nicht 'Lieblosigkeitsroman', sondern gebe nur zu bedenken, dass der Begriff 'Liebesroman' in diesem Fall dem Verständnis im Wege steht. Er verhindert, dass wir uns ausreichend klarmachen, was in dem Roman wirklich vor sich geht.

        Dass es sich bei Lolita um einen Liebesroman handelt, vielleicht gar den letzten, der geschrieben wurde, weil er der letzte mögliche war – diese Idee lässt sich geradewegs zu zwei Quellen zurückverfolgen, einer amerikanischen und einer europäischen, die den Roman gleich bei seinem Erscheinen empfingen, ihn in ein bestimmtes Licht rückten und seine Rezeption maßgeblich beeinflussten.

        Die erste war ein Essay des bedeutenden New Yorker Literaturwissenschaftlers Lionel Trilling (1905–1975). Trilling schrieb: "Die Grundvoraussetzung [der amour-passion, der Leidenschaftsliebe] war die, dass sie nichts mit der Ehe zu tun hatte und nicht innerhalb der Ehe existieren konnte ... Unweigerlich machte die sexuelle Revolution unserer Zeit dem Verhältnis zwischen Ehe und Leidenschaftsliebe praktisch den Garaus. Heutzutage haben die beiden vielleicht nicht mehr gemein als die Überzeugung, dass sich die Liebenden frei wählen können müssen, dass ihre Wahl den höchsten Segen hat und nicht behindert werden darf. Davon abgesehen ist jeder Aspekt des neuen Verhältnisses eine Negation des alten Liebesideals ... Der Zustand, auf den die Ehe zustrebt, ist Gesundheit ... Der leidenschaftliche Liebhaber dagegen war ein kranker Mann, ein Patient. Es war üblich, dass er sich als krank bezeichnete und seine physische und geistige Verstörung zur Schau stellte ... Seine Leidenschaft füllte seine ganze Seele und schloss alles andere aus." Trillings moralhistorische Erwägungen kulminierten in den Sätzen: "Lolita handelt von der Liebe. Vielleicht versteht man mich besser, wenn ich diese Feststellung so formuliere: Lolita handelt nicht von Sex, sondern von der Liebe. Beinahe jede Seite gibt einem bestimmten erotischen Gefühl oder einer offen erotischen Handlung Ausdruck, und trotzdem handelt der Roman nicht von Sex. Er handelt von der Liebe. Das macht ihn für mich einzigartig in der zeitgenössischen Erzählliteratur. Wenn diese ein zutreffendes Zeugnis ablegt, ist die Liebe aus der westlichen Welt verschwunden ... "

        Ähnlich argumentierte der Schweizer Kulturphilosoph Denis de Rougemont (1906–1985), als er die Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts nach Romanen im Geist des mittelalterlichen Tristan-Stoffs absuchte: "Die 'amour passion', die 'Leidenschaftsliebe', ist jene Form der Liebe, die den Augenblick verschmäht, die Nähe flieht und, um noch tiefer und heftiger zu empfinden, Distanz braucht und sucht ... Der abendländische Roman [hat] nie eine Leidenschaft geschildert, die sich an einem in der in nächster Nähe befindlichen Objekt entzündet, einem Objekt, das leicht erreichbar ist und das man – vom moralischen Standpunkt – begehren darf, zumindest aber begehren könnte ... Wie im Tristan spürt man, dass den Autor nicht die sexuelle Seite seiner Geschichte interessiert, sondern einzig und allein die Magie des Eros ... In einer Welt, in der alles erlaubt ist, wäre eine vorgebliche oder tatsächliche Leidenschaft nicht denkbar ... Nur zwei sexuelle Tabus sind unserem sich sonst zu einer wissenschaftlichen Hygienelehre entwickelnden Sittenkodex noch verblieben: die Liebe zu den 'Nymphlein' und der Inzest. Wenn die Nymphleinliebe (zusammen mit dem Inzest) heutzutage nicht eins der letzten noch bestehenden sexuellen Tabus wäre, dann gäbe es weder echte Leidenschaft mehr noch einen echten Roman, im 'tristan'schen Sinn dieser Begriffe. Denn zwischen den beiden Protagonisten fehlte das nötige Hindernis, die nötige Distanz, damit sich die wechselseitige Anziehung nicht in der Befriedigung der Sinne erschöpfte, sondern sich in Leidenschaft verwandelte." Lolita sei ein "echter Roman der Leidenschaft", nur zu ironisch, zu zynisch, zu "rüde realistisch", zu sehr Gesellschaftssatire, kurz, zu diesseitig, um ein neuer Tristan zu sein. "So bleibt auch dieses brillante Werk nur ein verfehlter Tristan."

        Beide, Trilling und de Rougemont, stimmten in den wesentlichen Punkten überein: Lolita handele nicht von Sex, sondern von der Liebe ("der Magie des Eros"). Wahre, tiefe, bis zur Raserei leidenschaftliche Liebe könne sich nur entwickeln, wenn sie unerfüllt und unerfüllbar, wenn sie verboten ist. Da im Zuge der sexuellen Revolution des zwanzigsten Jahrhunderts die meisten Tabus entfallen seien, gebe es heute keine Leidenschaftsliebe und damit auch keine echten Liebesromane mehr. Das einzige verbleibende Tabu sei die inzestuöse und die pädophile Liebe. Ergo: Lolita sei einer der wenigen heute noch möglichen Liebesromane.

        Beide Thesen klingen auf Anhieb so plausibel und sind so endgültig formuliert, dass sie Widerspruch kaum zuzulassen scheinen. Ich möchte trotzdem widersprechen. Ich halte sie teils für fragwürdig, teils für rundheraus falsch.

        Wohl wahr, im Rahmen heutiger westlicher Gesellschaftsverhältnisse kann es keinen mittelalterlichen Tristan und überhaupt keine höfische Liebe mehr geben; sie wäre ein grotesker Anachronismus. Und natürlich ist Humbert kein moderner Tristan, auch kein verfehlter, will und soll es auch gar nicht sein, so wenig, wie Dolores das Zeug zu einer Isolde hat. Ein tragisches Liebespaar mit Wagnermusik im Hintergrund gäben die beiden niemals ab, schon darum, weil sie nie überhaupt ein Liebespaar sind und sein könnten. Aber dass es nach der großen Liberalisierung der Sitten, die das zwanzigste Jahrhundert mit sich gebracht hat, keine unerfüllte und unerfüllbare Liebe mehr gebe und geben kann, ist keine Tatsache, sondern reiner Feuilletonismus: eine interessante Idee ohne empirische Grundlage. Genauso gut – und genauso wenig überzeugend – ließe sich das Gegenteil behaupten: dass mit der leichteren Erreichbarkeit von Liebespartnern auch die Zahl und die Art der Hindernisse gewachsen sei, die der Erfüllung entgegenstehen. Warum soll sich jemand nicht besinnungslos bis zur Raserei in seine Nachbarin oder seinen Nachbarn verlieben, selbst wenn diese prinzipiell und vielleicht auch faktisch durchaus erreichbar wäre? Man braucht nicht einmal viel Phantasie, um sich tausend Gründe vorzustellen, die die angeblich nötige Distanz herstellen. "Sie konnten zusammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tief", heißt es in der alten Volksballade, und die ist heute so verständlich und gültig wie je. Ob die Leidenschaftsliebe in den westlichen Gesellschaften während des zwanzigsten Jahrhunderts seltener oder häufiger geworden ist, lässt sich durch keine kühne Vermutung klären. Es wäre eine empirische Frage, die sich aber nachträglich nicht mehr stellen lässt und daher für alle Zeit ohne Antwort bleiben muss.

        Aber auch wenn die moralhistorische Begründung auf unsicherem Fundament ruht, könnte der spezielle Befund natürlich richtig sein: dass Lolita nicht von Sex, sondern Liebe handelt und damit ein moderner Liebesroman ist. Von einer unvernünftigen, zerstörerischen Leidenschaft handelt er ganz offensichtlich. Aber auch von Liebe und nicht von Sex?

        Mir scheint, beide Autoren sind Humberts apologetischer Rhetorik voll erlegen. "Was man so 'Sex' nennt", schreibt dieser einmal, "ist überhaupt nicht mein Thema. Jene Elemente des Animalischen kann jeder sich vorstellen. Mich lockt eine größere Aufgabe: ein für allemal den gefahrvollen Zauber der Nymphetten festzuhalten" (Seite 220). Tatsächlich hingegen geht es in seiner ganzen Beziehung zu Dolly Haze bis zu ihrem Verschwinden einzig um Sex. Er hütet sich nur, es auszusprechen, und poetisiert das sexuelle Bedürfnis eines Erotomanen zur Verzauberung durch eine Nymphette. Das genau ist der Punkt. Lolita handelt von Sex, ohne dass Sex darin mehr als andeutungsweise vorkommt. Humbert versucht den Leser für sich unter anderem dadurch zu gewinnen, dass er "das Animalische" geringschätzig abtut; gemeinsam mit dem Leser schaut er verachtungsvoll weg von Sex. Der Leser wäre gut beraten, diesem Strategem zu misstrauen. Er erfährt von Anfang an mehr als genug, um den schönen Schein von Humberts Worten an der Realität zu messen, die sie kaschieren sollen.

        "Es ist nicht wahr", schreibt er sehr viel später, "dass künstlerische Fähigkeiten sekundäre Geschlechtsmerkmale sind, wie Scharlatane und Schamanen behauptet haben; das Gegenteil ist der Fall: Sex ist nur die Magd der Kunst" (Seite 428). Manche Exegeten scheinen unsicher gewesen zu sein, wie der Satz aufzufassen ist, und ihn für eine Art ästhetisches Credo des Autors gehalten zu haben, das Nabokov seiner Figur in den Mund gelegt hat: Kunst über alles und Sex nur eine Nebensache. Meiner Meinung nach ist das ein Irrtum. Hier spricht Humbert, der Poetisierer der Pädophilie, der seine Verklärung des Mädchens Dolores zur Nymphette Lolita als ein ästhetisches Unternehmen begreifen möchte, eine Kunstanstrengung, und Lolita – nicht den Roman, sondern das Mädchen – als das von ihm geschaffene Kunstwerk. Etwas Ähnliches hatte Nabokov schon in seinem russischen Roman Verzweiflung (1932) vorgeführt: wie ein Gewaltverbrecher und Versicherungsbetrüger einen gemeinen Mord als edles Kunstwerk plant. Den Mord begeht er tatsächlich, aber prompt stellt sich heraus, dass sein Kalkül kein Kunstwerk war, sondern eine abgefeimte Absurdität. Er war kein Künstler, sondern ein Verrückter. Der Ermordete, den er für einen so vollkommenen Doppelgänger gehalten hatte, dass er nach der Tat in seine Identität schlüpfen wollte, hatte ihm überhaupt nicht ähnlich gesehen, und niemand war auf den intendierten Rollentausch auch nur eine Minute lang hereingefallen. Gleichermaßen ist Humbert als Schöpfer Lolitas kein Künstler, sondern ein pädophiler Erotomane, der sich gerne als Künstler sähe, und damit die Parodie auf einen Künstler. Es ist darum eine höchst zweifelhafte Lesart, den Roman Lolita als eine Parabel für die Suche nach dem absoluten ästhetischen Ideal zu verstehen.

        Wer will, kann das große, breite und geduldige Wort 'Liebe' natürlich auch auf eine solche Beziehung anwenden. Aber es führt in die Irre. Im volkstümlichen Sprachgebrauch, der hier das einzige Maß liefert, meint geschlechtliche 'Liebe' jedenfalls mehr als Sex. Was auch immer sie sein mag, welche Formen und Intensitäten auch immer sie annehmen mag, drei Mindestanforderungen muss sie wohl erfüllen. Erstens muss sie auf eine bestimmte Person gerichtet sein, nicht auf Frauen oder großbusige Damen oder pubertierende Mädchen im allgemeinen. Zweitens darf sie dieser einen Person zumindest keinen Schaden zufügen wollen. Empathie und Sympathie und Harmonie wären vielleicht schon zu viel verlangt: Aber den geliebten Menschen bewusst schädigen wollen, das darf sie nicht. Nicht, dass Liebe objektiv nie schaden kann; natürlich kann der Liebende mit seiner Liebe Schaden anrichten. Aber er darf nicht von vornherein Schaden zufügen wollen; das würde der Begriff 'Liebe' nicht decken. Dass 'Liebe' reziprok sein oder wenigstens eine Chance der Reziprozität enthalten müsste, wäre ebenfalls zu viel verlangt; auch in Greta Garbo oder sonst eine ferne Tote kann sich ein Mann unsterblich verlieben. Aber wenn eine andere Person in ein Liebebedürfnis hineingezogen wird, muss diese, drittens, einwilligen können. Das ergibt sich bereits aus der zweiten Anforderung: Liebe und Vergewaltigung schließen einander aus. Anders gesagt: Die Alltagssprache würde dem Vergewaltiger wie dem Käufer anonymer sexueller Dienste das Prädikat 'Liebe' strikt verweigern. Es klänge wie Hohn.

        Wenn man unbedingt 'Liebe' nennen will, was in Lolita vor sich geht, so ist diese jedenfalls eine höchst unsymmetrische Sache. Dolly Haze liebt Humbert nicht, hat ihn nie geliebt. Sie flirtet kurz mit ihm, nicht seinetwegen, sondern weil sie ihren pubertären Spaß daran hat, zur Rivalin ihrer momentan ungeliebten Mutter zu werden. Danach ist sie seine Gefangene, die die erste für sie realistische Möglichkeit nutzt, ihm zu entkommen. Als er sich selbst zunächst nicht traut, fordert zwar sie ihn zum Koitus auf. Aber in diesem Augenblick hält sie Sex noch für einen harmlosen jugendlichen Zeitvertreib. Sie ist nicht so verderbt, wie ihre Verächter sie hinstellen. Als sie prompt erfahren hat, was erwachsener Sex ist, willigt sie nicht ein, sondern fügt sich nur. Sie könnte auch gar nicht einwilligen, denn sie ist eben noch ein Kind, das die Konsequenzen seiner Entscheidungen noch nicht übersehen kann. Auch wenn Humbert sich bemüht, sich als den Verführten darzustellen (tatsächlich bemüht er sich nicht allzu sehr, sondern schlägt nur vor, dass sich die morgendliche Hotelszene auch als seine Verführung interpretieren ließe) – er vergewaltigt sie an diesem Morgen und dann fortgesetzt zwei Jahre lang. Auch als sie viel weniger Kind ist als zu Beginn ihrer elenden Beziehung, willigt sie niemals ein und gewährt ihm keine Spur Gegenliebe. Wie sich drei Jahre später in ihrem Schlussgespräch herausstellt, hat sie an Humbert nie als an einen Liebhaber gedacht. Der einzige Mann, nach dem sie je verrückt war, sei Quilty gewesen (Seite 449), und das muss ihn besonders kränken, denn es heißt, dass sie ihn gar nicht wegen ihres Altersunterschieds abgewiesen hatte und auch nicht aus moralischen Gründen. Die Popstars, für die sie schwärmt, sind genauso alt wie Humbert. Quilty ist es ebenfalls, und moralisch ist er noch verkommener, aber nicht so furchtsam, verklemmt und depressiv. Sie kann Humbert und sein ganzes Wesen einfach nicht leiden, und er tut nichts, das an ihrer gefühlsmäßigen Ablehnung etwas ändern könnte, ganz im Gegenteil. Wenn sie nicht gerade unter ihm leidet, ödet er sie an.

        Humbert auf der anderen Seite begehrt gar nicht sie persönlich, sondern eine bestimmte Art von pubertierenden Mädchen. Seine Libido ist auf das Generische ausgerichtet. Noch während sie seine Gefangene ist, phantasiert er von den Lolitas, die ihr nachfolgen sollten, wenn sie eines nicht fernen Tages ihren Nymphettenreiz für ihn verloren hätte. Seine Sexualität ist eine Sache von Reiz und Reaktion, ein monotoner Automatismus. Auf bestimmte körperliche Signale, die er in ihrer Gesamtheit als den speziellen Nymphettencharme zu umschreiben beliebt, reagiert er mit einer Erektion, und dann vergehen ihm Verstand und Mitgefühl. Dolly Haze ist die zufällige Trägerin der Körpersignale, die ihn scharf machen. Er schläft nicht mit ihr, sondern mit dem selbstgemachten Phantom, das er und nur er Lolita nennt und zu einer Hexe erklärt. Dolores und Lolita sind nur scheinbar eine Person. Lolita ist die Dolores, die er sich in seiner Phantasie zurechtmodelliert. Für Dolores persönlich interessiert er sich nicht, versetzt sich nie in ihre Lage, dringt nie in ihre Gedanken- und Gefühlswelt ein, bringt ihr keinerlei Empathie entgegen. Ungewollt gibt er hier und da zu verstehen, dass er sehr wohl durchschaut, wie ihr zumute gewesen sein muss; alles andere wäre bei einem Mann seiner Intelligenz, seiner Wahrnehmungsschärfe, seiner Kultiviertheit, seiner Lust an Kritik auch völlig undenkbar. Aber im Roman seiner Bekenntnisse – und entgegen seiner Beteuerung schreibt er ganz offensichtlich einen Roman, keine Bekenntnisse – muss er sich jeden Anflug von Mitgefühl verbieten, denn dieses würde ihn sofort in Erklärungsnot bringen. Er müsste erklären, dass und warum er das Wesen, das er so maßlos und irrational zu lieben behauptet, so maßlos unglücklich macht, und könnte von diesem Punkt an in seinem Leben und später in seinem Schreiben nicht fortfahren. Darum sträubt er sich gegen diese Einsicht bis nach Dollys Verschwinden, als er seine sexuellen Gelüste nicht mehr in Schutz nehmen muss und für ihn sowieso alles verloren ist.

        Wie die Dinge zwischen ihm und seinem Lustobjekt in Wahrheit stehen, bemerkt er sehr wohl, aber er zieht daraus nie die einzig mögliche Konsequenz. Mehrmals deutet er es ausdrücklich an: "Was ich so rasend besessen hatte, war gar nicht sie gewesen, sondern meine eigene Schöpfung, eine andere, eine Phantasie-Lolita – vielleicht wirklicher als die echte; eine, die sich mit ihr überschnitt und sie umschloss; eine, die zwischen ihr und mir schwebte, willenlos, bewusstlos, ja, ganz ohne eigenes Leben" (Seite 101).

        Oder hier: "Ich erinnere mich an einen Tag auf unserer ersten Reise – unserem ersten Kreis des Paradieses –, da ich, um meine Phantasmen in Ruhe zu genießen, zu leugnen beschloss, was doch nicht wegzuleugnen war, die Tatsache nämlich, dass ich für sie kein Geliebter war, kein strahlender Held, kein Kumpel, ja überhaupt kein menschliches Wesen, sondern nichts als zwei Augen und ein Fuß geschwellten Fleisches – um nur das Erwähnbare zu erwähnen. Ich erinnere mich an den Tag, da ich widerrief, was ich ihr am Vorabend aus kühler Berechnung versprochen hatte (was es auch war, wonach ihr komisches kleines Herz gerade verlangte – der Besuch einer Rollschuhbahn mit einer besonderen Plastikauflage oder eine Nachmittagsvorstellung im Kino, zu der sie allein gehen wollte) und vom Badezimmer aus durch die Zufallskombination zweier Spiegel und der halboffenen Tür ihr Gesicht erblickte, in dem ein Ausdruck lag … ich kann ihn nicht beschreiben … ein Ausdruck so vollkommener Hilflosigkeit, dass er fast schon in den Ausdruck friedlicher Geistesschwäche überging, weil dies nun ein Äußerstes an Ungerechtigkeit und Frustration war – und jedes Äußerste setzt etwas Dahinterliegendes voraus, daher der neutrale Zug. Und wenn Sie bedenken, dass diese hochgezogenen Brauen und geöffneten Lippen einem Kind gehörten, so können Sie besser ermessen, welche Tiefen berechnender Fleischeslust, welch zwiefach gespiegelte Verzweiflung mich zurückhielten, zu ihren geliebten Füßen niederzufallen, mich in menschliche Tränen aufzulösen und meine Eifersucht jedem mir unbekannten Vergnügen zu opfern, das Lolita sich vom Umgang mit schmutzigen und gefährlichen Kindern in einer Außenwelt versprechen mochte, die für sie die wirkliche war" (Seite 467–468).

        Einmal beschreibt er es mit den schönsten und traurigsten Worten, die ihm zu Gebote stehen. Es ist eine der zentralen Passagen des Buchs: "Ich entsinne mich gewisser Augenblicke, nennen wir sie Eisberge im Paradies, in denen ich, nachdem ich mich an ihr sattgeliebt hatte – nach phantastischen, wahnwitzigen Strapazen, die mich erschlafft und mit himmelblauen Streifen über dem Körper zurückließen –, sie mit einem stummen Stöhnen endlich doch noch menschlicher Zärtlichkeit in die Arme nahm (ihre Haut schimmernd im Neonlicht, das vom gepflasterten Motelhof durch die Jalousiespalten hereindrang, ihre rußschwarzen Wimpern verfilzt, die ernsten grauen Augen teilnahmsloser denn je – ganz und gar eine kleine Patientin, die nach schwerer Operation noch nicht ganz aus der Narkose erwacht ist) –, und die Zärtlichkeit vertiefte sich zu Scham und Verzweiflung, und ich lullte und wiegte meine leichte, einsame Lolita in meinen Marmorarmen ein, vergrub mein Gesicht schnurrend in ihr warmes Haar, streichelte sie blindlings, bat sie stumm um ihren Segen – und auf dem Gipfel dieser menschlichen, qualvollen, selbstlosen Zärtlichkeit (da meine Seele über ihrer Nacktheit hing und bereit war zu bereuen) schwoll plötzlich, höhnisch, entsetzlich die Begierde von neuem – und Lolita sagte mit zum Himmel erhobenen Augen seufzend 'Ogottogott', und im nächsten Augenblick sank alles, Zärtlichkeit und Bläue, in Trümmer" (Seite 470–471).

        Solche Stellen machen Lolita noch nicht zu einem Liebesroman. Aber sie zeigen, dass Humbert nicht ganz das fühllose Sexmonster ist, als das er sich durch die Oberfläche seiner apologetischen Rhetorik hindurch "aus Gründen retrospektiver Wahrheitsliebe" nolens volens beschreibt. Es ist ein komplexer Roman, und jemand hat Humbert eine "multidimensionale Persönlichkeit" genannt. Der Leser muss sich mit einer multidimensionalen Persönlichkeit auseinandersetzen, muss selber entscheiden, was er ihm in welchem Augenblick glauben will, den Liebhaber oder den Kinderschänder. Humbert wäre durchaus zu Zärtlichkeit und Mitgefühl fähig, macht immer wieder hilflose Bewegungen in diese Richtung; doch seine ausgefallene Neigung, die er sich nicht ausgesucht hat und von der er sich nicht heilen kann, führt ihn unweigerlich zu von vornherein ungeeigneten Liebesobjekten. Am Schluss, als er der drei Jahre älter gewordenen, schwangeren, ihrer Nymphettenreize verlustigen Dolly Schiller gegenübersitzt, liebt er sie wirklich und tut, was er gleich hätte tun müssen: Er verschwindet ein für allemal aus ihrem Leben. Weil er uns auch diese Dimension seiner multidimensionalen Persönlichkeit nicht nur ahnen, sondern sehen lässt, gestikuliert er seinen ganzen Bericht hindurch so glaubhaft wie ein echter Liebender, und nur weil er immer wieder glaubhaft wie ein echter Liebender gestikuliert, kann uns seine beschönigende Sexbeichte vortäuschen, sie sei ein Liebesroman.

        In Wahrheit ist Lolita weder ein Liebesroman noch sein Gegenteil, ein Lieblosigkeitsroman. Das Buch ist beides zugleich. Es handelt von beidem, Liebe und Sex, und macht ein Statement über ihr Verhältnis. Es ist die Karikatur eines Liebesromans, eine amüsante Karikatur auf bitterernstem Hintergrund, ein Schlag ins Gesicht unserer modernen Sexualmoral. Diese geht von der optimistischen Annahme aus, dass Liebe und Sex letztlich vereinbar seien, da sie doch das gleiche wollen. Lolita stellt uns dagegen einen Fall vor Augen, da Sex die Liebe vereitelt und die Liebe jeden Sex vereiteln müsste. Ein Etwas, das Liebe sein könnte und möchte, zerstört das Geliebte und sich selbst. Amüsant zu lesen, konfrontiert uns Lolita mit der tragischen Möglichkeit, dass Liebe und Sex sich auch ausschließen können.

 

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