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Aus Dieter und Jürgen Zimmer: Zur Familiengeschichte (2005, unveröffentlicht)

  

  

Kriegsende

Überprüfte Erinnerungen

Von Dieter E. Zimmer

 

IM HERBST 1944, bei der Geburt von Bruder Rainer, überlegten Vater und Mutter hin und her, ob die Kinder in der Uckermark bleiben oder nach Berlin zurückkommen sollten. Sie holten sie – wohl Ende September oder Anfang Oktober 1944, jedenfalls bald nach Rainers Geburt – zurück nach Berlin-Steglitz in die Wohnung in der Markelstraße. Der Grundgedanke muss gelautet haben: Wenn "etwas passiert", und das kann es überall und jederzeit, dann besser allen zusammen. Das Kriegsende erlebte die Familie also wieder vereint in Berlin.

     Bombenangriffe gab es hier mittlerweile am Tag wie in der Nacht. Schulunterricht fand längst nicht mehr statt. Darum wandte sich Vater an den Schwager seiner Frau, Wilhelm Thomsen, der in Potsdam an der 2. Städtischen Oberschule für Jungen (Am Kanal 66, Ecke Burgstraße)   Oberstudienrat war und dort Mathematik, Physik und Sport unterrichtete, und der drehte es irgendwie so, dass ich unter Überspringung der vierten Volksschulklasse in die Sexta (nach absoluter Zählung – damals 1 bis 12 – also in die 5. Klasse) aufgenommen wurde. Es war vermutlich eine ehemals vornehme Erziehungsanstalt, ein naturwissenschaftliches Oberrealgymnasium, und ich kam direkt vom Dorf, hatte nie einen nennenswerten Unterricht gehabt und verstand überhaupt nichts mehr. "Biologie" oder "Bilologie" schien mir ein Fach zu sein,  das von dem spukigen Skelett in dem düsteren Biologiesaal handeln würde, und ich erinnere mich an das erste Englischdiktat. Es begann bei mir etwa mit "En äreiwill in laanden“, denn ich kannte bis dahin nur die erste Lektion aus dem Lehrbuch. Sie hatte begonnen "It is six o’clock in the morning. The sun is already high up [in der damaligen deutschen Schulaussprache ‚hai öpp‘] in the sky. The air is fresh and clear. The boys in the tents are still asleep …", und ich hatte aus ihr den Eindruck gewonnen, dass die englische Jugend genauso dran zu sein schein wie die deutsche, mit Zeltlagern, Frühaufstehen und kaltem Wasser. Sie hatte jedenfalls nichts enthalten, was wie 'äreiwill' noch 'laanden' klang. Das 'laanden' sehe ich noch so deutlich vor mir, als hätte ich es eben geschrieben – ich muss es lange zweifelnd und verzweifelt angestarrt haben, denn zwar war mir London wohlbekannt, und ich hatte es durchaus in Erwägung gezogen, aber dass die dort ansässige Bevölkerung es ganz anders ausspricht, hielt ich für allzu unwahrscheinlich.

     Lehrer Baums Prügel waren nicht weiter kränkend gewesen, seine einzige Waffe gegen einen Raum voll uninteressierter, widerspenstiger und bei jeder Gelegenheit tobender Deppen, die wir waren. Einige Lehrer in Potsdam waren dagegen wirkliche Sadisten, aus dunklen Gründen vom Frontdienst freigestellte Nazis. Einer gab den kleinen Jungs für winzige Ungehorsamkeiten so harte Ohrfeigen, dass ihnen das Blut aus den Ohren lief. Das Lieblingswort des Turnlehrers war "zackig", und seinem eigenen Zack entgingen wir nur, wenn wir in diesem besonders kalten Winter 1944/45 im Turnunterricht frierend und hungrig mit einem großen hölzernen Plattenwagen in Potsdam umherziehen mussten, um "Altmaterial" zu sammeln. Früher hatte das immer der Lumpensammler geholt, der sich mit dem gesungenen Ruf "Lumpen Knochen Papier" zu erkennen gab, wenn er seine Karre auf die Hinterhöfe schob. Lumpen, Knochen, Papier gab es schon lange nicht mehr, und erst recht nicht das Altmetall, auf das wir laut Turnlehrer unser Hauptaugenmerk zu richten hätten. Also kehrten wir nachmittags beschämt und durchgefroren mit leerem Wagen zur Schule zurück. Der Mann hat mir jeden Sport für lange Zeit verleidet. Ich sehe mich noch in der Turnhalle aus der "Riege" turnusmäßig an ein von der Decke hängendes Seil treten und mich unter dem Hohngelächter der anderen daran klammern, ohne die geringste Ahnung, wie man daran hochklettern könnte. In Flieth waren wir zwar dauernd geklettert, auf Bäumen, Dächern, Mieten, Böden, aber nie auf Kommando an einem Seil.

      Als ich Onkel Wilhelm von meiner Schande erzählte und mich mit krampfiger Selbstironie einen baumelnden Affen nannte, lobte er mich (trotz des falschen Vergleichs) ernst und förmlich. In meiner Familie galt er als furchteinflößend intelligent und welterfahren, aber auch als trocken, pedantisch, unnachsichtig, als jemand, mit dem niemand warm werden könnte. Mir selbst gegenüber jedenfalls hat er sich auf seine steife Weise herzlich und hilfsbereit gezeigt. Er gab sich auch Mühe, meinen Englischunkenntnissen abzuhelfen. Außerdem malte er – konventionelle Landschaftsbilder, wie sie damals in den Wohnzimmern über der Couch hingen; mir stand kein Urteil über sie zu, in ihrer Art aber fand ich sie vielleicht etwas trocken, aber perfekt, und das aus der Sicht meiner Eltern Exzentrische dieses Hobbys gefiel mir gerade. Onkel Wilhelm… ohne es zu wollen und zu merken, hat er eine entscheidende Weiche in meinem Leben gestellt, als er mich – offenbar doch nicht hundertprozentiger Pedant – erst auf seine Schule schmuggelte und mir gleich nach dem Krieg unter unvorstellbar schwierigen Umständen eine zwar nicht ganz richtige, aber effektive Bescheinigung verschaffte, mit der ich in Steglitz weiter aufs Gymnasium gehen konnte. Da es bei der Rückkehr nach Berlin im Herbst 1944 keinen Grundschulunterricht mehr gab, wäre ich sonst in ein KLV-Lager wahrscheinlich irgendwo in Posen, Schlesien oder Ostpreußen verschickt worden und bei Kriegsende in die Fluchtbewegung geraten,  oder ich hätte allein wieder in das scheinbar sichere Flieth zurück gemusst, wo meine Überlebenschancen, wie sich aber erst hinterher zeigte, tatsächlich geringer gewesen wären als im zerbombten und eroberten Berlin.

     Nach der Aufnahme in die Potsdamer Schule wohnte ich auch teilweise bei Onkel Wilhelm und Tante Erna Thomsen in Potsdam (Neue Königstraße 92, Straßenbahnlinie 2: Glienicker Brücke—Rehbrücke), die mich trotz der schweren Zeiten erstaunlich gutgelaunt bei sich aufnahmen. Immer öfter aber fuhr ich morgens mit der immer volleren und immer seltener verkehrenden S-Bahn von dem halbzerstörten Bahnhof Feuerbachstraße nach Potsdam und kam nachmittags zurück nach Steglitz, wo dann bald auch schon wieder Fliegeralarm war.

     Die Fahrten in den überfüllten S-Bahn-Zügen jener Zeit kann ich nie vergessen: das Geschiebe schon an den Sperren, die Menschenmauern an den Bahnsteigkanten, die Trauben von Menschen, die an den offen gehaltenen Türen nach draußen hingen (ja nicht zu weit, sonst hätten sich die Trauben zweier sich kreuzender Züge gegenseitig hinuntergerissen), die Päderasten (ich wusste noch nicht, was das war), die in dem Gedränge unfehlbar bei nahezu jeder Fahrt an meinem Geschlecht fummelten, während ich peinlich berührt grübelte, was das sollte, und es für einen weiteren Auswuchs der hypothetischen Erwachsenenverschwörung gegen die Kinder hielt, die Selbstmörder, die sich vor die Züge warfen und den sowieso stockenden Verkehr nochmals aufhielten, die gelegentlichen Fliegeralarme, bei denen der Zug im nächsten Bahnhof stehen blieb und alle in den nächsten öffentlichen Luftschutzraum hasten mussten. So entdeckte ich, dass der S-Bahnhof Wannsee tiefe, dunkle Eingeweide hatte. Und dann die phantasieanregenden drohenden Plakate und Parolen allenthalben: "Kohlenklau geht um", "Räder müssen rollen für den Sieg", "pst! Feind hört mit" und… – aber gab es das überhaupt, das uniformierte Schlitzauge, das einer Frau oder einem Kind ein riesiges Messer an die Kehle setzt? Oder entsprang das meiner eigenen Phantasie? Ich hätte geschworen, dass ich es häufig gesehen habe, konnte es aber später in keinem Archiv mehr entdecken. Aber auf seine Botschaft lief alle damalige Propaganda ja hinaus. Und wie stand es mit diesem?  "kennt ihr euch überhaupt? geschlechtskrankheiten drohen"? Ja, das gab es, aber erst in der merkwürdigen neuen Zeit nach dem Krieg, ein Appell an  "Amiliebchen" und ausgehungerte  Kriegsheimkehrer – und einen kleinen Jungen, der erst unlängst verstanden hatte, was "Geschlechtsverkehr" ist, den es auf die interessante Möglichkeit hinwies, dass dieser sich auch außerhalb der Vergewaltigungssituation anonym vollziehen konnte, dass unter Erwachsenen anonymer Sex vielleicht sogar die Regel war – ganz im Widerspruch zu dem romantischen Liebesbild, das sich gerade in entfalten wollte, zur Weise "Ich weiß mir ein feins brauns Mägdelein".

     Sonderbar, wie mein Gedächtnis die Dauer der einzelnen Zeitspannen verzerrt hat. Bis ich meine Erinnerungen an das Kriegsende sechzig Jahre später überprüfte, meinte ich, ich sei längstens bis Ende Januar 1945 in Potsdam zur Schule gegangen, zuletzt nur noch sporadisch, und was dann folgte, sei eine leere Zeit gewesen: monoton, dunkel, kalt, hungrig, zugebracht in Kellern, in den Warteschlangen vor meistens leeren Lebensmittelläden oder mit zwei alten Wassereimern an den Schwengelpumpen, die in Berlin an manchen Straßenecken stehen geblieben waren. In dieser leeren Zeit, dachte ich, wäre eines Tages, als es mir schon egal war, die Nachricht von der Zerstörung der Potsdamer Schule zu mir durchgedrungen. Und in diesen Monaten sei das Geschützfeuer und andere Ex­plosionen immer näher gekommen, bis dann eines Tages plötzlich die Stille des Endes ausbrach. In Wirklichkeit war es etwas anders. Mein Langzeitgedächtnis hatte zwei durchaus inhaltsreiche Wochen zu drei leeren Monaten aufgeblasen. Wie es wirklich war, lässt sich rekonstruieren, wenn man die "Verkehrsstufen" als zeitliche Eckpunkte nimmt.

     Ende Januar 1945 – möglicherweise am 1. Februar, als Berlin zur "Festung" erklärt wurde – wurde die Benutzung der Verkehrsmittel eingeschränkt, die immer überfüllter waren und immer erratischer fuhren, denn es fehlte an Strom, es fehlte an intakten Zügen, und irgendwo waren immer irgendwelche Bahnhöfe, Brücken und Gleise zerstört. Nunmehr also herrschte "Verkehrsstufe I". Nur noch die berufstätige Bevölkerung durfte S-, U- und Straßenbahnen benutzen. (Die Zählung der „Verkehrsstufen“ deutet darauf hin, dass von vornherein noch desperatere Situationen erwartet wurden.[1]) Ich ergatterte noch den grünen Verkehrsausweis für die Stufe I. Jeden Tag brauchte ich aber nicht mehr von Steglitz nach Potsdam zu fahren: Die Schule fand nur noch zwei- oder dreimal jede Woche statt. Am 4. April dann wurde angeordnet (wegen allgemeinen Kohlenmangels, hieß es in den immer weniger und dünner werdenden Zeitungen), dass ab Montag, den 9. April, "Verkehrsstufe II" gelten werde[2] und dann nur noch Rüstungsarbeiter mit dem gelben (oder orangefarbenen) Ausweis die Berliner Verkehrsmittel benutzen dürften. Ich versuchte eilig, auch den zu erhalten, aber auf dem zuständigen Amt in der Potsdamer Straße (wohl dem heutigen BVG-Gebäude) erklärte man mir beleidigenderweise, meine Fahrten zur Schule seien nicht "kriegswichtig", und schickte mich nach Hause.

     Bis in den April hinein also bin ich mehrmals die Woche nach Potsdam gefahren, den ganzen langen kalten Winter lang, auch wenn wir dort keinen Unterricht mehr erhielten, allenfalls Hausaufgaben "aufbekamen" und Müll suchten, den es nicht mehr gab.

     Die Stufe III (rot) schließlich trat mit dem Belagerungszustand am 21. April in Kraft, als die wenigen auserwählten Beförderungsberechtigten theoretisch schon mit der S-Bahn von Front zu Front fahren konnten und wir kaum noch aus dem Keller kamen. "In dem Zeitungsblatt steht", schrieb Anonyma in ihrem Tagebuch vom 20. April, "dass ab morgen die Fahrausweise der Stufen I und II, mit denen sie uns die letzten paar Wochen gepiesackt hatten, ungültig werden – dass bloß noch Inhaber der roten Karte von Stufe III die Verkehrsmittel benutzen dürfen. Also einer von vielleicht vierhundert, also keiner, also Schluss."[3] Sie ist an diesem Freitag noch einmal zum Spaß Straßenbahn gefahren, mitten in Neukölln (und nicht in Tempelhof, wie ihr frivoler Enttarner und Kritiker Jens Bisky geschrieben hat, der auf eine spätere Straßenumbenennung hereingefallen ist). Diesen Spaß gab es in Steglitz längst nicht mehr. Die Fahrdrähte der 74, der 77, der 44 waren von Bomben endgültig abgerissen.

     Es fuhr inzwischen aber sowieso kaum noch etwas, und in der Nacht vom 14. auf den 15. April wurde die Innenstadt von Potsdam, auf das bisher kaum eine Bombe gefallen war, durch ein überraschendes britisches Flächenbombardement vollständig zerstört, zu meiner Erleichterung auch mein Gymnasium. Es stand nicht mehr. Ich musste nicht mehr hin. Ich brauchte mich auch nicht über den verweigerten Fahrausweis zu grämen. (Auf dem Gelände der Schule steht heute, im Plattenstil, die Rosa-Luxemburg-Gesamtschule, und der Kanal davor ist hier noch zugeschüttet.)

     Am 7. März wurde bekannt gegeben, dass bei Fliegeralarm wegen Strommangel möglicherweise keine Sirenen mehr heulen würden und die Bevölkerung mit drei Flaksalven vorlieb nehmen müsse, und wenn auch die ausfielen, sollte es Flaggensignale geben. Der immer dünnere Völkische Beobachter war voll von kursorischen und lückenhaften Kriegsberichten, Durchhalteparolen ("Rache unser Feldgeschrei!"), Anpreisungen einzelner deutscher Heldentaten, Greuelgeschichten über das Wüten der Feinde, insbesondere der Bolschewisten im eroberten deutschen Land ("Schandtaten der Bolschewisten: Morden, plündern, schänden, sengen"), nicht gerade zuversichtlich wirkender Propaganda im Stil "Wenn Deutschland besiegt werden sollte, sind Europa und seine Kultur verloren", Aufrufen zum "Volksopfer" (einer ultimativen Altstoffsammlung: "Gebt alles Entbehrliche an Spinnstoffen und Ausrüstungsstücken!"), Todesanzeigen über Todesanzeigen für Gefallene, Kurzberichten über zum Tode verurteilte Diebe oder "Schwarzschlachter" und praktischen Rat­schlägen für das Leben und Sterben im Notstand: wie man eine Kochkiste baut und benutzt, wie man eine Panzerfaust bedient (man steht tunlichst nicht hinter ihr, sonst trifft einen beim Abschuss ihr Feuerstrahl), wie man sich mit Papier gegen Kälte schützt und dass man etwaigen Grünkohl nicht aufwärmen sollte, um seinen Nährwert nicht zu beeinträchtigen. Am 9. März erließ Generalleutnant Helmuth Reymann einen Befehl zur Verteidigung von Berlin, den die

 

 

 

 

Bevölkerung im Wortlaut wahrscheinlich nicht zu Gesicht bekam, dessen Geist aber alles durchdrang: "Die Reichshauptstadt wird bis zum letzten Mann und bis zur letzten Pa­trone verteidigt … Voraussetzung für eine erfolgreiche Verteidigung ist, dass jede Häuserzeile, jedes Haus, jedes Stockwerk, jede Hecke, jeder Granattrichter bis zum äußersten verteidigt wird … Es kommt darauf an, dass jeder Kämpfer vom fanatischen Willen zum Kämpfen-Wollen beseelt und durchdrungen ist." Mitte März wurden dementsprechend in vielen Straßen "Barrikaden" aus Sperrmüll errichtet, die etwaigen Panzern den Weg verlegen sollten; auch in der Markelstraße, ein paar Meter von unserem Haus, bauten wir eine, vornehmlich aus dem Schutt der Ruinen. Am 28. März wurden die Lebensmittelrationen, die ohnehin nur noch auf dem Papier standen, zum letzten Mal herabgesetzt. "Normalversorgungsberechtigte“ sollten ab jetzt pro Woche 1700 Gramm Brot (das waren 34 Scheiben klietschiges "Kommissbrot"), 250 Gramm Fleisch, 125 Gramm Fett, wahlweise 125 Gramm Zucker oder 250 Gramm Marmelade erhalten und dazu für drei Wochen 225 Gramm Nährmittel (Mehl, Grieß, Graupen), 62,5 Gramm Käse, 125 Gramm Quark und 100 Gramm Kaffeeersatz. Drei Wochen später, als die Schlacht um Berlin in vollem Gange war und alle Zuteilungen nur noch auf dem Zeitungspapier standen, das auch ausgegangen war, sollte es geben, worauf alle allezeit hofften: eine Sonderzuteilung.

     Am 16. April um drei Uhr morgens begann mit einem gewaltigen Trommelfeuer nördlich und südlich der "Festung" Küstrin, bei den Seelower Höhen, die seit zehn Wochen erwartete große Schlussoffensive von Marschall Shukows 1. Bjelorussischer Front, die die Sowjetunion eine Million und Deutschland dreihunderttausend Tote kosten sollte. Die Rote Armee drang entlang der Reichsstraße 1 (von Königsberg nach Aachen) vor und erreichte am 19. April Strausberg. Am 20., Hitlers Geburtstag, wurde in Berlin der Belagerungszustand ausgerufen, fand der letzte angloamerikanische Bombenangriff statt und schlugen die ersten russischen Artilleriegeschosse in der Stadtmitte ein. Am 21. erreichten die ersten Sowjettruppen von Osten her Berliner Stadtgebiet. Am 25. trafen bei Ketzin Spitzenverbände von Shukows Armee auf solche von Konjews 1. Ukrainischer Front und schlossen damit den Einkesselungsring um Berlin, den sie von nun an von Stunde zu Stunde enger zogen.[4]

     Aber noch am 19. April (traditionsgemäß einen Tag vor "Führergeburtstag") marschierte ich mit einem Haufen abgerissener zehnjähriger Bengel durch rauchende Trümmerstraßen und unter noch fernem russischem Artilleriedonner vom S-Bahnhof Steglitz in den menschenleeren Bäkepark, um dort bei gehisster Hakenkreuzfahne mit ein paar markigen Reden feierlich, aber hastig ins Jungvolk aufgenommen zu werden und irgendeine Eidesformel nachzumurmeln, die ich schon rein akustisch nicht verstand. Denn seit 1939 bestand "Jugenddienstpflicht". Alle Zehn- bis Vierzehnjährigen wurden ins Deutsche Jungvolk rekrutiert, zu den "Pimpfen", der vierjährigen Vorstufe der Hitler-Jugend. Ein oder zwei Mal war ich zu einer Art Vorbereitungsappell auf den Sportplatz an der Gritznerstraße beordert worden, wo wir erfuhren, welches die Requisiten eines Pimpfs waren, dann hatte ich die schriftliche Aufforderung erhalten, mich dann und dann vor dem S-Bahnhof Steglitz zur offiziellen Aufnahmezeremonie einzufinden, und die fand dann an jenem 19. April statt.

     Ich habe mich oft gefragt, wie es mit mir im Nazistaat weitergegangen wäre. Einerseits war ich in ihn hineingeboren worden und kannte nichts anderes, er war von Anfang an mein selbstverständliches Lebenselement gewesen. In dieser meiner Welt war es selbstverständlich, dass nicht ein Mensch, sondern ein unendlich ferner und weiser Führer, "der Führer" eben, den es nur im Singular gab, das absolute Sagen hatte, dass man diesem Umstand bei jedem Gruß mit emporgerissenem Arm und einem zackigen "Ha-ittla!" Rechnung tragen musste, dass nicht eine Partei, sondern "die Partei" herrschte, die es auch nur im Singular gab – und dass dauernd Dinge geschahen, die nicht nach dem Willen der meisten Menschen waren. Über die Richtigkeit all dessen dachte ich so wenig nach wie über die Existenzgründe von Leuchtplaketten oder des Kohlenklaus, der fies von den Plakaten glupschte. Alles kam mir so unhinterfragbar natürlich vor wie das "Hatschi!", das man sagen musste, wenn jemand Bekanntes neben einem nieste. Wenn man "Hatschi" statt "Ha-ittla" hätte sagen müssen, wäre mir das nicht seltsamer erschienen; wenn man es tatsächlich gesagt hätte, wäre man an der Straßenlaterne aufgeknüpft worden. Relativieren konnte ich die ideologischen Grundlagen meiner Welt nicht. Zwar merkte ich, dass die Leute angesichts der von morgens bis nachts auf sie eintrommelnden Propaganda (das Wort hatte damals einen guten Klang, Goebbels war schließ­lich "Propagandaminister") unterschiedlich aufnahmebereit und gläubig waren. Fanatische Nazis im Haus und in der Straße waren bekannt, und man sollte sich vor ihnen hüten. Aber dass jemand das Ganze mitsamt "dem Führer" und "der Partei" nicht für das selbstverständliche Lebensinventar halten könnte, kam dem Zehnjährigen nicht in den Sinn. Auch nicht, dass "Deine Ehre sei Treue!" nicht einen ewiggültigen Wert definierte, dem sich nur ein Lump entziehen könnte. Auf eine primitiv vordergründige Weise hatte mich zwar das Bild des in einer "Wolfsschanze" (die ich mir als ein Blockhaus in einem Märchenwald vorstellte, während sie in Wahrheit ein Komplex von düsteren Betonbunkern war) hockenden schnurrbärtigen "Führers", dem plötzlich der Schreibtisch mit einem Knall um die Ohren fliegt, fasziniert wie ein entsprechender Filmstunt. Aber was die Nachrichten von den Vorgängen nach dem 20. Juli vermeldet hatten, war mir schlicht zu hoch gewesen, Erwachsenenkram, und hätte jener Schnurrbärtige einen Schwur von mir verlangt, ich hätte ihn ohne Zögern geleistet.

     War ich also ein kleiner Nazi? Ein einige Jahre jüngerer "Jungnazi" als Günter Graß (dem ich gerne den Gefallen tue, ihn weiter mit ß zu schreiben)? Zumindest ein Jungnazi in spe? Anders als Graß würde es mich nichts kosten, es zuzu­geben. Trotzdem zögere ich. Mir gefiel nämlich meine selbstverständliche Welt nicht, und nur mit einer gewissen Bangigkeit sah ich meiner bevorstehenden Zukunft in der HJ entgegen. Einerseits freute ich mich auf ihre pfadfinderhaften Aspekte – Wanderungen, Lagerfeuer, Kameraderie, die flotten kurzen Hosen, das Kochgeschirr und das Fahrtenmesser. Andererseits mochte ich das ganze Militärwesen überhaupt nicht, den Schneid, den Zack, der da gefordert werden würde, hielt mich für so unbegabt für ihn wie für das zackige Seilklettern im Turnunterricht in Potsdam und hätte mich am liebsten um die Aufnahmezeremonie gedrückt.

     Tatsächlich bestätigte schon sie mir meine Befürchtungen. Als Dorfjunge beherrschte ich den Gleichschritt nicht, und ein schneidiger HJ-Jungmann schrie mich noch in Sichtweite des Bahnhofs Steglitz an: "Der Weihnachtsmann da, an den Schluss! Ja, du!" So latschte ich beleidigt dem Jungentrupp hinterher, stand bei der Zeremonie im Bäkepark ganz hinten, verstand nichts und ärgerte mich. Ein paar Tage später verbuddelte ich meine paar ärmlichen HJ-Insignien im Hinterhof, dort, wo schon ein paar Leichen lagen oder in ein paar Tagen liegen würden, zusammen mit den stattlicheren Insignien, die mir peinlicherweise die Familie Kuppert, nette gläubige Nazis oben im vierten Stock der Markelstraße 9, soeben pathetisch anvertraut hatte, die Hinterlassenschaft ihres an der Ostfront vermissten einzigen Sohnes Ernst-Albert, dessen nationalsozialistischer Geist irgendwie auf mich übergehen und von mir weitergetragen werden sollte.

     Familie Zimmer zog schon im März nach und nach in den Keller – nicht in den öffentlichen Luftschutzkeller unter dem Hinterhof, wo wir schon lange vorher einen großen Teil der Nächte und viele Stunden der Tage verbracht hatten, sondern in den eigenen Kohlenkeller, einen Bretterverschlag, in dem in besseren Zeiten immer Briketts gestapelt und Kartoffeln gelagert gewesen waren. Bald nach dem 20. April müssen alle Hausbewohner ganz in ihre Keller gezogen sein. Wir schliefen dort auf einem eisernen Kinderbett und einem Türblatt darüber, das Vater und ich riskanter- und verbotenerweise in einem von einer Sprengbombe freigelegten oberen Stockwerk einer Ruine in der Markelstraße abmontiert hatten. Es gab bald weder Strom mehr, noch Wasser, noch Gas, auch nicht mehr kurzzeitig. Als Beleuchtung diente eine blakende und schmierige Petroleumlampe. Ich wünschte, wir hätten eine Karbidlampe wie einige der Nachbarn. Aus unserer Kleidung kamen wir Tag und Nacht nicht mehr heraus; mir ist, als hätte ich immer eine Art farblosen Trainingsanzug angehabt. Die Straßen wurden unaufhörlich von sowjetischen Tieffliegern bestrichen, denen die angloamerikanischen Bomber die Lufthoheit über Berlin überlassen hatten. Am Güterbahnhof Steglitz, gleich hinter dem S-Bahnhof Feuerbachstraße, blieb am Mittwoch, dem 25. April, ein militärischer Versorgungszug liegen. Blitzschnell verbreitete sich das Gerücht, und sofort brach alle Welt auf, ihn zu plündern. Während der Plünderung schossen russische Tiefflieger in das Gewühl.

     Ich war nicht mit auf diesem Streifzug, von dem Vater kleinlaut und entsetzt zurückkam. Der Zufall will es jedoch, dass diese Plünderung in dem Tagebuch einer damals Neunzehnjährigen aus der Südendstraße, gleich hinter dem Heese-Gymnasium, ausführlich festgehalten ist: "Unterwegs trafen wir schon Leute mit Eimern und Körben, im Arm trugen sie ihre Tüte voll Haferflocken, olle rostige Schüsseln mit Marmelade oder Konservendosen … Ein Strom von Menschen wälzte sich die Körnerstraße entlang, man hörte schon gefährlich grollend das dumpfe Gemurmel wie von einem aufgestörten Bienenvolk … Auf den Gleisen standen die Wagen mit spaltbreit geöffneten Türen, die Menschen hingen in Trauben daran, streckten die Hände aus und schrien und bettelten. Andere schlichen sich mit gefüllten Netzen und Taschen durch den Tumult, manche fuhren mit dem Finger in ihre Marmeladenschüsseln und leckten mit seligem Gesicht. Am Brotwagen stand eine lange Schlange, mit giftigen Gesichtern vertrieben sie jeden, der sich nur in ihre Nähe wagte. Aus dem Konservenwagen flogen die Büchsen den Leuten auf die Köpfe, das Volk raufte und puffte sich darum, einige lasen Erbsen und Haferflocken von der Erde auf, für ihre Hühner, wie sie sagten. Andere schleppten ganze Säcke voll davon, hier hatte einer einen ganzen Eimer voll Kunsthonig erwischt, eine ganze Meute lief hinterher, schreiend und schimpfend und in einer Ecke erkämpfte sich dann jeder sein Teil … Man schlug sich gegenseitig auf den Kopf, trat sich ins Schienbein, boxte und kniff … Im Nachbarwagen waren kistenweise Drops geladen. Oben an der Luke hing ein Bursche, der langte immer eine Handvoll und warf sie unter das Volk, wie weiland Papa Wrangel die Sechser unter die Gassenjungen. Ich schwang mich auf die Lokomotive, fing mit einer Hand Rolle auf Rolle … Oben am Himmel kreisten zwei oder drei glänzende Silberfischchen, die sich plötzlich vervielfachten, und schon war der schönste Angriff im Gange. Wir stürzten mit unserer Beute in eine Ruine, fluchten und schimpften … Immer wenn wir gerade losgehen wollten, erschien eine neue Welle, es pfiff und prasselte, wir steckten die Nase in den Dreck und lutschten saure Drops."[5]

     Dieser Ton war der authentische. Vater ergatterte in dem Getümmel leider nur einen dreiviertel Blecheimer sehr süßer und sehr steifer Vielfruchtmarmelade. In den folgenden Wochen wurde diese unerklärlicherweise von selbst immer weniger. Wir schoben es auf die Mäuse, die manchmal unter der Speisekammertür hervorlugten, aber ich glaube, die ganze Familie "naschte" heimlich (ich jedenfalls tat es). Der Eimer diente ein Jahr später im übrigen zur Sammlung der Familienscheiße, mit der wir ein optimistisch "Garten" genanntes Ruinengrundstück in Südende düngten, auf dem wir nie etwas ernteten, weil wilde Kaninchen alles ratzekahl abfraßen, die wir aber mit unseren ungekonnten Drahtschleifen auch nicht fingen. Ob der Karton mit den Vanillinzuckertütchen, aus dem ich in der Folgezeit dann heimlich reichlich "naschte", ebenfalls am Güterbahnhof Steglitz erbeutet wurde, weiß ich nicht mehr; eher stammte er aus einem Großhandelslager gegenüber. Nachbarn in den Kellern hatten dort etwas wässriges Saures organisiert (Saure Gurken?), man machte Tauschgeschäfte. Von dem Pferdekadaver, der vor der nächsten Eckkneipe an der Hackerstraße (Schnell), bei der wir manchmal in einem geliehenen Literkrug Bier geholt hatten, auf dem Pflaster liegen sollte, bekamen wir nichts mehr ab. Als Vater und ich einmal gerade an der Pumpe Treitschke- Ecke Lepsiusstraße Wasser in einen Eimer füllten, wo die Schlange nicht so lang war wie vorne in der Markelstraße, sahen wir, wie ein vom Breitenbachplatz her tief über die Schrebergärten heranschießender Kampfflieger eine Bombe ausklinkte, die direkt auf uns zugeflogen kam. Wir warfen uns nicht vorschriftsmäßig hin, starrten ihr nur entgegen. Wie viele der kleinen russischen Fliegerbomben jener Tage explodierte sie indessen nicht und blieb in einigen Metern Entfernung im Bürgersteigpflaster stecken; manche steckten noch sieben oder acht Jahre später dort. In den trümmerübersäten Straßen lagen aufgeschichtet die Leichen von Bombenopfern, Selbstmördern, Gehenkten (angebliche Deserteure, Saboteure, Wehrkraftzersetzer und Volksschädlinge, das heißt ertappte Plünderer, sie alle Opfer umherziehender Greifkom­mandos). Der Kanonendonner kam täglich von allen Seiten näher. Die als Panzersperren gedachten, etwa anderthalb Meter hohen Barrikaden aus herausgerissenen Pflastersteinen, Trümmerschutt und widerwillig geopfertem Wohngerümpel, die auch in der Markelstraße hastig aufgetürmt worden waren, schienen von vornherein keine aussichtsreiche Verteidigung gegen die erwarteten T-34. Vorne in der Markelstraße hing ein Mann an einer Laterne, um den Hals ein Schild. Ich mochte nicht genau hinsehen, aber es muss etwas darauf gestanden haben wie "Ich hänge hier, weil ich zu feige war, Frau und Kinder zu verteidigen". In der Erdgeschosswohnung des Hinterhauses nebenan beging die nette Frau Marschall mit dem Schnurrbart Selbstmord (ich glaube: aufgeschnittene Pulsadern), die Vater immer "das Mannweib" genannt hatte, zusammen mit ihrer Freundin und Mitbewohnerin. Das nette Mannweib also war tot, und tot war auch das gefürchtete fanatische Naziehepaar von schräg gegenüber („Wolf, H.G., Gaustellenleiter“, hilft mir das letzte Berliner Adressbuch von 1943 aus; sie wohnten in der Nummer 53).[6]

     Es wurde in den Kellern viel getuschelt und geraunt. Dass Hitler die deutsche "Wunderwaffe" in der Hinterhand behalten habe, die im letzten Augenblick vielleicht doch noch – oder eher nicht – zum "Endsieg" führen würde. Dass die mythische Armee Wenck herbeieilen und Berlin entsetzen werde. Dass vielleicht "Werwölfe" das Blatt noch wenden könnten (und da mir niemand erklären mochte, wer und was diese Werwölfe waren, stellte ich mir vor, es gäbe Hitlerjungen, die sich in die Wälder verzögen und dort durch irgendeinen Zauber zu richtigen Wölfen mutierten, denen ich aber gegen Bomben und Panzer wenig Chancen gab).Vor allem: Dass die Allierten sich logischerweise entzweien müssten und Deutschland dann zusammen mit den Westalliierten den Kampf gegen die vor den Toren stehenden Bolschewisten weiterführen würde. Wenn aus irgendeinem Grund, vielleicht jetzt nur noch aus Übermut, eine Schießerei in den Lüften stattfand, meinten einige: Jetzt gibt es ihn endlich, den Krieg zwischen dem Ami und dem Russki, der uns retten wird. Getuschelt wurde aber auch, bald würde "der Iwan" in die Keller gestürmt kommen und alle mit Flammenwerfern verschmoren. Ich hatte mir im Luftschutzkeller über die Jahre hin manche Todesart vorgestellt, und diese schien mir die grausigste.

     Eine eigene Erinnerung daran, wann genau die Markelstraße tatsächlich von der Roten Armee erobert wurde, besitze ich nicht. Aber ich kann es rekonstruieren. Sie kam vom Südwesten; und meiner Erinnerung nach nicht die Schlossstraße entlang, sondern von hinten, vom Breitenbachplatz her. Wahrscheinlich waren es Einheiten von General Pawel Rybalkos 3. Gardepanzerarmee, die am 24. April Dahlem erreicht hatte. Sie gehörte zu Marschall Iwan Konjews 1. Ukrainischer Front, die von Schlesien her auf Dresden und Berlin vorgerückt war und sich mit Shukows von Osten und Norden her vorrückender 1. Weißrussischer Front eine Art Wettrennen zum Reichstag lieferte (und auf Stalins Befehl verlor). Sie hatte es so eilig, ausgerechnet nach Dahlem zu kommen, weil sie es dort vor allem auf das Max-Planck-Institut für Physik abgesehen hatte, Boltzmannstraße 18-20; dort sollte die NKWD sofort alles Uran, alles Inventar und alle dort tätigen Wissenschaftler nach Russland schaffen.[7] (Die aber waren wunderbarerweise schon in England.)

     Während im Nordosten Berlins ganze Stadtgebiete Haus für Haus erobert werden mussten, kam die Rote Armee in den südwestlichen Vororten relativ zügig voran. Was sie aufhielt, war zunächst vor allem der Teltowkanal, dessen sämtliche Brücken von den Deutschen gesprengt worden waren. Am 24. überquerte ihn die Sowjetarmee[8], für den Morgen des 24. ist starkes Trommelfeuer auf Zehlendorf bezeugt. Für den 25. April wurde ihre Anwesenheit in Lichterfelde, Zehlendorf und Dahlem gemeldet. Am 26. meldete der lückenhafte Wehrmachtsbericht, den vermutlich niemand in der Markelstraße mehr zu lesen oder zu hören bekam, am Vortag hätten heftige Straßenkämpfe unter anderem in Steglitz getobt[9]; gleichzeitig wurde die Linie Rathaus Schöneberg – Hallesches Tor – Belle-Alliance-Platz zur neuen Verteidigungslinie erklärt. Erst oben in der Potsdamer Straße vor dem Landwehrkanal wurde der weitere Vormarsch nach Mitte am 29. noch für ein paar Tage zum Stehen gebracht.

     Am 25. in Dahlem, am 29. am Landwehrkanal: Dazwischen liegen Steglitz, Friedenau und Schöneberg. Laut den leider nachträglich arg zurechtredigierten Tagebuchaufzeichnungen der Redakteurin Ruth Andreas-Friedrich, die damals am Hünensteig hinter dem Friedhof an der Steglitzer Bergstraße wohnte, wo sich tatsächlich deutsche "Werwölfe" verteidigt haben sollen, trafen die Russen in Steglitz am frühen Nachmittag des 27. ein: "'Sie kommen!' Ein Mann läuft auf uns zu. Wir hören seine Stiefel über das Pflaster klappern. 'Russen im Haus!', gellt eine Stimme … Endlich! Wir stürzen durch den langen Kellergang. Am vordersten Treppenflur stocken wir geblendet. Der Strahl einer Taschenlampe richtet sich auf uns. Dahinter versinkt die Welt im Dunkel. 'Drusja!' sage ich in die Finsternis hinein … Ich sehe ein bärtiges Gesicht, zwei wachsame Augen – schräggestellt wie Kalmückenaugen – und den hochgeschlagenen Kragen eines Ledermantels. Fahl schimmert der Lauf einer Maschinenpistole. Der Soldat lächelt."[10] (Es wirkt wie aus einem Landserheft, nicht wie aus eigenem Erleben.)

     Genauer bestimmt hat meinen fraglichen Moment jene hellwache Tagebuchschreiberin aus der Südendstraße, gegenüber der Feuerwache, die keinen Kilometer von der Markelstraße entfernt ist: 27. April, 11 Uhr 15. Ihre Beobachtungen hat sie aus einem Abstand von nur einer Woche in eine unredigierte Kladde niedergeschrieben: "Am Freitag früh setzte wie immer die Artillerie ein … Wir standen wie sonst auf und frühstückten. Dann klangen die Schüsse plötzlich nicht mehr ganz so nah, Vati und ich standen in der Tür vom Seiteneingang, dann sammelten wir noch die verstreuten Bretter vom Dach und zerhackten sie zum Verbrennen. Dann kamen allmählich alle aus dem Keller, blinzelten ein bisschen und fingen an zu flachsen. Ich holte eine Rolle Drops aus der Tasche, und munter kauend besahen wir uns die Gegend. Dann tadelte Mutti meine Frisur, ich ging als gehorsame Tochter in den Keller, griff mir meinen Affensarg und stieg hoch, um mich zu kämmen. Wie ich in meinem Zimmer vor dem Spiegel am Balkonfenster stehe, fährt da so eine braune Gestalt auf einem Fahrrad vorüber, grinst freundlich hoch, ich denke, ich sehe nicht recht, aber es war wirklich der erste Russe.“[11]

     Es war also Freitag, der 27. April, bald nach Mittag. Maschinengewehre knatterten näher und ferner, dann war es draußen eine Weile verdächtig still. Eine ganz ungewohnte Stille. Kein Panzer musste die Müllhaufen, genannt Barrikaden, beiseite schieben oder schießen; sie müssen einfach einen anderen Weg genommen haben. Plötzlich erschien im öffentlichen Luftschutzkeller unter dem Hinterhof der Markelstraße 9 ein einzelner Rotarmist. Er trug nicht wie von der Nazipropaganda angekündigt ein großes gewetztes Messer zwischen den Zähnen, um alle zu massakrieren, einen Flammenwerfer führte er auch nicht mit sich, sondern sagte ein Wort,  das ein osterfahrener Mitbewohner als "Klebba" deutete. Er meinte, das heiße 'Brot', ohne zu wissen, ob der Russe chleb haben oder verteilen wollte. Jedenfalls ging er etwas schwankend und wirkte überraschend harmlos. Aufatmen.

     Hatte das Haus Bettlaken aus den Fenstern gehängt? Ich kann es nicht mehr sagen. Geredet wurde davon auf jeden Fall. Die Schwierigkeit war der richtige Zeitpunkt. Eine zu späte Kapitulation hätte russischen Beschuss provozieren können, eine zu frühe vielleicht wieder auftauchende "Kettenhunde" der Militärpolizei, Greiftrupps der SS oder andere, auf eigene Faust operierende deutsche Militärhaufen veranlasst, die Kapitulanten auf der Stelle zu erschießen oder aufzuknüpfen. Mit oder ohne weiße Fahnen: Die Markelstraße fiel ohne Häuserkampf, und ihre Bewohner kamen somit relativ glimpflich davon. So wie Steglitz auch schon relativ glimpflich durch den Bombenkrieg gekommen war; in der Markelstraße waren nur einzelne Häuser, nicht ganze Häuserzeilen zerstört und ausgebrannt. Es war zwar schlecht gegangen, aber, wie man allerdings erst viel später erkennen konnte, vergleichsweise gut.

     Ein, zwei Tage später begannen die Plünderungen (erst "Uri-Uri" und dann alle sonstigen Wertsachen) und Vergewaltigungen ("Frau komm"). Die Kinder wurden mehrmals an jüngere, auf älter zurechtgemachte, kohlengeschwärzte Nachbarinnen ausgeliehen, in der nicht ganz grundlosen Hoffnung, dass die Sowjetsoldaten Frauen mit Kindern vielleicht in Ruhe lassen würden. Meine Scheinmuttis wurden tatsächlich nicht vergewaltigt. Ich erinnere mich, dass ich mich weisungsgemäß in der Einfahrt zum Hinterhinterhof eng an dick mit dunklen Tüchern vermummte fremde Frauen drängte, während zu unserer Erheiterung pausenlos die einzige Musikquelle jener stromlosen Tage uralte Schlager klimperte, ein altertümlicher Notenscheibenspieler des Tischlers Rohrbeck. Unter einer "Schändung" konnte ich mir nichts weiter vorstellen; seit meinem Jahr auf dem Dorf war ich zwar in groben Zügen aufgeklärt, fand das Ganze aber immer noch mysteriös, und gesprochen werden durfte davon höchstens in leisen, wissenden Andeutungen. Ich wusste nur, dass die fremden Soldaten scharf darauf zu sein schienen und dass die Frauen dabei manchmal schrien. Wenn ich sie hinterher verstohlen beäugte, schienen sie mir aber nicht in einem Maße beschädigt, das ihr Schreien gerechtfertigt hätte. Die Männer aber taten, als seien sie nun für ihr Leben entehrt und aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen.

     (Nachdem ich diese letzten Sätze geschrieben hatte, habe ich mich erschrocken gefragt, ob ich  die Vergewaltigungen wirklich so ungerührt, geradezu hartherzig erlebt habe. Doch, ich habe es. Hartherzigkeit ist aber vielleicht nicht das rechte Wort für einen Zustand, in den ein Zehnjähriger durch jahrelangen Bombenkrieg und permanente Lebensgefahr versetzt worden war: eine Art chronifiziertes Grausen, in dem man jedes Mal erleichtert ist, wenn man wieder einmal das Schlimmste erwartet hat und es dann doch nicht eintritt. Was zwischen den Frauen und den Vergewaltigern passierte, wusste ich erst seit ein paar Monaten und nur andeutungsweise; weder von der Lust des Mannes noch von der körperlichen und seelischen Verletzung der Frau hatte ich die mindeste Vorstellung. Für mich kam es nur darauf an, ob jemand aus einer Gefahrensituation lebend und unverstümmelt hervorging. In diesem Sinne kamen die vergewaltigten Frauen in unserem Keller alle heil davon. Natürlich war mir in jenen Wochen klar, dass meiner Mutter jederzeit das gleiche zustoßen konnte. Dann hätte ich gehofft, dass sie lebend und unverstümmelt daraus hervorginge; die Chance schien ja zu bestehen. Die Reaktion, die ich dagegen von meinem Vater erwartete – offenbar hatte er derlei angedeutet –, schien mir ganz und gar unangebracht: die moralische Empörung über ihre und seine Entehrung. Die, dachte ich, könnte meine Mutter dann am allerwenigsten gebrauchen und würde das Unerhörte, das in keinem Moralschema vorgesehen war, in einem besonders perniziösen Ehekrach enden lassen. Meine Lebenskenntnis reichte mit zehn Jahren nicht aus, um zu verstehen, dass sich hinter der präventiven moralischen Wut meines Vaters über seine eventuelle Entehrung etwas anderes verstecken könnte: die Wut über das, was er wahrscheinlich als sein eigenes Versagen empfand, seine Unfähigkeit, eine Vergewaltigung zu verhindern, denn er gab sich sicher nicht der Illusion hin, dass er den völlig unnützen, möglicherweise selbst­mörderischen Versuch gemacht hätte, die "Ehre" seiner Frau zu verteidigen. Die Probe ist ihm glücklicherweise erspart geblieben. Dass Vergewaltigungen damals von den Männern vor allem als Entehrungen verstanden wurden, habe ich ihnen schon mit zehn Jahren verübelt.)   

     Ein Russe auf Uhren-Beutezug setzte im öffentlichen Luftschutzkeller Vater die Pistole an die Schläfe, damit er etwa versteckte Uhren herausrücke. Vater aber blieb standhaft und verriet seinen kostbarsten Besitz nicht, eine goldene Taschenuhr, für die er ein Versteck in eine Fuge des Kellergemäuers gekratzt und mit einem gekalkten Stück Holz verschlossen hatte. Ich war froh, dass der Soldat nicht auch mir mit seiner Pistole drohte, weil ich Vaters Schweigen für unklug hielt und ihn darum möglicherweise verpetzt hätte.

     Als wir wieder hinauf in die Wohnung zogen, in der von einer nahen Explosion her die Vorderzimmer voller Schutt lagen, die aber zumindest noch existierte und bewohnbar war, fanden die Plünderungen nachts statt. Ein Lkw hielt in der Nähe, russische Rufe, Tritte auf der Treppe, Schläge an die Türen, hinter denen die Bewohner zitterten, und wenn nicht geöffnet wurde, wurden die Füllungen mit dem Gewehrkolben eingeschlagen. Aber von Etage zu Etage erlahmte der Plünderungseifer immerr, und meiner Erinnerung nach kamen sie nur einmal bis zu unserer Wohnung herauf, wo sie die Türfüllung einschlugen, dann aber wundersamerweise wieder abzogen, wohl aus Respekt vor einer Mutter mit ihren drei Kindern, darunter einem Säugling. Die Hauptangst aber betraf gar nicht das Hab und Gut. Mehr als seinen Verlust fürchteten die Leute in den Wohnungen, die Russen würden die verbliebenen Männer irgendwohin "abholen" – "auf die Kommandantur", nach "Sibirien", zum Erschießen.

     Um den 10. Mai klebten Zettel an den Wänden, dass bestimmte Dinge abzugeben seien: Radioapparate, Schreibmaschinen, Telefone, Messer, Scheren … Wir überlegten, ob wir die Küchenmesser behalten dürften, und gaben das eine ab und behielten das andere. Unser Radio Marke Körting, kostbarer als ein Volksempfänger, hinter dessen grünem Katzenauge ich ein paar Jahre zuvor ein Zwergenorchester vermutet hatte, verloren wir aber nicht an die Russen, sondern an einen Deutschen aus der Nachbarschaft, der vorgab, er habe den offiziellen Auftrag, Radios zu beschlagnahmen und gleich mitzunehmen. Als Vater den Betrug ahnte und den Mann identifiziert hatte, ging er mit mir in die Maßmannstraße und klopfte an dessen Tür, bekam aber nur die patzige Antwort, dass man von nichts wisse und er sich davonscheren solle. Mein erst vor kurzem erworbenes Holzbett wurde unfreiwillig gespendet; seitdem schlief ich jahrelang "auf der Ritze" im elterlichen Ehebett und später auf der Couch im "Herrenzimmer".

     Am 1. oder 2. Mai hörten wir irgendwie das Gerücht, der Führer sei an der Spitze seiner Getreuen vor der Reichskanzlei gefallen, und ich musste heulen. Aber wie hörte ich es? Es gab seit einer Woche keinen Strom und also auch kein Radioprogramm, und mit einem Detektor werde ich damals noch nicht experimentiert haben. Andererseits verbreiteten sich Gerüchte in dieser nachrichtengierigen Zeit fast genauso schnell wie Radiosendungen, Steglitz war nur sechs Kilometer vom Führerbunker entfernt, und Nazis wie die Kupperts hätten mir die für sie so bittere Nachricht sicher in solch einer heroischen Form beigebogen. Jedenfalls reflektiert meine in diesem Fall sehr klare Erinnerung den Wortlaut des verlogenen Wehrmachtsberichts vom 2. Mai 1945, den ich erst jetzt nachgelesen habe: "An der Spitze der heldenmütigen Verteidiger der Reichshauptstadt ist der Führer gefallen. Von dem Willen beseelt, sein Volk und Europa vor der Vernichtung durch den Bolschewismus zu retten, hat er sein Leben geopfert … Die Reste der tapferen Besatzung von Berlin kämpfen im Regierungsviertel, in einzelne Kampfgruppen aufgespalten, erbittert weiter."[12] Irgendwie muss diese Meldung jemandem in der Markelstraße 9 bekannt geworden sein. Wir gehörten da aber schon seit fast einer Woche zu den Vernichteten.

     Nach diesem einen Weinanfall war ich ein für allemal von allem Nazitum geheilt. Dass ich, als ich ein paar Tage später bei den Besitzern eines Kuhstalls klopfte (wohl bei W. Andree, Hubertusstraße 4), um Milch für meinen Bruder Rainer zu erbetteln, noch einmal automatisch mit "Ha-ittla!“ grüßte, worauf mir die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde, war mir nicht nur peinlich, weil ich meine Hoffnung auf Milch begraben musste, sondern weil das ganze Propagandakartenhaus in mir im Zusammenstürzen begriffen war. (So etwas gab es noch: Hinterhof-Kuhställe, Relikte aus Steglitz' ländlicher Vergangenheit – die Mietshäuser dort wurden erst um 1900 gebaut –, den mit der ergiebigsten Kuh vorne in der Schildhornstraße, wahrscheinlich Hecker, Schildhornstraße 6, gleich neben der größten Scheußlichkeit des heutigen Steglitz, dem "Bierpinsel".)

     Ein großes Wort, dass ich fast schlagartig geheilt war, wo doch die Deutschen ihren Irrtum angeblich noch jahrzehntelang nicht einsehen wollten. Aber so war es. Seit ich zu Bewusstsein gekommen war, hatte ich nolens volens meine Wahrnehmungen mit den im Schwange befindlichen Meinungen und Ansprüchen verglichen und dabei in den letzten Jahren immer größere Diskrepanzen bemerkt. Im Alter von neun, zehn Jahren meinte ich zeitweise ernstlich, es bestünde eine explizite Verschwörung der Erwachsenen, Kindern entscheidende Tatsachen vorzuenthalten und in ihrem Beisein Dinge zu behaupten, die es gar nicht gab, ein generalisiertes politisches Weihnachtsmannwesen sozusagen. Auch die Weihnachtsmannlüge hatte ich selber enttarnen müssen. Nun gab es die Aussicht, viel wesentlichere Diskrepanzen endlich aufzulösen. Was schon wenige Wochen später, als die ersten Zeitungen erschienen, über die befreiten Konzentrationslager bekannt wurde, kam mir auf der Stelle nur allzu plausibel vor und passte sehr genau in mein neues Weltbild. Wenn ich aus diesem Umbruch eines davongetragen habe, dann die Gewissheit, dass es nichts hilft – egal, wie überzeugt andere etwas behaupten, man muss im Leben schon alleine denken.

     Hitler hatte am 30. April in kleiner Runde seine Henkersmahlzeit eingenommen (Spaghetti mit Tomatensauce) und sich um halb vier nachmittags mit einer Zyankaliampulle vergiftet; sicherheitshalber erschoss er sich gleichzeitig mit einer von zwei bereitgehaltenen Pistolen. Sodann wurde er im unter Beschuss stehenden Hof seiner Reichskanzlei gemäß seinem letzten Willen mit Benzin übergossen und verbrannt. Der eine Woche vorher zum Kommandanten von Berlin ernannte General der Artillerie Helmuth Weidling nahm am 2. Mai auf der Potsdamer Brücke, neben der heutigen Staatsbibliothek Haus II Kontakt zu den Sowjets auf und erklärte in Tempelhof (aber bestimmt nicht vor dem Neuköllner Haus der Anonyma wie in dem Film aus dem Jahre 2008) die Kapitulation der Berliner Garnison. Ganz Nazideutschland (vertreten durch General Jodl) kapitulierte am 7. Mai im Hauptquartier von General Eisenhower in Reims, und einen Tag später "ratifizierte" Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel die Kapitulation in der Festungspionierschule in Berlin-Karlshorst vor Marschall Shukow. Der Waffenstillstand trat in der Nacht darauf in Kraft, genau eine Minute nach Mitternacht. Ein amerikanischer Journalist, der die dazu eingeflogene amerikanische Delegation vom Flughafen Tempelhof nach Karlshorst begleitete, schrieb: "Über viele Meilen standen da die hageren, abgedeckten, ausgehöhlten Häusergerippe, schweigend und wie Skelette. Es gab keinen Verkehr auf den Straßen außer russischen Militärfahrzeugen. Über der ganzen toten Hauptstadt war die Luft dick mit Rauch gemischt, und es waren Rauchsäulen zu erkennen, die sich aus brennenden Gebäuden träge in den stillen Himmel über der Stadt hinaufschraubten."

     Alle späteren filmischen Rekonstruktionen des gestorbenen Berlin geben ein viel zu adrettes und pittoreskes Bild. Ich erinnere vor allem: Trümmer, Schutt, Staub auf allem, herumliegende Munitionsreste, Bombentrichter, Einschusslöcher in den Fassaden, wo noch ein Häuserkampf stattgefunden hatte, Markel- Ecke Lepsiusstraße zum Beispiel, Blindgänger, zerschossene Verkehrsmittel, abgesackte Leitungen, abgedeckte Dächer, schiefe Masten, blinde oder verpappte Fensterhöhlen, friedlich vor sich hin qualmende Häuser, Rauchschwaden, durch die Luft segelnde ausgeglühte Papierfetzen, den charakteristischen Kalkgeruch zerborstenen Mauerwerks vermischt mit dem brenzligen Geruch verkohlter Holzbalken, bald näheres, bald ferneres vereinzeltes Schießen wie im zweiten Teil einer Silvesternacht, leere Straßen. Nun war alles stehen geblieb. Es gab kein Wasser, keinen Strom, kein Gas, keine Lebensmittel, nichts zum Heizen, keine Polizei, keine Feuerwehr, keine Straßenbahnen, keine S- und U-Bahnen, keine Busse, keine Lkws, keine PKW – keinerlei Verkehr oder Wirtschaftsleben mehr, nur graue, ungelüftete, abgerissene und ausgemergelte Menschen, die sich tagsüber nach und nach wieder vorsichtig aus ihren Kellern hervortrauten. Wie es draußen aussah, beschreibt wiederum Sabine K. (ich traute mich noch nicht weit genug aus dem Keller heraus): "In der Schlossstraße war reger Betrieb, Autos fuhren hin und her, Lastwagen, Panjefuhrwerke, Russen zu Fuß, Russen zu Rad, Russen auf dem Motorrad, Kommissarinnen im Beiwagen, alle mit flatternden roten Fähnchen und triumphierendem Lächeln. Sie jagen mit waghalsiger Geschwindigkeit die Straßen entlang, hupen wie die kleinen Kinder laut und anhaltend, und wenn sie ein Auto in Klump gefahren haben, lassen sie es stehen und holen sich ein neues … Auf dem Rathausplatz lagen Patronen und Scherben, die Leitungsdrähte von der Straßenbahn waren schon zu einem Haufen zusammengetragen. An der Ecke standen zwei halbwüchsige Mädchen mit einem kleinen Jungen und rauchten eine Zigarette nach der anderen."[13]

     Das Eigentliche in diesem Interregnum waren aber gar nicht die Geschehnisse und ihre Kulisse. Es war die Tatsache, dass niemand die geringste Vorstellung hatte, wie das Leben weitergehen würde, ob es weitergehen würde. Alle konnten nur versuchen, Tag für Tag Wasser und irgendetwas Essbares zu beschaffen, und im übrigen warten, warten, warten. Am 5. Mai jedenfalls gab die russische Kommandantur die neuen Lebensmittelrationen bekannt: täglich 200 Gramm Brot, 400 Gramm Kartoffeln, 25 Gramm Fleisch, 10 Gramm Zucker, 2 Gramm Kaffee, 10 Gramm Salz für jeden ohne Ausnahme. Zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig, trotzdem ein Wunder.

     Als wir (es muss um den 9. Mai gewesen sein[14], kurz nach der Totalkapitulation, die uns nicht weiter interessierte, da wir schon seit fast zwei Wochen russisch waren) unseren von Vater gebauten Plattenwagen (ein paar in Ruinen organisierte Holzlatten mit Resten elfenbeinfarbenen Lacks, vier zehn Zentimeter hohen Aluminiumrädern, einer Deichsel) die Schlossstraße und Unter den Eichen entlangrasselten, weil dort in einem verlassenen Krankenhaus ein Kohlenkeller offen stehen sollte (ein zutreffendes Gerücht, aber es war leider nur Koks), zogen gerade die sowjetischen Kampftruppen aus Berlin ab – Lastwagen, Traktoren mit kleinen Geschützen im Schlepp, Motorräder, "Panjewagen" und trottende Soldaten, die abgekämpft in endloser Kolonne die Reichsstraße 1 entlang Richtung Wannsee und Potsdam zogen, und als wir mit ein paar Schippen Koks auf dem Wagen zurückgingen, zogen sie immer noch.

     Der Völkische Beobachter war zum letzten Mal am 25. April erschienen, aber schon seit Tagen oder Wochen nicht mehr bis Steglitz durchgedrungen, doch bald nach der Ankunft der Roten Armee, am 15. Mai hing wieder eine Zeitung aus, die Tägliche Rundschau – Frontzeitung für die deutsche Bevölkerung. Als erstes gab sie neue Lebensmittelrationen bekannt: für Normalverbraucher und Kinder täglich 300 Gramm Brot, 30 Gramm Nährmittel, 20 Gramm Fleisch, 7 Gramm Fett, 15 Gramm Zucker, 400 Gramm Kartoffeln und im Monat 400 Gramm Salz, 25 Gramm Bohnenkaffee, 20 Gramm Tee und 100 Gramm Kaffeeersatz – mehr als zuletzt bei den Nazis. Für Angestellte gab es eine Zulage, für Arbeiter eine höhere und für Schwerarbeiter die höchste. Am 23. Mai spielte das Renaissance-Theater wieder, und zwar angeblich Der Raub der Sabinerin (sic), am 26. Mai fand gleich um die Ecke im Titania-Palast das erste Nachkriegskonzert der Berliner Philharmoniker unter Leo Borchard statt (Mendelssohn Bartholdy, Tschaikowskij: ein Jude, ein Russe), ab 30. Mai gab es im Prinzip wieder zeitweise Strom. Am 12. Juli fuhr auf der Schlossstraße wieder eine Straßenbahn, die "74", aber nur vom Depot am Hindenburgdamm bis nach Schöneberg; von dort sollte man mit einem Bus weiter bis zum Potsdamer Platz kommen können. Die letzten Reste des Berliner S-Bahnbetriebs auf der relativ unzerstörten Wannseebahn waren am 25. April eingestellt worden, der U-Bahnbetrieb ebenfalls, und noch am Morgen des 2. Mai hatten wahrscheinlich SS-Kommandos den Nord-Süd-Tunnel unter dem Landwehrkanal gesprengt, sodass der gesamte S-Bahn-Tunnel und weitere Teile des sowieso wegen eines Bombentreffers in den Spree-Tunnel am Bahnhof Klosterstraße schon unter Wasser stehenden U-Bahnnetzes überflutet wurden und möglicherweise Hunderte ertranken, die hier Schutz gesucht hatten oder durch die Tunnel aus dem Stadtinneren fliehen oder dorthin vordringen wollten. Aber schon am 6. Juni fuhren auf der nunmehr eingleisigen Strecke Wannsee-Schöneberg die ersten S-Bahnzüge wieder (das zweite Gleis hatten die Russen eiligst abmontiert), laut handgeschriebenem Zettel am Bahnhof Feuerbachstraße zweimal am Tag, morgens und abends. Ab 11. Juni fuhren sie sogar bis Großgörschenstraße, dann wurde der Betrieb vorerst wieder eingestellt. Ich stand lange auf der Brücke und wartete darauf,  dass vom Bahnhof Steglitz her ein Zug auftauchte, wie er es endlich immer getan hatte, als Zeichen, dass das Leben weiterging, aber ich sah erst einen kommen, als hier ab 21. Juli wieder zwölf Zugpaare täglich verkehrten. Ab 6. August fuhren sie sogar über Großgörschenstraße hinaus zum überirdischen Potsdamer Ringbahnhof, weiter bis Friedrichstraße aber erst ab 27. Juli 1946, als der Tunnel so weit leergepumpt und wiederhergestellt war. An der Nordausfahrt des Bahnhofs Friedrichstraße endeten die Gleise an einer triefenden Spundwand – weswegen ich lange meinte, der Wassereinbruch habe unter der Spree stattgefunden. Am 16. November 1947 wurde schließlich der ganze Tunnel wieder freigegeben.

     Anfang Juni mussten auf Anordnung des russischen Stadtkommandanten (Generaloberst Nikolaj Bersarin, der den Berlinern erstaunlich wohlgesinnt war, aber leider einige Wochen später tödlich verunglückte) alle Häuser mit den vier Siegerfahnen beflaggt werden. Sehr wahrscheinlich war es zum 5. Juni, als General Eisenhower, Feldmarschall Montgomery und General Delatre de Tassigny nach Berlin kamen, um zusammen mit Marschall Shukow am Fuß des Müggelbergs die "Deklaration über die Niederlage Deutschlands" zu unterzeichnen. (Oder war es erst sechs Wochen später, anlässlich der Potsdamer Konferenz?) Die Fahnen sollten in allen Mietshäusern aus den mittleren Fenstern des zweiten Stockwerks gehängt werden, also aus unserem Erkerzimmer, und darum waren wir irgendwie bei der Aktion federführend. Als Vorlage diente die farbige Flaggen-Tafel in Vaters Volks-Brockhaus. Die anderen Mieter beteiligten sich mit Stoffresten nur widerstrebend. Verwendet wurde für die Sowjetfahne unsere alte Hakenkreuzfahne. An die Stelle des weißen Innenkreises mit dem Hakenkreuz wurde ein zerschnittenes Inlet genäht, aber niemand wusste so recht, wie Hammer und Sichel anzuordnen wären, und die anderen Fahnen außer der französischen Trikolore waren noch schwieriger. Blaue Stoffreste waren nur schwer aufzutreiben, niemand wusste genau, wie viele Sterne auf die amerikanische gehörten, und der britische Union Jack mit seinen schrägen Streifen stellte ein besonderes sartorisches Problem dar, wenn man keine Nähmaschine hat. Auch wusste niemand genau, was eigentlich der Grund für die Beflaggung war. Ich erwartete, dass bald eine Siegerkolonne vorfahren und unser Werk wohlgefällig, aber auch kritisch in Augenschein nehmen würde, doch niemand nahm Notiz davon. Vier dilettantische Siegerfahnen hingen in jedem Mietshaus schlaff aus dem zweiten Stock, und kein Sieger geruhte, sie auch nur zur Kenntnis zu nehmen. In den Straßen tauchten jedoch große, graue, solide Holztafeln auf, auf denen Sprüche standen wie "Die Hitlers kommen und gehen, das deutsche Volk aber, der deutsche Staat bleibt. Josef Wissarjonowitsch Stalin". Eine solche Tafel stand auch in der Markelstraße, etwa vor dem Haus Nummer 5.

     Der Titania-Palast um die Ecke war relativ unbeschädigt geblieben; hier hatte ich noch im Februar ergriffen Veit Harlans Durchhalteklitterung Kolberg gesehen, mit Horst Caspar als einem verdammt sympathischen Hitler-Verschnitt, jetzt sah ich dort mehrere russische Spielfilme, in denen es ebenfalls hochdramatisch herging, ich schätze zwischen Traktoristen und Traktoristinnen, und denen ich tröstlicherweise entnahm, dass es auch weiterhin Filme geben würde, von denen ich nur leider kein Wort verstand.

     Vom 17. Juli bis 2. August trafen sich im Schloss Cecilienhof in Potsdam Stalin, Truman und Churchill, um endgültig zu beschließen, wie es nun mit Deutschland weitergehen sollte und in welchen Grenzen. Eilends wurde extra ein Gleis mit der breiteren russischen Spurweite bis nach Potsdam verlegt, damit Stalin in seinem Salonwagen von Moskau aus durchfahren konnte. Eine Protokollnotiz sah die "Westverschiebung" Polens bis an Oder und Neiße vor. Ich weiß nicht, ob meinem Vater sofort klar war, dass seine gesamte Posener Verwandtschaft, soweit sie den Krieg überlebt hatte, nun demnächst "im Westen" auftauchen würde. Verkündet wurde: "Alliierte Armeen führen die Besetzung von ganz Deutschland durch, und das deutsche Volk fängt an, die furchtbaren Verbrechen zu büßen, die unter der Leitung derer, welche es zur Zeit ihrer Erfolge offen gebilligt hat und denen es blind gehorcht hat, begangen wurden. Auf der Konferenz wurde eine Übereinkunft erzielt über die politischen und wirtschaftlichen Grundsätze der gleichgeschalteten Politik der Alliierten in bezug auf das besiegte Deutschland in der Periode der alliierten Kontrolle. Das Ziel dieser Übereinkunft bildet die Durchführung der Krim-Deklaration über Deutschland. Der deutsche Militarismus und Nazismus werden ausgerottet, und die Alliierten treffen nach gegenseitiger Vereinbarung in der Gegenwart und in der Zukunft auch andere Maßnahmen, die notwendig sind, damit Deutschland niemals mehr seine Nachbarn  oder die Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt bedrohen kann. Es ist nicht die Absicht der Alliierten, das deutsche Volk zu vernichten oder zu versklaven. Die Alliierten wollen dem deutschen Volk die Möglichkeit geben, sich darauf vorzubereiten, sein Leben auf einer demokratischen und friedlichen Grundlage von neuem wiederaufzubauen. Wenn die eigenen Anstrengungen des deutschen Volkes unablässig auf die Erreichung dieses Zieles gerichtet sein werden, wird es ihm möglich sein, zu gegebener Zeit seinen Platz unter den freien und friedlichen Völkern der Welt einzunehmen." Das habe ich damals wahrscheinlich nicht zu lesen bekommen. Es hätte mir Hoffnung gegeben.

     Am 5. Juli verschwanden plötzlich die Russen aus Steglitz, und Amerikaner und Briten nahmen die ihnen zugefallenen "Sektoren" in Besitz. (Die Franzosen rückten erst am 12. August in Reinickendorf und Wedding ein.) Steglitz wurde amerikanisch. Erste Jeeps mit schmucken und lässigen  "Amis", deren Kiefer unablässig mahlten, erschienen auf der Schlossstraße. Sofort sah alles geordneter und hoffnungsvoller aus. 1945/46 war die große Zeit des Schwarzhandels, und unabsichtlich verschafften die Amerikaner ihm die Basis, indem sie achtlos wertvolle Zigarettenstummel wegwarfen. Die Währungseinheit des schwarzen Markts war die Kippe. Von den russischen Papirossi wurden nur angebräunte Papierröllchen weggeworfen; aber amerikanische Zigaretten ('Camel', 'Chesterfield' oder 'Lucky Strike', alle gleich) waren filterlos, und jede Kippe enthielt so viel Tabak, dass drei bis fünf für eine selbstgedrehte reichten. Jeder Zigarettenstummel war auf dem Schwarzen Markt zwei bis drei Mark wert. Zettel mit Angeboten und Nachfragen hingen an vielen Straßenbäumen und konzentrierten sich bei uns bald auf einen Lindenstamm Maßmann- Ecke Markelstraße. Aber die Familie Zimmer nahm daran nicht teil. Keiner von uns hatte ein Händchen dafür, und auch Startkapital war nicht vorhanden – keine Wertsachen, keine baren Ersparnisse.

     Vaters Monatsgehalt betrug 584 Reichsmark; er hatte niemals auch nur einen Pfennig mehr und musste davon eine fünfköpfige Familie durchbringen. Die Miete lag bei etwa 95 RM. Im September 1945 kostete ein "schwarzes" Pfund Mehl um die 150 Mark[15]. Hier einige Schwarzmarktpreise vom April 1946, nach einer Aufstellung im Landesarchiv Berlin: 1 Kilo Schwarzbrot 70 Mark, 1 Kilo Kartoffeln 14, 1 Kilo Zucker 160, 1 Kilo Schweinefleisch 350, 1 Kilo Butter 800, eine Schachtel amerikanische Zigaretten 180 bis 200, 1 Liter Schnaps 475, ein Coupon für ein Wollkleid 3000 Mark. Neidisch verfolgte ich, wie gleich­altrige Jungs es in wenigen Tagen auf einen ganzen Schatz von Zigarettenstummeln brachten, durch bloße Geistesgegenwart und Chuzpe. Wenn ich irgendwo hinkam, war die Kippe immer schon aufgelesen. Ich ergatterte auch nie einen von den Bonbons, die GIs manchmal von ihren Lastwagen in die Trauben gierender Kinder warfen. Ins Obergeschoss des Titania-Palastes – „No loitering!“ – zog eine amerikanische Offiziersmesse ein, aus der ständig ein überaus verlockender Duft fast bis zu unserem Haus geweht kam, dessen Quelle bald ergründet war: ein Schmalzkessel mit einem mir unbekannten Gebäck. Es waren Doughnuts. Erst ein halbes Jahr später, bei einer Weihnachtsfeier für deutsche Kinder, konnte ich den ersten kosten. Aber als ich in der Markelstraße einmal mit meinem "Holländer" unterwegs war, drehte sich ein GI nach mir um und reichte mir mit nach hinten ausgestrecktem Arm eine Frucht, die ich nur noch vom Hörensagen kannte: eine Apfelsine. Ich nahm sie mit nach Hause. Andächtig zerlegten wir sie so, dass jeder etwas abbekam.

     Am 22. Mai setzte die Sowjetkommandantur den ersten Nachkriegsmagistrat ein. Zum Oberbürgermeister wurde, auf Vorschlag eines aus Moskau zurückgekehrten Kommunisten namens Walter Ulbricht, der siebzigjährige parteilose Ingenieur Arthur Werner aus Lichterfelde gemacht; der Chirurg Ferdinand Sauerbruch war für das Gesundheitswesen zuständig, der in Moskau geschulte Altkommunist Otto Winzer für "Volksbildung", und bald ging ich auch wieder zur Schule: in das Steglitzer Paulsen-Realgymnasium in der Gritznerstraße 57.

     Wann genau? Es ist dies wieder eine meiner kritischen chronologischen Fragen. Ich hätte gemeint, es wäre zwei oder drei Wochen später gewesen, als es tatsächlich war, und die ausführlichste Berliner Tag-für-Tag-Chronik jener zeitungslosen Zeit, die der Edition Luisenstadt, behauptet, der erste Unterricht nach dem Kriege habe am 26. Juni in Treptow stattgefunden.[16] Ich besitze immer noch eine Art Abgangszeugnis aus der Potsdamer Schule, einen nicht einmal halbseitigen, maschinegeschriebenen formlosen Wisch, ausgestellt am 12. Juni 1945, den ich wohl brauchte, um in die Paulsenschule aufgenommen zu werden, denn ich gehörte nach den vorhergehenden Zeugnissen ja erst in die vierte Volksschulklasse, nicht in die Oberschule. Er bescheinigte mir, dass ich das Potsdamer Gymnasium vom 23. Oktober 1944 bis 10. Juni 1945 besucht hätte. An dem ersteren Datum gibt es nichts zu bezweifeln. Es stützt meine Vermutung, dass wir Ende September oder eher noch in der ersten Oktoberhälfte 1944 aus der Uckermark nach Berlin zurückgeholt wurden. Das zweite Datum ist dagegen geflunkert. Am 10. Juni existierte die Schule schon fast zwei Monate lang nicht mehr, und zwischen dem Ende meiner dortigen Schulzeit und dem 10. Juni lag das, was ich immer als die Stunde Null meines Lebens empfunden habe, der Untergang von Nazideutschland, als die Leute ganz andere Sorgen hatten als irgendjemandes Schulbesuch. Ein Rätsel ist mir bis heute, wie dieses Pseudo-Abgangszeugnis von Potsdam nach Steglitz gelangt sein mag, in einer Zeit, als es keine Post gab – der Briefdienst wurde erst am 24. Juli wiederaufgenommen –, kein Telefon, kein Verkehrsmittel. Onkel Wilhelm musste kontaktiert worden sein, er musste den ehemaligen Schulleiter bei sich zu Hause aufgesucht haben, der musste Schreibmaschine und Papier auftreiben, die fertige Bescheinigung musste nach Berlin geschafft werden, und in Thomsens schöner Wohnung waren die Russen und benutzten das Klosettbecken zur Aufbewahrung von Fleisch, wie Tante Erna später entsetzt erzählte.

     Ich hätte also gemeint, dass ich erst nach dem 12. Juni auf die Paulsenschule gegangen sein kann, aber in den Memoiren des ersten Nachkriegsdirektors, Heinrich Deiters[17], steht es auf den Tag genau: Es war der 1. Juni, und zwar zwei Stunden eher als gewohnt, denn seit dem 20. Mai galt in Berlin auf Befehl des sowjetischen Stadtkommandanten die Moskauer Sommerzeit. Alles bis zur offiziellen Wiedereröffnung der Berliner Schulen am 1. Oktober, dem Beginn des neuen Schuljahrs, war Provisorium, Improvisorium. Erst zwei Wochen nach der Wiedereröffnung der Paulsenschule, am 11. Juni, erließ der erste Nachkriegsmagistrat "Vorläufige Richtlinien" für die Wiederaufnahme des Schulunterrichts. Es gab fürs erste keine Lehrpläne; sämtliche Schulbücher waren eingezogen worden. Mein erster Klassenlehrer Hans Frerk, der an meinem ersten Schultag dort anwesend war, stellte seinen Antrag auf Wiederbeschäftigung am 15. Juni (die ganze Seite mit Fragen nach der Zugehörigkeit zu Naziorganisationen beantwortete er von oben bis unten mit "nein" – alle Achtung, lieber Herr Frerk!).[18] Aber schon seit Mai wurde im Hintergrund über Schulformen, Lehrpläne und vor allem darüber diskutiert, wer Lehrer sein dürfe. Einerseits wollte man keine Nazis, andererseits waren Lehrer knapp, so knapp, dass auch längst pensionierte Pädagogen reaktiviert und junge "Schulhelfer" eingestellt werden mussten, die nur eine dreimonatige Eilausbildung hinter sich hatten.

     Ein Teil des Unterrichts bestand in Aufräumarbeiten, die als "Werkunterricht" deklariert waren. Zunächst musste die Schule wetterfest gemacht werden. In einigen Räumen hausten noch Flüchtlingsfamilien aus dem Osten, die hier von einer Stelle des Roten Kreuzes betreut wurden. Der Schule fehlte das Dach, Aula und Turnhalle waren ausgebrannt, die Fenster verpappt oder mit zufällig vorhandenen Röntgenbildern ausgeschlagen, wir saßen teilweise auf Trümmerziegelsteinen, wohl weil viele Schulmöbel verfeuert worden waren, und auf dem Schulhof befanden sich provisorische Gräber, Splittergräben und Bombentrichter, in denen noch Munition herumlag. Symbol für die Zäsur schien mir die kläglich stehen gebliebene Uhr im ramponierten Turm der Schule. Im "Werkunterricht" sollten wir die Trichter und Gräben zuschaufeln; auch musste ein Pferdekadaver verscharrt werden. Unter den Lehrern war einer, der in den Wirren des Kriegs­endes in die Studienratsidentität geschlüpft war, schließlich als Hochstapler enttarnt wurde und das Feld räumen musste. Er nannte sich originellerweise "Meier" und gab "Biologie", indem er uns in jeder Stunde muntere Kriegserlebnisse erzählte und im übrigen aus dem uns unbekannten "Schmeil" einen Baum (Die Eiche, Die Buche …) diktierte, den wir zu Hause auswendig lernen sollten. In der nächsten Stunde weidete er sich dann daran, dass immer derselbe Schüler ("Rööö-del!") ihn nicht auswendig hersagen konnte. Nach seiner Entfernung gab widerstrebend und mit schlechtem Gewissen der Musiklehrer Biologie, der nach eigenem Eingeständnis nichts davon verstand, aber irgendwo war im Gebäude eine alte Schautafel mit Fischen aufgetrieben worden, und die versuchte er uns zu erläutern. (Sein Name war Hinrichs. Ein paar Jahre später schrieb er die Musik für eine Schüleraufführung von Shakespears Sturm im Markus-Gemeindesaal. Ich sollte dabei das Glockenspiel bedienen, erkannte aber meine Einsätze nicht und stieß zu Beginn der Vorstellung das Becken um.)

     Aber etliche unserer Lehrer waren nicht nur fachlich, sondern pädagogisch so völlig ungeschickt und hilflos, dass ich vermute, "Meier" war nicht der einzige Hochstapler im Kollegium; möglicherweise bestand die Hauptqualifikation einiger darin, in ihrem Antrag auf Einstellung geschrieben zu haben, dass sie nie der NSDAP angehört hatten. Höhepunkt des Schultags war ab 19. November jahrelang die "Schulspeisung", ein Klacks irgendwas ins Kochgeschirr, aus einer Art Thermostonne, die von einem röchelnden Dreirad-Lieferwagen gebracht wurde.

     Ich erinnere mich genau an den Wiederbeginn der Schule. Im Lichthof waren die Kinder irgendwie sortiert und dann in verschiedene Räume des ramponierten Gebäudes geschickt worden. Es war nur eine kleine Handvoll gerade aus den Kellern hervorgekrochener Kinder, die an diesem 1. Juni in die unterste Klasse aufgenommen werden wollte, sieben nach der Aufnahmeliste, die mein Klassenkamerad Dieter Menz sich sechzig Jahre später verschaffen konnte, aber in den nächsten Wochen wurden es schnell mehr, 120 bis zum Oktober. Im Klassenzimmer sollten wir auf unsere Lehrer warten. Ich rechnete damit, dass wie in Potsdam gleich jemand Furchterregendes auftauchen würde und wir aufzuspringen und einen zackigen Gruß zu brüllen hätten. Stattdessen ging die Tür einen Spaltweit auf, ein Lehrergesicht mit Brille und spitzer Nase sah herein, sagte locker und beruhigend "Ich bin gleich mal wieder da" und verschwand wieder. Es war Dr. Hans Frerk (der Vater des späteren Stadtrats von Hannover und VW-Vorstands Peter Frerk), 1895 geboren, Studienrat für Englisch und Französisch, schon seit 1938 an der Paulsenschule, wohl wegen einer Kriegsbeschädigung aus dem Ersten Weltkrieg, den er als Infanterist in Frankreich mitgemacht hatte, im Zweiten nicht eingezogen, keiner einzigen Nazi-Organisation angehörig und darum 1945 sofort wieder übernommen.[19] Ich liebte ihn schon seiner lockeren Einführung wegen auf der Stelle, aber dann auch wegen seines ruhigen, überlegenen, niemals aufbrausenden oder drohenden, immer leicht ironischen Unterrichtsstils, sollte später in seiner Moabiter Wohnung in der Elberfelder Straße manche Kanne Tee leeren und verdankte vor allem seiner großzügigen Empfehlung 1950 das Austauschjahr in den Vereinigten Staaten, das mein ganzes späteres Leben bestimmte.

 

Nachschrift. Dass mein Bruder Jürgen das Kriegsende nicht als einschneidende Zäsur, als seine Stunde Null erlebt hat, kann nur an den zweieinhalb Jahren Altersunterschied zwischen uns liegen. Für mich war es die Stunde Null. Ich war vorher sicher gewesen, dass niemand den Einmarsch der Russen überleben würde. Dass dann doch alles irgendwie weiterging, war ein unerwartetes Geschenk, und dass alles nur oberflächlich auf ähnliche Art weiterging, zwar zunächst ziemlich erbärmlich, tatsächlich aber auf eine ganz andere, wunderbare, völlig unvorhersehbare Art, vor allem ohne Krieg als höchstes Lebensziel und tagtägliche Wirklichkeit, war ein neuer Anfang. Ich musste kein Held mehr werden.

     In der zeithistorischen Forschung und der Politik wurde in den letzten Jahrzehnten immer wieder diskutiert, ob das Kriegsende für die Deutschen eine "Niederlage" oder eine "Befreiung" war. Seit Bundespräsident von Weizsäcker mit seiner Rede vor dem Bundestag am 8. Mai 1985 die Deutschen angeblich mit sich selbst ins reine brachte, indem er ihnen erklärte, dass es eine 'Befreiung' war, ist es politisch höchst inkorrekt, noch von einer "Niederlage" zu sprechen. Ich hatte nie  Verständnis für diesen Streit. Für mich war es immer sonnenklar, dass das Kriegsende auf höchst emphatische, aber sehr verschiedene Weise beides war, Niederlage und Befreiung. Objektiv war es natürlich eine Befreiung, die vom nationalsozialistischen Regime. Das allerdings war Deutschland nicht von außen aufgezwungen worden, sondern aus seinem mehrheitlichen Willen hervorgegangen; also war es eine Art Befreiung von sich selbst. Subjektiv wurde es von den allermeisten jedoch keineswegs als Befreiung erlebt, allenfalls vorsichtig als eine Befreiung vom Krieg, sondern als Niederlage. Es war eben ein Zusammenbruch, eben "der Zusammenbruch": auch alles dessen, woran man bisher geglaubt oder gezweifelt hatte. Sogleich als Befreiung sahen ihn nur die eindeutigen Systemgegner, die versteckten Juden, die sich jetzt wieder auf die Straße trauen konnten, die überwinterten Kommunisten und Sozialisten, die ihre versteckten alten Parteiausweise erwartungsvoll hervorholten und die Rote Armee hier und da mit Roten Fähnchen bewillkommneten. Für die anderen war es subjektiv die seit Jahren immer stärker gefürchtete Niederlage und nichts anderes – und historisch war es von größter Wichtigkeit, dass es die vollständige, unmissverständliche Niederlage war und dass sie als solche auch von jedermann aufs alleranschaulichste erlebt wurde. Ohne das Bewusstsein, dass Hitlers Tausendjähriges Reich in der vollständigen Katastrophe geendet hatte und Deutschland nicht nur kaputt war, sondern vor aller Welt mit unaussprechlicher Schande übergossen dastand und nun eigentlich gar nichts mehr zu melden hatte, hätte das Gift des Nationalsozialismus in irgendeiner Weise fortgelebt und einen Neuanfang sehr viel schwerer gemacht.

     Wenn deutsche Politiker sich heute an alliierten Siegesfeiern beteiligen, ganz als hätte Deutschland selbst auf der Seite der Sieger für seine Befreiung gekämpft, so habe ich ein ungutes Gefühl. Ich respektiere den nachträglichen guten Willen, aber es sieht mir auch aus wie ein Versuch der Selbstexkulpation – und als solcher erscheint es mir irgendwie schamlos, wie eine Beleidigung der ungeheuren Opfer, die jene Länder bringen mussten, denen die Raserei Deutschlands jenen Krieg aufgezwungen hatte.


[1] Bestätigung für die Existenz dieser Fahrbeschränkungen u.a. in der Berlin Chronik www.luise-berlin.de/Kalender/ und für die Farben der Ausweise bei Inge Deutschkron: Ich trug den gelben Stern (Bonn: Verlag Wissenschaft und Politik, 1978, S. 189).

[2] Diese Daten nach Ruth Andreas-Friedrich, Der Schattenmann – Tagebuchaufzeichnungen 1938–1948 (Berlin: Suhrkamp, 1947, in suhrkamp taschenbuch Nr. st 3189, 2000, S. 233).

[3] Anonyma: Eine Frau in Berlin – Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945 (Frankfurt/Main: Eichborn, 2003, S. 14).

[4] Die Hauptdaten nach Karl Bahm: Berlin 1945 – Die letzte Schlacht des Dritten Reichs (Klagenfurt: Kaiser, 2002), einem militärgeschichtlichen Abriss, der leider ohne Ortskenntnis geschrieben und aus dem Englischen übersetzt wurde.

[5] Die Tagebuchschreiberin wird nur als Sabine K. identifiziert. Sie wurde später Schauspielerin am Maxim-Gorki-Theater und kam 1969 bei einem Autounfall ums Leben. Ihr Tagebuch vom Kriegsende ist abgedruckt in Ingrid Hammer/Susanne zur Nieden (Hg.): Sehr selten habe ich geweint – Briefe und Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg von Menschen aus Berlin, Zürich: Schweizer Verlagshaus, 1992, S. 378-421.

[6] Es ist amüsant und instruktiv, gelegentlich in alten Adressbüchern zu lesen. Bei Kriegsausbruch vermerkte das Berliner Adressbuch für die "Haushaltsvorstände" – jedem Haushalt sein Führer – in der Markelstraße Nummer 2 folgende Berufsangaben: kaufm.Angest., Ob.Aufgieß., Rentnerin, Orth.Schuhmmstr., kaufm.Angest., Gemüse [wohl Händler], Stenotypistin, Maler, Bankbeamt., Gauwanderwart, Rentner, Gärtner, Tischler, Lebensmittel, Seifen, kaufm.Angest. In der Nummer 8: Kraftwführ., Bote, Bankbeamt., Elektrotechn., Buchbind., Ob.Heilgeh., Reisebüroarb., Arbeit., Frau, Stanzer, Frau, Postangest., Ww., Schriftsetz., Frau, Zeitungshdlr., Verwalt.Assist. a.D., Hauptwachmstr. a.D., Frau, Ww. Und bei uns, in der Nummer 9: Konrektor a.D., Zahnarzt, Arbeit., Ww., Maler, Zuschneid., Ingen., Postinsp., Tischler, Dreher, Stellm., Postschaffn., Ww., Telegr.Assist., Steuerinsp. Der Anteil von "Frau" und "Ww."  sollte sich in den Jahren darauf noch einmal kräftig erhöhen. Charakteristisch waren auch die vielen Kleinbetriebe meist im Erdgeschoss der Hinterhäuser, bei uns eine Tischlerei und eine feinmechanische Werkstatt. Steglitz – das eigentliche Steglitz, nicht der heutige Verwaltungsbezirk dieses Namens – galt und gilt als eine homogen "bürgerliche" Gegend. Das Adressbuch verrät dagegen, dass es sozial auf eine geradezu musterhafte Weise durchmischt war. Vielleicht war es mein Steglitzer Hintergrund, der dazu führte, dass mir später die rigorose marxistische Teilung der Gesellschaft in zwei von der Geschichte zu ewiger Feindschaft verdammte Klassen völlig realitätsfremd vorkam, in irgendwie höherwertige Proletarier (Arbeiter und Bauern) und minderwertige Bürger. Die Bewohner der Markelstraße passten in kein solches Schema. Es waren Hilfsarbeiter, Arbeiter, Handwerker, selbständige Kaufleute, Angestellte, Beamte, Akademiker, die unter ähnlichen Lebensumständen lebten, denen äußerlich keine sozialen Unterschiede anzumerken waren und deren objektive soziale Interessen sich weitgehend deckten. Von welchen Menschen redeten die Marxisten also eigentlich? Von unsereinem ja wohl nicht.

[7] Antony Beevor: Berlin 1945 – Das Ende. München: Bertelsmann, 2002. Taschenbuchausgabe: München: Goldmann, 2005, S. 354.

[8] www.luise-berlin.de/Kalender/.

[9] „Im Süddteil der Reichshauptstadt toben schwere Straßenkämpfe in Zehlendorf, Steglitz und am Südrand des Tempelhofer Feldes. Im Osten und Norden leisten unsere Truppen, tapfer unterstützt von Einheiten der Hitler-Jugend, der Partei und des Volkssturmes, am Schlesischen und Görlitzer Bahnhof sowie zwischen Tegel und Siemensstadt erbitterten Widerstand. Auch in Charlottenburg ist der Kampf entbrannt …“ (Die Wehrmachtsberichte dieser Tage sind im vollen Wortlaut abgedruckt in Margret Boveri, Tage des Überlebens – Berlin 1945 (München: Piper, 1968; der vom 26.4.1945 auf S. 72-73).

[10] Ruth Andreas-Friedrich: Der Schattenmann – Tagebuchaufzeichnungen 1938-1948. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1947/2000, S. 281.

[11] Sabine K.: „… mir ist nur wichtig, ob es in Zukunft so eine Art von Kunst geben wird oder nicht“, in Hammer/zur Nieden (Hg.): Sehr selten habe ich geweint, Zürich: Schweizer Verlagshaus, 1992, S. 395-396.

[12] Abgedruckt in Margret Boveri, Tage des Überlebens – Berlin 1945, München: Piper, 1968, S. 97.

[13] Sabine K.: „… mir ist nur wichtig, ob es in Zukunft so eine Art von Kunst geben wird oder nicht“, in Hammer/zur Nieden (Hg.): Sehr selten habe ich geweint, Zürich: Schweizer Verlagshaus, 1992, S. 405-406.

[14] Einen Hinweis auf das frühe Datum des Abzugs der Kampftruppen aus Berlin gibt Anonyma in Eine Frau in Berlin – Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945 (Frankfurt/M.: Eichborn, 2003, S. 164). Eintrag unter 8. Mai, Ort Neukölln, Nähe Hermannplatz: "Sie haben unser Haus geräumt, sind aus dem ganzen Block abgezogen – während wir das Schmutzwasser holten, sind sie auf Lastwagen abgerollt … Weg! Alle weg! Wir können es kaum fassen, blicken unwillkürlich straßenaufwärts, als müssten von dorther Lastwagen mit neuen Truppen anrollen. Aber nichts, nur Stille, seltsame Stille. Keine Gäule mehr, kein Pferdewiehern, kein Hahn. Bloß Pferdemist, und den fegt Portiers Jüngste soeben aus dem Hausflur."

[15] Diesen Preis nennt Ursula von Kardorff in ihren Berliner Aufzeichnungen – Aus den Jahren 1942-1945 für den September 1945 (München: Biederstein, 1962; Taschenbuchausgabe dtv 1964, S. 274).

[16] www.luise-berlin.de/Kalender/.

[17] Heinrich Deiters (1887-1966) studierte Germanistik und Geschichte, war seit 1919 Gymnasiallehrer, erst in Berlin, dann in Höchst, trat 1920 in die SPD ein, wurde 1933 aus dem Schuldienst entlassen, brachte sich bis 1945 mit Privatunterricht über die Runden, schrieb für die Schublade Bücher (unter anderem eins über Sainte-Beuve), wurde sofort nach Kriegsende reaktiviert, blieb aber nur drei Monate lang Direktor der Paulsenschule und wechselte dann als Leiter der Abteilung Lehrerbildung in die neu eingesetzte Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung. 1946 trat er in die SED ein, wurde Professor für Pädagogik an der Humboldt-Universität, später Dekan, Vorsitzender der Berliner Sektion des Kulturbundes, Mitglied des Volkskongresses, des Volksrats und der Volkskammer, verfasste eine Reihe von Büchern zu reformpädagogischen, schulpolitischen und literaturwissenschaftlichen Fragen sowie zahllose Denkschriften, Pläne, Gesetzesentwürfe, Gutachten, Aufsätze und Reden. Auch noch als Funktionär der DDR setzte er sich dafür ein, die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Schulsystemen nicht völlig abreißen zu lassen. Über seine kurze Steglitzer Zeit schreibt er in seinen Erinnerungen: [Nach dem Waffenstillstand] "meldete ich mich zu einer Beschäftigung im Schuldienst zunächst im Rathaus von Berlin, wo ich an die Verwaltungen der Bezirke verwiesen wurde, dann im Rathaus von Steglitz, wo mir der von der Besatzungsmacht eingesetzte Stadtschulrat Wilhelm Heise die Leitung einer der höheren Schulen des Bezirks anbot. Ich wählte das Paulsen-Realgymnasium, das ich von meiner Wohnung aus [Helfferichstraße 78 in Dahlem] bequem zu Fuß erreichen konnte. Das Gebäude der Schule war stark beschädigt, aber doch benutzbar. In den letzten Tagen des Mai 1945 übernahm ich die Leitung der Schule, bestellte die bisherigen Mitglieder des Lehrerkollegiums, soweit sie erreichbar waren, zu einer Besprechung und teilte ihnen mit, dass alle bisherigen Beschäftigungsverhältnisse aufgehört hätten zu bestehen und die ehemaligen Mitglieder der Nationalsozialistischen Partei keine Aussicht hätten, im Schuldienst von neuem beschäftigt zu werden. Nach dieser Eröffnung sprangen fast alle Anwesenden auf und verließen das Zimmer … Der Unterricht wurde am 1. Juni eröffnet. Nach und nach füllten sich die Schulklassen mit den zurückkehrenden Schülern, und in unglaublich kurzer Zeit verlief das Leben der Schule wieder in den alten Formen … Es war alles in allem eine glückliche Zeit … Wir lebten während jener Sommermonate in einer traumhaft unwirklichen Welt. Steglitz war unzerstört geblieben, die Menschen bewegten sich auf den Straßen, die Gärten vor den Villen grünten und blühten sommerlich. Es gab anfangs keine Verkehrsmittel, wir waren von der Umgebung abgeschnitten, zunächst sogar von der engeren, später und noch lange von der weiteren … In den Läden konnten wir das Nötigste kaufen." (Heinrich Deiters: Bildung und Leben – Erinnerungen eines deutschen Pädagogen, Köln: Böhlau, 1989, S. 155, 159).

[18] Landesarchiv Berlin, A Rep 001-06, Nr.5666.

[19] Bewerbungsantrag vom 15.6.1945 im Landesarchiv Berlin, A Rep 001-06, Nr.5666.

 

 

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