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Aus "Deutsch und anders"

Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek, 1998

Seite 105-180 

© 1997, 1998 Rowohlt Verlag

 

 

Die Berichtigung

Über die Sprachreform im Zeichen der

 Politischen Korrektheit

Von Dieter E. Zimmer 

 

WAS HEUTE auch in Deutschland Political Correctness, PC, Politische Korrektheit, PK, heißt, ist nicht nur ein sprachliches Phänomen. Es ist ein Bündel politischer und weltanschaulicher Meinungen, eine Denkweise, eine Haltung, eine Stimmung, zuweilen geradezu ein Lebensstil. Es ist dabei aber auch, und zwar ganz zentral, eine Art zu sprechen, in Amerika zum Teil sogar der Ausfluß etlicher ausdrücklicher und sanktions-bewehrter Sprachregelungen. Die sprachlichen Veränderungen, die die PK bewirkt hat und in aller Welt weiter bewirkt, lassen sich jedoch nur auf dem Hintergrund der ganzen Denkweise verstehen (und kritisieren), der sie zu Diensten steht.

Sie ist nicht auf Amerika beschränkt, und sie ist nichts Marginales. Im Gegenteil, sie wirft einige der letzten Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens auf, denen sich niemand entziehen kann. Welche Haltung sollen in einem heterogenen – multikulturellen, multi-ethnischen, multirassischen, multisprachlichen, multisexualorientierten, multireligiösen – Gemeinwesen die einzelnen Gruppen zueinander einnehmen? Wie können und sollen sie ihr Zusammenleben organisieren? Welche Meinungen übereinander und welche Wörter füreinander dürfen geäußert werden und welche nicht?

Es sind Fragen, die sowieso nicht leicht zu erörtern wären, da für jeden einzelnen zuviel vom Ausgang dieser Erörterung abhängt. Wenn dazu die Geschichte der Beziehungen zwischen den betreffenden Gruppen eine der manifesten, unbestreitbaren Ausbeutung, Diffamierung, Unterdrückung oder gar Sklaverei war, erschweren die Gereiztheit auf Seiten der Nachkommen der Opfer und das schlechte Gewissen auf Seiten der Nachkommen der Täter jede Diskussion noch mehr. Sachlich und nüchtern jedenfalls wird es dabei nicht zugehen können. Daher die schrillen Töne im Streit um die Politische Korrektheit. Sie wurde als ein schützender Verband über lauter wunde Punkte gelegt. Schon ein bloßes Wort kann ihn herunterreißen.

Das Zusammenspiel von gereizten Forderungen und schlechtem Gewissen hat an den amerikanischen Hochschulen und zum Teil auch in den Medien in den letzten fünfundzwanzig Jahren nach und nach ein Klima entstehen lassen, in dem es gefährlich ist, bestimmte Ideen und bestimmte Wörter laut zu sagen: Ideen und Wörter, von denen sich eine der Opfergruppen herabgesetzt fühlt oder fühlen könnte. Hochschul-lehrer wurden an den Pranger gestellt, am Reden gehindert, beleidigt und gedemütigt, hier und da auch physisch bedroht und tätlich angegriffen, mußten Lehrveranstaltungen absetzen, verloren Forschungsmittel oder ihre Stellung, weil sie eine tabuisierte Idee vertreten, ein tabuisiertes Wort gebraucht hatten. Professoren, Studenten, Journalisten und Fernsehkommentatoren wurden genötigt, sich wegen einer tabuisierten Idee, eines tabuisiertes Wortes, ja eines matten Witzes öffentlich zu entschuldigen, Buße zu leisten, zu widerrufen. („Habe meine Lektion gelernt“, lautete die Überschrift eines Artikels, in dem ein Student in Michigan sich gezwungenermaßen für ein Scherzgedicht über einen homosexuellen Sportler entschuldigte.) Die Unduldsamkeit scheut nicht die Lächerlichkeit. Es kann Folgen haben, auf dem Campus das falsche T-Shirt zu tragen. Da sich darauf ein Junge und ein Mädchen küßten, wurde ein Professor an einer der großen Westküstenuniversitäten von einigen Studentinnen wegen „sexueller Belästigung“ (sexual harassment) angezeigt und mußte ein Disziplinarverfahren über sich ergehen lassen. Hätten sich auf dem Hemd zwei Jungen oder zwei Mädchen geküßt, wäre ihm vermutlich eine Belobigung zuteil geworden.

„Tugenddiktatur“, „Denkverbote“, „Gedankenpolizei“ – das sind dramatische, zu dramatische Worte, denn zu einem totalitären Staat sind die Vereinigten Staaten bei allem nicht geworden. Jedenfalls aber hat in einigen die öffentliche Meinung bestimmenden Milieus vielfach ein unduldsames Eiferertum um sich gegriffen, das – zum Besten des großen ganzen, versteht sich – anderen das Leben schwer macht und ein Klima der Einschüchterung und Beklommenheit erzeugt. Ausgerechnet die politischen Erben des free speech movement bestehen darauf, daß der freien Rede Grenzen gezogen werden sollten.

Dreieinhalb Jahrhunderte nach Galilei sei eine neue antikritische Ideologie auf dem Vormarsch, die die Wissenschaft selbst bedrohe, schreibt Jonathan Rauch. In seinem Buch Kindly Inquisitors (1993) heißt es: „In Amerika… und anderswo wird das alte Prinzip der Inquisition wiederbelebt: daß Menschen, die falsche und schädliche Ansichten hegen, zum Wohle der Gesellschaft bestraft werden sollten. Wenn man sie schon nicht ins Gefängnis werfen kann, dann sollten sie immerhin ihrer Arbeitsstelle verlustig gehen, organisierten Beschimpfungs-kampagnen ausgesetzt, zu Entschuldigungen und zum Widerruf gezwungen werden. Und wenn der Staat die Bestrafung nicht übernehmen kann, sollten private Institutionen und Interessengruppen es tun, eine auf Gedanken Jagd machende Bürgerwehr.“

 

Der Begriff der Political Correctness selber ist eins der seltenen Beispiel dafür, daß der Sprache durchaus eine gewisse Macht eigen sein kann. Nicht so sehr darauf kommt es an, was für einen Namen eine Sache hat – aber ob sie überhaupt einen Namen hat, macht in der Tat einen Unterschied. Komplexe Sachverhalte zu einem Begriff zusammen-zufassen, erleichtert das Denken ungemein; prägnant benannte Begriffe machen diese Sachverhalte allgemein verhandelbar, und geschickt benannte Begriffe tragen bereits ein polemisches Moment in sich, das das Denken in eine bestimmte Richtung lenkt und ihm andere Wege abschneidet.

Ehe der Begriff der Political Correctness da war, gab es den Gesinnungsdruck einer radikalen politischen Bewegung, den er dann bezeichnen sollte, seit langem. Aber da er keinen zusammenfassenden Namen hatte, fehlte es ihm gewissermaßen an voller Realität – das Phänomen war allgegenwärtig und in Ermangelung eines Namens doch nicht benennbar. Die Plötzlichkeit, mit der er sich nach zwei fast gleichzeitigen Titelgeschichten der Magazine ‘Newsweek’ und ‘New York’ im Januar 1991 durchsetzte, zeigte, wie sehr er entbehrt worden war. Am Ende dürfte die bloße Existenz eines Namens einiges dazu beigetragen hat, die Auswüchse der PC zu überwinden.

Es war ein milde ironisches, kein gehässiges Wort, dem sein polemisches Potential zu Anfang nicht anzusehen war. Wer könnte sich schon durch das Attribut korrekt angegriffen fühlen? Mit dem Wort politically correct hatten sich in den sechziger Jahren junge Linke ironisch von der sturen Parteilinie mancher Funktionäre distanziert. Direkt oder indirekt ging es wohl zurück auf einige Mao-Sprüche aus dem Jahr 1963, zu finden in seinem Rotem Buch, etwa dem: „Sobald die richtigen [correct] Ideen… von den Massen beherrscht werden, werden sie zur materiellen Gewalt.“ Im Diskurs der deutschen Linken meinte Linientreue und dann bei den Neu-Linken richtiges Bewußtsein das gleiche. Der Satz You are not politically correct, I’m afraid aus einer amerikanischen politischen Diskussion jener Tage wäre mit Du hast eben nicht das richtige Bewußtsein, Genosse zutreffend übersetzt. Der früheste Beleg für die Verwendung in einem positiven Sinn stammt aus dem Jahre 1970. Wörtlich übersetzt: „Jemand kann nicht zugleich politisch korrekt und Chauvinist sein.“

So lebte der Begriff, bald positiv, bald ironisierend kritisch gebraucht, als linker Insider-Kommentar zum relativen Wert der Gesinnungstreue viele Jahre still vor sich hin – bis John Taylors Titelgeschichte im Stadtmagazin New York ihn der Linken entwand und plötzlich die ganze Nation in Balkenlettern vor die Frage stellte: Are You Politically Correct? Also: Hast du auch das richtige Bewußtsein? Um dann im Innern zu beschreiben, welche vielfältigen Drangsalierungen an den Hochschulen auf Leute warten, die es am richtigen Bewußtsein, an der political correctness fehlen lassen.

Daß er so rasch um sich griff, lag jedoch nicht nur daran, daß nun ein amorpher und sozusagen schweifender Radikalismus einen Namen hatte. Es lag wahrscheinlich auch daran, daß dieser sich als ein ungewollt listiger Name erwies. Die, die nun die politisch Korrekten hießen, hatten sich gern als Schwimmer gegen einen übermächtigen Strom gesehen, als Partisanen. Der Name jetzt machte darauf aufmerksam, daß der Strom zumindest im Hochschulmilieu längst in ihre Richtung floß, daß ihr Partisanentum hier zu einer neuen Orthodoxie geworden war. Er traf sie sozusagen in ihrer Partisanenehre. Die Gegenseite hatte plötzlich die Genugtuung, zur Abwechslung einmal viele PC-ler in der Defensive zu sehen, bemüht zu erklären, daß sie nur das politisch Notwendige, Anständige und Richtige täten, aber so politisch korrekt gar nicht wären.

Später, als das Wort zu einem giftigen Kampfbegriff geworden war, den sich die Parteien hin und her reichten und der dann auch in andere Länder mit anderen sozialen Gemengelagen exportiert wurde, verschwamm seine Bedeutung, fiel alles nur mögliche unter das Rubrum pc, auch sein Gegenteil. Zunächst aber war die Bedeutung völlig klar. Politically correct: im Kern waren das die Forderungen einiger militanter Minderheiten, die um ein Ende ihrer Diskriminierung kämpften. Die eine Forderung war die nach der quotierten Berücksichtigung bei der Stellen- und Mittelvergabe (affirmative action, konkrete antidiskriminatorische Maßnahmen). Die andere war die nach einer Revision der Lehrpläne. Diese führte zu einer an vielen Stellen aufflammenden, erbitterten „Kanon“-Diskussion: Welche Lektüre soll Studienanfängern vorgeschrieben werden? Es war eine Diskussion, die von zwei merkwürdigen Voraussetzungen ausging: daß Studenten höchstens das vorgeschriebene Dutzend Bücher lesen und sonst keine; und daß sie sich die Gedankenwelt dieser verordneten Bücher umstandslos zu eigen machen. So gesehen, nahm sich der „Kanon“, die Pflichtlektüreliste der Anfangssemester, wirklich als ein Instrument aus, die Köpfe ein für allemal mit diesem oder jenem Inhalt zu füllen.

Es ist eine lockere Koalition von Minderheiten, die sich da zusammen-gefunden hat. Gemein haben sie nur, daß sie sich in erster Linie als Opfer verstehen: Schwarze, Indianer, Hispanics, männliche und weibliche Homosexuelle – und Frauen, auch wenn diese nicht gerade Minderheitenstatus beanspruchen können. Sie alle wurden einmal oder werden immer noch diffamiert, diskriminiert, stigmatisiert, marginalisiert, deklassiert, degradiert, ausgegrenzt, oppressed (unterdrückt) – kurz, sie wurden und werden victimized (‘viktimisiert’, zu Opfern gemacht).

Daß es sich um eine Koalition weniger ausgewählter Opfergruppen handelt, wird klar, wenn man sich vor Augen hält, daß andere, die sich – subjektiv mit Recht – ebenfalls über Diskriminierung und Zurücksetzung beschweren könnten, entschieden nicht dazugehören: etwa Juden, Pädophile, Raucher, Psoriatiker oder User von OS/2. (Der konservative Hochschulkritiker Roger Kimball merkte einmal bissig an: „Viel mehr Menschen sterben jedes Jahr an Brustkrebs, Herzinfarkt und anderen Krankheiten als an Aids. Doch nur Aids genießt den Vorzugsstatus, politisch korrekt zu sein… vor allem wegen des Aktivismus, den es unter Homosexuellen ausgelöst hat.“) Zwei Gruppen, die immer wieder um Aufnahme nachgesucht haben, blieben ausgeschlossen: in Amerika die Creationisten, in Deutschland die Scientologen, auch wenn diese sich in ihren Veröffentlichungen gern als eine Minderheit darstellen, die der gleichen Verfolgung ausgesetzt sei wie die Juden im Nazistaat.

Diese Koalition hat sich einen Kompositfeind erschaffen, der sie eint: den weißen (eurozentrischen) heterosexuellen (phallokratischen, patriarchalischen) Mann, auch und besonders den toten, als Verkörperung einer als unterdrückend empfundenen europäischen Kulturhegemonie. Er ist der Täter, der sie alle zu Opfern gemacht hat und dessen Macht nun gebrochen werden soll. Das stand hinter den Sprechchören an der Stanford-Universität: „Hey hey, ho ho, Western culture’s got to go“ – „Heh heh, meck meck, westliche Kultur muß weg“. Das Frappierende daran war vor allem, daß diese Rufe an einer Elitestätte westlicher Kultur ertönten. Goethe, Darwin, Tolstoj, Picasso – zweifellos waren sie weiße Europäer und männlichen Geschlechts, vielleicht waren sie sogar „Phallokraten“; aber daß ihre Leistungen damit ausreichend oder auch nur in irgendeiner relevanten Weise charakterisiert wären, läßt sich wohl kaum behaupten. Die political correctness ist das Klima, in dem solche einerseits völlig richtigen, andererseits völlig leeren Anschuldigungen gedeihen.

Politisch korrektes Denken beruht auf einer Verabsolutierung, sozusagen einer Fundamentalisierung der Gruppenzugehörigkeit. Die Gruppe, der er zugehört, ist es, die den Menschen definieren soll – und wenn sie ihn nicht geradezu erschöpfend definiert, stellt sie doch das einzig Interessante an ihm dar. Bei allem, was einer sagt, schreibt, tut, zuallererst und vielleicht als einziges zu fragen, ob er einer der anerkannten Opfergruppen oder der einen Tätergruppe angehört – das macht den Kern politisch korrekten Denkens aus.

Die Gruppenzugehörigkeit ist es, die dem Menschen im politisch korrekten Denken seine Identität verschafft. Diese vielbeschworene, vielgesuchte Identität ist in seinem Verständnis gar nicht das ganz persönliche Wesen, in dem sich der einzelne von allen anderen unterscheidet. Sie ist etwas grobschlächtig Kollektives – das ausdrückliche und vernehmbare Bekenntnis zur eigenen Gruppe. Der Homosexuelle, der von sich sagt, er habe seine Identität gefunden, will damit nicht sagen, daß er irgendwelche ganz persönlichen Eigenheiten in sich entdeckt habe. Er will vielmehr sagen, daß er beschlossen habe, sich offen zu seiner Homosexualität zu bekennen. Ein weißer heterosexueller Mann machte sich lächerlich, wenn er von sich sagte, er habe nun endlich seine Identität gefunden – nicht weil nicht auch er eine persönliche und eine kollektive Identität hätte, sondern weil eine kollektive Identität wie die seine nicht von der Art ist, von der irgendein Aufhebens gemacht werden sollte – für die Politische Korrektheit hat sie geradezu etwas Ehrenrühriges. Man ist genug gestraft damit, daß man sie hat, man bekennt sich einfach nicht zu ihr. In einem Memorandum an die Mitglieder eines Diversity Education Committee schrieb eine Studentin in Pennsylvania von ihrer „tiefen Achtung für das Individuum und [ihrem] Wunsch, die Freiheiten aller Mitglieder der Gesellschaft zu schützen“. Sie bekam das Papier zurück. Das Wort ‘Individuum’ war unterstrichen. Der Kommentar lautete: „Das ist heute ein zu meidendes Wort, welches vielen als rassistisch gilt. Argumente, die das Individuum über die Gruppe stellen, privilegieren letztlich die ‘Individuen’, die der größten und herrschenden Gruppe angehören.“

Diese Verabsolutierung der Gruppenzugehörigkeit macht die PC mißtrauisch gegen jeden Universalismus. Der Anspruch, es gebe universale, gruppenübergreifende menschliche Eigenschaften und Werte, könnte ja selber nur ein weiterer Trick des weißen heterosexuellen Mannes sein, seine Kulturhegemonie durchzusetzen. Wenn er etwa behauptet, die Regeln der Logik gälten für die gesamte Menschheit, ja sogar unabhängig von der Menschheit: Erklärt er damit nicht nur seine eigene Denkweise für universal? Will er sie damit anderen Gruppen aufnötigen? Diskriminiert er auf diese Weise nicht jene, die nicht logisch denken und vielleicht auch gar nicht logisch denken wollen? Dieser inhärente Antiuniversalismus bringt eine Denkströmung, die im Ansatz auf ein fröhlich pluralistisches, multikulturelles Miteinander der verschiedenen Gruppen aus zu sein schien, in die ständige Gefahr, in einen feindseligen Gruppenseparatismus umzuschlagen.

Ein offensichtliches Beispiel ist die Sprachenpolitik. Es lag von jeher auf der Hand, daß es für einen Staat von Vorteil ist, wenn alle seine Bürger durch eine gemeinsame Sprache verbunden sind. Das galt schon für den autoritären Staat, in dem von oben nach unten befohlen wurde. Unten sollten die Befehle schließlich überall verstanden werden. Um so mehr ist ein demokratisches Gemeinwesen darauf angewiesen, daß sich jeder jedem verständlich machen kann. Dort, wo in einem Staat die einzelnen Sprachen ihre eigenen geschlossenen Verbreitungsgebiete haben wie in Belgien oder Kanada oder der Schweiz oder in Spanien, sind die Konflikte groß genug. Wo die Sprecher der einzelnen Sprachen durchmischt zusammen wohnen, geht es ohne gemeinsame Sprache gar nicht mehr. Die Politische Korrektheit jedoch nimmt von vornherein und fast automatisch für die Partikularsprachen und gegen die verbindende Gemeinsprache Partei. Sie ist ja die dominante Sprache der Herrschenden, soll den Anderssprachigen oktroyiert werden und diese ihrer eigenen Sprache berauben, wenn sie es nicht schon getan hat. Der Hispanic im vorwiegend englischsprachigen Nordamerika habe ein Recht darauf, in seinem gesamten Alltag Spanisch zu sprechen. Er solle stolz auf sein Spanisch sein und jeden Versuch zurückweisen, ihm das Englisch der Herrschenden aufzuzwingen. Diese Parteinahme für die „kleinen“, unterdrückten, stigmatisierten Nebensprachen eines Landes hat tatsächlich etwas ungemein Sympathisches und Verführerisches. Es ist schade um jede Sprache, die irgendwo in Bedrängnis gerät und vielleicht sogar untergeht, wie es schade um jede aussterbende Art in der Natur ist. Und die eigene Sprache ist ein so intimer, lebenswichtiger Besitz, daß der, der auch nur teilweise auf sie verzichten soll, einen der größten denkbaren Verluste erleidet. Im Nachteil gegenüber den Sprechern der dominanten Sprache ist er sowieso, und der Nachteil verstärkt meist die anderen Nachteile, die mit dem Minderheitenstatus verbunden sind. Andererseits aber ist auch dies wahr: daß der Staat, der in lauter isolierte Sprachen zerfällt, an Sprachlosigkeit zugrunde gehen muß. Natürlich wird er deswegen nicht wirklich zugrunde gehen; es werden sich nur die getreuen Sprecher der Nebensprachen selber in ihren jeweiligen Gettos verbarrikadieren und von seinen wichtigen Angelegenheiten ausschließen.

Wer Kritik an der Politcal Correctness anmeldet, dem antwortet aus deren Lager meist eine Gegenfrage: „Was ist denn schlimm daran, wenn den Rassisten und Sexisten endlich Einhalt geboten wird? Sie gehören wohl selber zu diesem Gesindel?“ Wenn zur Abwechslung einmal die ewigen Unterdrücker (oppres­sors) ein wenig drangsaliert werden – um so besser! Wie es ein Flugblatt in den frühen siebziger Jahren formulierte: „Was sind ein paar Prügel gegen den Genozid, den dieser Mann vorbereitet hat?“ Es galt einem in seinem Fach hoch angesehenen Psychologieprofessor, der keineswegs irgendeinen Genozid vorbereitet hatte, dessen Forschungsergebnisse jedoch, beim Weitersagen von der Entrüstung bis zur Unkenntlichkeit vergröbert, von einer der Opfergruppen als irgendwie kränkend empfunden wurden.

Genau dies macht das selbst das gutwilligste Inquisitionsklima so gefährlich: daß es unweigerlich mit der Wahrheit kurzen Prozeß macht. Die Freiheit, seine Meinung ohne Prügelandrohung zu sagen, ist schließlich kein widerrufbares Zugeständnis der Gesellschaft an die selbstsüchtigen Ausdruckswünsche einzelner Individuen. Sie ist der Nährboden, aus dem die liberale (das heißt freiheitlich verfaßte) säkulare Gesellschaft ihre Kräfte bezieht.

Dies ist keine Sonntagsredenfloskel, sondern eine Tatsache, wie Jonathan Rauch gezeigt hat. Ein Gemeinwesen hätte viele Möglichkeiten, darüber zu entscheiden, was als wahr gelten soll, und alle sind irgendwo und irgendwann ausprobiert worden. Die Wahrheit könnte einigen wenigen auserwählten Individuen von einem überirdischen Wesen offenbart worden sein, und die Gesellschaft hält diese Offenbarungen dann für letzte Wahrheiten, die niemand in Frage stellen darf. Es könnte einigen wenigen Weisen überlassen werden, die Wahrheit durch scharfes und tiefes Nachdenken zu finden; und die anderen übernehmen sie. Über die Wahrheit könnte abgestimmt werden: Wahr ist dann, was die Mehrheit für wahr hält. Über die Wahrheit könnte auch das Los entscheiden. Alle diese Methoden heben den Konflikt zwischen vielen subjektiven Wahrheiten durch einen Machtspruch auf. Sie schaffen Ruhe im Land. Sie sind nur nicht produktiv. Seit dreihundert Jahren gehen einige Kulturen einen anderen Weg, den die Wissenschaft ihnen vormacht.

Die Wissenschaft ist nicht, wofür viele sie immer noch halten: eine Ansammlung von Theorien, die sich ein paar Spezialisten nach den der Allgemeinheit verschlossenen Regeln ihrer Kunst ausgedacht haben. Schon gar nicht ist sie das, was ein paar auserwählte Autoritäten in kanonischen Texten festgehalten haben. Die Wissenschaft ist überhaupt kein bestimmter Wissensbestand. Sie ist ein Prozeß der Erkenntnisgewinnung, und zwar ein offener Prozeß, der keinem bestimmten Ziel zustrebt und an keinem Ende ankommt. Dieser Prozeß wird von einigen einfachen Regeln gesteuert, die keine Ausnahme zulassen. Sie lauten: Jede Idee ist willkommen. Jede Idee muß sich jederzeit der Kritik stellen. Jede Idee gilt nur so lange, bis eine überzeugendere Idee sie überwunden (oder absorbiert) hat. Also gibt es in der Wissenschaft keine absoluten Wahrheiten: Alles, was für wahr gehalten werden will, muß auf den Tisch und stellt sich einer allgemeinen Debatte. Also gibt es auch keine letzten Autoritäten: Kein Papst, kein Seher, kein Philosophenkönig, kein Diktator, kein Parlament, auch kein Nobelpreisträger hat in dieser immerwährenden Debatte je das letzte Wort.

Die Kritik, der sich jede Idee stellen muß, hat so rational zu sein wie menschenmöglich. Sie besteht, kurz gesagt, in einer Bemühung um Gegengründe, also um das, was Karl Popper Falsifizierung genannt hat: um eine systematische Suche nach Fehlern im zugrunde gelegten Datenmaterial und in den daraus gezogenen Schlüssen. Als vorläufig richtig wird akzeptiert, was dieser sytematischen Falsifizierungsanstrengung widerstanden hat. Da jeder Wissenschaftler mit ihr zu rechnen hat, tut er im eigenen Interesse gut daran, schon selber nicht nur nach allem zu suchen, was für seine Idee spricht, sondern ebenso nach allem, was gegen sie spricht. Tut er es nicht selber, so werden es andere tun. Was alle Wissenschaften über die Verschiedenheit ihrer Gegenstände und Untersuchungsverfahren hinweg eint, ist diese universale Methode der Bewahrheitung.

Das genaue Gegenteil der wissenschaftlichen Haltung ist jeder Fundamentalismus – nicht weil Fundamentalisten eine Wahrheit haben, an die sie fest glauben (die können auch Wissenschaftler haben) oder weil es eine irrationale Wahrheit ist (sie ist gelegentlich durchaus rational), sondern weil es eine letzte und absolute Wahrheit ist, die Gegengründe nicht nur selber nicht sucht, sondern auch dann nicht zur Kenntnis nimmt, wenn andere sie geltend machen. Der Fundamentalismus ist keine bestimmte religiöse oder weltanschauliche Glaubensdenomination. Er ist eine Geisteshaltung, vielleicht eine Charaktereigenschaft: lauter Antworten zu wissen und nie Fragen. Fundamentalisten sind im doppelten Sinn unbeirrbar: „nicht bereit, die Möglichkeit ins Auge zu fassen, daß sie im Irrtum sein könnten“ (Rauch). Der Stil der Wissenschaft dagegen ist unbegrenzte Skepsis: Alles mag sich als falsch erweisen.

Dieser Weg hat nichts an sich, was prinzipiell für ihn spräche, außer vielleicht, daß er der Verschiedenheit menschlicher Ideen angemessen ist. Seine Legitimation ist eine rein pragmatische: daß er sich als beispiellos produktiv erwiesen hat, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen hat er die Erkenntnis wie kein anderer vorangetrieben, und daß die auf diesem Weg gewonnenen Erkenntnisse nicht ganz falsch gewesen sein können, zeigt sich daran, wie wirksam und schnell sie die gesamten menschlichen Lebensumstände verändert haben und weiter verändern. Zum anderen hat er Konflikte entschärft: Anders als die Anhänger verschiedener Religionen in ihren Glaubenskriegen, brauchen sich die Anhänger verschiedener Theorien nicht die Köpfe blutig zu schlagen. Statt dessen führen sie eine unausgesetzte Debatte. Alle Argumente erhalten in dieser Debatte eine Chance, auch die sonderbaren (die vielleicht einmal nicht mehr sonderbar erscheinen), sogar die tatsächlich oder scheinbar abstrusen (denn niemand kann schon vorher entscheiden, ob ein Argument abstrus ist). Der Fortgang der Erkenntnisgewinnung lebt von der Verschiedenheit der Ansichten, die in den Prozeß eingespeist werden, so wie die Evolution einer Spezies auf ihrer genetischen Vielfalt aufbaut. Wo die Verschiedenheit beschnitten wird, wird der ganze Prozeß gestört. Die Wissenschaft mit ihren scheinbar laxen, scheinbar alles zulassenden Rahmenrichtlinien hat das Wunder bewirkt, das störende Faktum menschlicher Meinungsverschiedenheiten produktiv zu machen. Daß alle Argumente ohne Gefahr für Kopf und Kragen vorgebracht werden können, ist ihr Lebenselixier.

Simpler gesagt: Argumente verprügelt man nicht, man schreit sie auch nicht nieder oder belegt sie mit anderen Strafen. Argumente werden ausschließlich kritisiert – und „kritisiert“ heißt: nicht lautstark verurteilt, sondern rational gewogen. Damit treten sie in Wettbewerb miteinander, und hoffentlich siegt das besser begründete. Dafür, daß es tatsächlich siegt, gibt es keine Garantie. Für das Verfahren spricht nur, daß dort, wo der freie Wettbewerb der Argumente behindert wird, die Aussichten, daß jemals irgendein richtiges Argument übrigbleibt, noch viel geringer sind.

Insofern stellt jede Nötigung, auch die von moralischem Pathos getragene, die Geschäftsgrundlage der Wissenschaft in Frage. Und darum ist die Political Correctness in Amerika nicht nur bei Rassisten, Sexisten und anderen Reaktionären auf Widerspruch gestoßen. Zu ihrem eigenen Erstaunen sahen sich die zu erwartenden Konservativen mit vielen Liberalen und (von jeher universalistischen) Linken im Widerspruch zumindest gegen ihre Auswüchse geeint. Denn die radikale Aufwertung des Gruppendenkens löst nicht nur gesellschaftliche Probleme, sie schafft auch welche.

Erstens: Wer die Diskriminierung einer Opfergruppe beheben will, muß ihren (bisher verkannten) Wert betonen. Wer aber den Wert einer Gruppe betont, begibt sich in jenes riskante Gefilde, wo der Anspruch auf ihre Gleichberechtiung leicht in Verklärung umschlägt. Das ist dann nicht nur eine unrealistische Haltung, die notwendig zu Enttäuschungen führt, denn der Opferstatus hat noch keine Gruppe je von den üblichen menschlichen Schwächen befreit. Die Verklärung irgendeiner Gruppe führt vor allem nicht dazu, daß die verschiedenen Gruppen besser miteinander auskommen. Sie spaltet. Und die gespaltenen Sympathien – einerseits für die an vielen Fronten fortschreitende Reethnisierung der Welt, andererseits für die Überwindung ethnischer und anderer Barrieren – führen in vielen konkreten Konfliktlagen zur Lähmung.

Zweitens: Auf der einen Seite betont die Political Correctness die Verschiedenheit der Menschen und Kulturen. Die diversen einzelnen Unterschiede hat sie zu Der Differenz aufgewertet. The Difference: das ist ihr geradezu eine mythische Qualität. In einem der vieldiskutierten Grundtexte der PC, der Eröffnungsrede der Literaturwissenschaftlerin Catharine R. Stimpson zur Jahrestagung 1990 der Modern Language Association, heißt es gegen Ende dunkel, aber lyrisch: „Wir hatten die Freiheit, mit Großmut und Tapferkeit die Unterschiede zwischen Texten und zwischen unseresgleichen wahrzunehmen. Wir merzten die schädigenden Unterschiede aus. Wir buchstabierten die Unterschiede, die uns zu erneuern versprachen.“ Auf der anderen Seite aber lautet das egalitäre Grunddogma der Politischen Korrektheit, daß alle Menschen, alle Menschengruppen im Grunde gleich seien – gleich nicht nur im Sinne der Chancengleichheit, sondern durchaus auch in ihren ihnen von der Natur verliehenen Anlagen.

Die inquisitorischen Umgangsformen der Political Correctness wurden in den frühen siebziger Jahren erprobt und eingeübt, als ein paar Professoren in Amerika und England die alte Theorie, daß die bestehenden Unterschiede in der meßbaren Intelligenz und in anderen Fähigkeiten zu einem erheblichen Teil aus genetischen Unterschieden zu erklären seien, mit besserem Datenmaterial untermauerten. Unterschiede, ja! Aber um genetische Unterschiede durfte es sich auf keinen Fall handeln. Obwohl die ketzerischen Ideen von damals heute in Fachkreisen kaum noch angezweifelt werden, ist für die Political Correctness jegliche Verhaltensgenetik tabu geblieben. Wenn Unterschiede zwischen den Menschen bestehen, dann nur, weil verschiedene Umwelten sie in verschiedene Richtungen gedrängt haben; und weil die einen die anderen daran gehindert haben, alle ihre Fähigkeiten voll zu entwickeln. Bestehende Ungleichheiten wären also nur ein gesellschaftlich produzierter Schein. Noch einmal Catharine Stimpson, nicht über Unterschiede zwischen Individuen, sondern zwischen Gruppen: „Die üppig produktive Werkstatt der Geschichte hat die Hohlformen der Gruppenzugehörigkeit ausgestanzt und aufgestapelt: Alter, Klasse, Ethnizität, Institution, Geschlecht, Nation, Stamm, Rasse, Rang, Religion, Sexualorientierung. Aus gutem Grund fragen viele unserer zentralen Forschungsanstrengungen heute, was aus der Kultur wird, wenn solche Differenzierung für einige wenige Macht und für viele Unterwerfung bedeutet.“

Dies gibt sich als die bare Selbstverständlichkeit, die wissend umraunt werden kann und keiner weiteren Begründung bedarf, ist jedoch tatsächlich eine Hypothese, die beim Wort zu nehmen und dann empirisch nachzuprüfen wäre – und im Zuge dieser Nachprüfung hätte sie sich konkurrierenden Hypothesen zu stellen. Es könnte sein, daß sie bestätigt wird: daß Gruppenunterschiede ausschließlich von der Geschichte geschaffen werden. Es könnte auch sein, daß sie sich als falsch erweist: daß einige der aufgezählten Unterschiede biologischer Art sind und keine Produkte der Geschichte. Es könnte schließlich sein, daß bei jedem der aufgezählten Unterschiede Geschichte und Natur auf eine andere Weise zusammenwirken; dann bekämen Wissenschaftler vieler Disziplinen Arbeit. Der Punkt ist, daß man es eben nicht vorher weiß und darum auch nicht das eine oder andere der möglichen Ergebnisse von vornherein als das einzig richtige hinstellen kann. Wer es dennoch tut, verläßt den Boden der Wissenschaft. Er kann niemals zu einem zutreffenden Modell der objektiven Wirklichkeit kommen, will es wohl auch gar nicht. Political Correctness hat auch in diesem Fall der Wahrheit kurzen Prozeß gemacht, nicht mit den Fäusten, sondern mit Lyrik.

Und weil er stichhaltige Antworten zur Genese von Unterschieden nicht sucht, ist sich zum Beispiel der Feminismus nicht über die Grundfrage klar geworden, ob Frauen im Grunde genau wie Männer sind, aber von den Männern gehindert wurden, sich voll zu entfalten; oder ob sie „von Natur aus“ glücklicherweise gerade ganz anders als Männer sind und diese Andersartigkeit kultivieren sollten. Klar, daß er sich in Widersprüche verwickelt.

Drittens: Das politisch korrekte Denken ist in seinem guten Kern antirassistisch, antisexistisch, antieurozentrisch. Es hat den Feind der Opfergruppen identifiziert, den weißen (europiden) heterosexuellen Mann, und es ist von vornherein all jenen Kulturen und Subkulturen gewogen, die nicht weiß, nicht europäisch, nicht heterosexuell, nicht männlich sind. Ihre Sympathie stößt dabei jedoch immer wieder auf Kulturen, die selber durchaus nicht antirassistisch, antiethnozentrisch, antisexistisch, antihomophobisch sind. Ihre Prämisse, daß alle Kulturen gleich gut seien und die nichtweißen noch besser, trifft auf fundamentalistische Kulturen, die ganz entschieden nicht der Meinung sind, alle Kulturen seien gleich gut, für die es vielmehr nur eine einzige gute gibt, die eigene.

Was also, wenn es zu den Besonderheiten der geförderten fremden Kultur gehört, Ehebrecherinnen zu steinigen? Kleinen Mädchen die Klitoris herauszuschneiden? Homosexualität als Verbrechen zu verfolgen? Andersgläubige auszupeitschen? Offen Antisemitismus oder anderen Rassenhaß zu proklamieren? Ist das fremdes Kulturgut, das Respekt verdient? Oder muß sich die allumfassende Gutwilligkeit der PC dann doch selber Grenzen setzen? Muß sie sich gar selber als ein ziemlich spezielles Produkt eben der verhaßten eurozentrischen Kultur erkennen, für das sie außerhalb dieser auf wenig Verständnis zählen kann? Und der Gipfel der Zumutung: ist ihr liberalistisches Geltenlassen von allem, was da kreucht und fleucht, jedenfalls solange es nicht-weiß und nicht-westlich ist, etwa auch wieder nur eine Form von westlichem Kulturimperialismus, und eine ganz besonders raffinierte?

Die Nachfolgerin der ‘Black  Muslim’-Bewegung, die von Louis Farrakhan angeführte ‘Nation of Islam’, ist notorisch für ihren unverhohlenen Antisemitismus. Wenn ihre Agitatoren Stimmung gegen die Jewniversities oder Jew York machen – ist auch das noch politisch korrekt, da es ja irgendwie im Rahmen der Emanzipationskämpfe der Schwarzen geschieht? Als Farrakhan im Oktober 1995 zum ‘Million Men March’ nach Washington aufrief (etwa eine halbe Million kam), waren von der Kundgebung Frauen ausgeschlossen. Hätte eine weiße Organisation dergleichen getan, hätte sie sofort die gesamte Political Correctness auf dem Hals gehabt – wahrscheinlich hätte sie den Sturm nicht überlebt. Dürfen also die einstigen Opfer von weißem Rassismus heute selber Rassisten sein? Ja, genau das dürfen sie, das sollen sie sogar, ist dann oft die Antwort, denn „Rassismus gibt es immer nur gegenüber Untergeordneten“ (Paula Rothenberg). So wird etwas sprachlich wegdefiniert: Was eine Opfergruppe selber tut, kann niemals Rassismus sein. Es ist nicht bekannt, wieviel Anklang diese Logik gefunden hat. Vermutlich führt sie zu jener schizoiden Reaktion, die jedes Inquisitionsklima heranzüchtet: Öffentlich nickt man vage zustimmend mit dem Kopf; innerlich hält man sie für baren Nonsens.

Viertens: Diskriminieren bedeutete ursprünglich „unterscheiden“. In der Wissenschaftssprache bedeutet es das immer noch. Wer ‘Diskriminationsvermögen’ besitzt, besitzt die Fähigkeit, Unterschiede zu erkennen. Die Grundüberzeugung der Political Correctness ist egalitär, antielitär: Alle Kulturen, alle Religionen, alle Gruppen, alle Personen sind zwar verschieden, aber keine ist irgendwie schlechter als die andere, ausgenommen die weißen heterosexuellen Männer, die schlechter sind als alle anderen. Die Differenzen dürfen, ja sollen konstatiert werden; aber mit ihrer Konstatierung darf nie ein Werturteil verbunden sein. Korrekt?

Einige Lebensbereiche beruhen nun aber auf dem Vermögen, Unterschiede nicht nur zu konstatieren, sondern auch zu bewerten. Am offensichtlichsten ist es im Sport. Interessant für die Menschen ist er nicht als egalitär-demokratische Leibesertüchtigung für alle; gemeinsame Radtouren einer Freundesschar werden gewöhnlich nicht im Fernsehen übertragen. Interessant wird Sport erst als ein Wettbewerb, in dem sich herausstellt, ob die einen besser sind als die anderen: ob sie schneller laufen, höher springen, härter schlagen, öfter eine Lederkugel in einen Holzrahmen schießen. Zu diesem Wettbewerb treten nicht nur einzelne, sondern Gruppen (Clubs, Ortschaften, ganze Länder) an, und ganze Länder und Kontinente geraten in einen allgemein gebilligten Freudentaumel, wenn ihre Mannschaft gezeigt hat, daß sie die bessere ist. Es ist geradezu der Sinn des Spiels, die Besseren von den Schlechteren zu unterscheiden. Zu den Schlechteren zu gehören, ist indessen kränkend. Verlierer sind, wenn man so will, stigmatisiert: eben als die Schlechteren. Sie können sich damit trösten, daß sie deswegen noch lange nicht die schlechteren Menschen sind. Aber auf diesem ihrem Parcours sind sie die Schlechteren, und sie wollten sich messen und haben diese Feststellung damit sogar selber herausgefordert. Da beißt die Maus keinen Faden ab.

Während sich das politisch korrekte Denken mit der Tatsache körperlicher Qualitätsunterschiede offenbar abgefunden hat, sind sie ihm in den geistigeren Zonen unerträglich. Auch die Künste und Wissenschaften jedoch beruhen darauf, daß nicht alles gleich gut ist. Eben weil nicht alle gleich gut singen, tanzen, zeichnen, spielen, schreiben können, gibt es Kunst. Kunst: das ist die Einsicht der meisten, daß sie es selber nicht so gut könnten. Auch diese Einsicht kann etwas Kränkendes haben. Da die Psyche der meisten Menschen jedoch nicht nur aus Neid besteht, überwiegt in der Regel ihre Freude an Dingen, die sie selber nicht zuwege brächten, eben weil sie sie selber nicht zuwege brächten. Je schwerer eine Leistung aussieht, desto größer ist auch ihr Reiz für die anderen, die sie nicht erbringen können. Das heißt, Kunst ist ihrem Wesen nach elitär. Sie macht Qualitätsunterschiede, und sie prämiiert die Besseren.

Dieser ihr Aspekt ist der Politischen Korrektheit nicht geheuer. Sie geht ihm aus dem Weg, indem sie die (sowieso unbequem schwierige) Qualitätsfrage wegdrückt. An der sogenannten Kunst interessiert sie dafür, daß es sich um Gruppenäußerungen handelt. In den „Kanon“ sollen nicht die besten und noch nicht einmal viele gleich gute Bücher aufgenommen werden; die ganze Frage „besser“ oder „schlechter“ erscheint als abwegig und irgendwie unanständig und eine neuerliche Zumutung des weißen heterosexuellen Mannes. Der korrekte „Kanon“ wäre der, in dem die Opfergruppen vertreten sind. Einerseits meldet die PC damit eine völlig richtige Forderung an, die auch konsensfähig wäre: daß die einzelnen Kulturen einer multikulturellen Gesellschaft möglichst viel übereinander erfahren sollten – und daß die vorhandenen Kanons, sofern sie eine blinde Voreingenommenheit zugunsten der westlichen Kultur atmen, berichtigt werden müssen. Aber indem sie die Qualitätsfrage dabei ausblendet, degradiert sie die Literatur zu einer bloßen Wortmeldung: Hier sind wir, uns gibt es auch noch! Wenn aber Literatur und die anderen Künste nur noch als kollektive Wortmeldungen wahrgenommen werden, sind sie überhaupt nicht mehr nötig. Es gibt viel effektivere Methoden, die Aufmerksamkeit auf eine Gruppe zu lenken; den ganzen Umstand der Kunst braucht es dazu nicht.

Das verabsolutierte Gruppendenken, das die Gruppe, die Interessen der Gruppen zum Maßstab aller Dinge macht, verkürzt die Literatur auch dort, wo Qualitätsunterschiede anerkannt werden. Afroamerikaner sollen auf den Leselisten Bücher von Afroamerikanern vorfinden, Latinos von Latinos, Frauen von Frauen, Schwule von Schwulen, Lesben von Lesben. Es werde, heißt es, ihr Selbstgefühl heben. Daß es das tut, ist möglich. Wenn sie dabei aber das Gefühl beschleichen sollte, daß sie auf der Liste nur stehen, weil ihre Gruppe nicht übergangen werden sollte, nicht weil das Buch aus ihrer Gruppe ebenso gut ist, dürfte es ihrem Selbstgefühl eher schaden. Wieder liegt das Mißverständnis zugrunde, daß Literatur nichts anderes wäre als ein Container von Meinungen, die bei der Lektüre umstandslos in die Köpfe eingefüllt werden. Alle Literatur ist aber in Wahrheit eine Einladung an den selber abwägenden und urteilenden – den „kritischen“ – Leser; jede richtige Lektüre schult ihn. Wer dafür sorgen will, daß nur korrekte Bücher gelesen werden, hat eine sehr geringe Meinung vom menschlichen Verstand; zumindest an Universitäten ist sie kaum angebracht. Kaum ein anderes Buch dürfte seine Leser so stark gegen allen Faschismus immunisieren wie Hitlers Mein Kampf. Literatur ist auch nicht primär Psychotherapie, ein Mittel zur Erzeugung von Selbstgefühl. Literatur ist eine Begegnung mit fremden Vorstellungswelten; Selbstgefühl erzeugt sie nur dort, wo sie dazu anstiftet, sich selbständig, eben kritisch, mit diesen fremden Welten auseinanderzusetzen. Noch mehr verkürzt wird sie, wo an ihr nur noch interessiert, ob die korrekten Gruppen die momentan korrekten politischen Inhalte vortragen. Diesen Zweck erfüllen die Flugblätter der entsprechenden Organisationen allemal effektiver als Romane, Dramen oder Gedichte. Genau darum überleben sie den Moment auch nicht.

Genauso wenig kann es sich die Wissenschaft leisten, Qualitätsmaßstäbe durch Gruppenzeugnisse zu ersetzen. Nicht jedes Argument ist gleich gut; ein schlechtes Argument wird nicht besser dadurch, daß es aus einer bestimmten Gruppe kommt. Wissenschaft ist universalistisch, und wenn sie es nicht mehr ist, hört sie auf, Wissenschaft zu sein. Ihre Gegenstände können mit den Zeitströmungen wechseln, ihre Vertreter können in den verschiedensten Loyalitäten befangen sein, können sogar die abwegigsten Vorurteile über die Welt und übereinander hegen, so daß der Ideologieverdacht immer und von vornherein zu Recht besteht – als eine Methode der Erkenntnisgewinnung funktioniert sie nur, solange sie an ihrem universalistischen Objektivismus als Ziel festhält: als eine Methode, die alle Ideen ohne Rücksicht auf ihre Herkunft nach den gleichen Regeln der Prüfung unterwirft. Sobald sie das Ziel der Objektivität fallen ließe und glaubte, daß jeder einzelne und jede Gruppe ihre eigene Wahrheit hätten, hätte sie sich aufgegeben.

In den „weichen“, subjektivistischen, ideologie- und modeanfälligen Geschichts-, Kultur- und Sozialwissenschaften mag man sich eine Weile über ihre universalistische Natur hinwegtäuschen. Black science, gay science, female science – fördern sie nicht alle hochinteressante Ergebnisse zutage? Dringend nötige sogar, die vordem niemand zutage förderte? Das tun sie. Aber sie tun es nur dort, wo sie sich der gleichen universalistischen Methode unterwerfen. Sie richten den wissenschaftlichen Blick auf andere, vorher vernachlässigte Gegenstände, aber es bleibt der gleiche wissenschaftliche Blick. Wenn es nicht der gleiche Blick ist, dann ist es sonst etwas, aber keine Wissenschaft. Und wenn dieser besondere wissenschaftliche Blick und die Institutionen, die ihn lehren und anwenden, die Universitäten westlichen Zuschnitts also, ursprünglich von toten weißen heterosexuellen Männern geschaffen wurden, dann hilft es auch nichts, dann wurden sie es eben.

In den „harten“, den Naturwissenschaften kann die Täuschung keinen Augenblick lang bestehen. Wenn eine Molekularbiologin bei ihren Experimenten Meßergebnisse bekommt, die alles, was über jenen Ausschnitt der Natur bisher bekannt ist, auf den Kopf stellen würden, kann sie sich nicht darauf berufen, daß es sich in ihrem Fall eben um female science handele und daß „Frauen (oder Feministen, ob männlich oder weiblich), als Gruppe eher unparteiische und objektive Resultate hervorbringen als Männer (oder Nichtfeministen)“ (so die Feministin Sandra Harding). Sie muß sich wie jeder andere, Mann oder Frau, Feminist oder Nichtfeminist, fragen lassen, ob sie richtig gemessen hat. Hat sie es, so kann sie sich freuen, denn sie hat eine große Entdeckung gemacht. Hat sie es nicht, so war es nur ein Fehler, und wenn es sie als Frau kränkt, daß sie einen Fehler gemacht hat, so ist das ihr Pech. So erbarmungslos geht es in der Wissenschaft zu, und nur solange es so erbamungslos darin zugeht, bleibt sie Wissenschaft. Frauen oder Schwarze oder Schwule mögen andere Gegenstände für interessant halten und ihre Arbeit auf unterschiedliche Weise tun: Der Test, der über „richtig“ oder „falsch“ befindet, bleibt für alle der gleiche. Wenn die Naturwissenschaftler zu der Überzeugung kämen, daß es separate weibliche oder schwarze oder schwule Wahrheiten gäbe, müßten sie ihre Labors anderntags schließen.

An der Oberfläche scheint Political Correctness aus einer Agenda heterogener und variabler Anliegen zu bestehen, die keinen Zusammenhalt haben. In Connecticut wird eine Studentin relegiert, weil ein Schild an ihrer Zimmertür Homos zu jenen Personen zählte, von denen sie nicht besucht werden wollte; in Pennsylvania wird ein Juradozent für ein Jahr beurlaubt, muß sich öffentlich entschuldigen und an einer Sensibilisierungs-Veranstaltung teilnehmen, weil er, und zwar in betont antirassistischem Zusammenhang, Schwarze als Ex-Sklaven bezeichnet hat; in Harvard wird eine Rufmordkampagne gegen einen Professor für ethnische Studien organisiert, einen liberalen Veteranen des Antirassismus, weil jemand in seinem Standardwerk das Wort Indian und Oriental entdeckt hat; er muß schließlich seine ganze Lehrveranstaltung absetzen. Solche Vorfälle scheinen wenig miteinander zu tun zu haben. Wer sich in dem einen Fall engagiert, tut es nicht automatisch auch in dem anderen – vielleicht steht er dort sogar auf der entgegengesetzten Seite. Dennoch haben sie etwas gemein: die Fundamentalisierung des Gruppendenkens, die Sensibilisierung genannt wird. Gibt es eine Art Lackmustest für Politische Korrektheit? Er müßte den Kern treffen und also eruieren, wie absolut sich jemand das Gruppendenken zu eigen gemacht hat. Vielleicht ist es dieser? Man zeige der Probandin oder dem Probanden ein wissenschaftliches Ergebnis, das möglicherweise irgendeiner anerkannten Opfergruppe nicht gefällt. Zum Beispiel: daß mathematische Hochbegabung bei Männern häufiger ist als bei Frauen, während der Begabungsschwerpunkt des weiblichen Geschlechts im sprachlichen Bereich liegt, daß es zwischen dem weiblichen und dem männlichen Begabungsprofil also einige statistische Unterschiede gibt (nachgerade eine wissenschaftliche Binsenweisheit). Und dann beobachte man die Reaktion: Tritt ein Blick des Entsetzens in die Augen? Wenn dann noch der Kommentar kommt: Das sei wieder einmal typisch männliche Pseudowissenschaft, Frauen hätten so etwas nie und nimmer herausgefunden – dann darf man wohl die sichere Diagnose stellen: pc.  

Eine Hauptthese der sogenannten Schwarzen oder Afrozentrischen Wissenschaft, zuerst vertreten in einem Buch des senegalesischen Schriftstellers Cheikh Anta Diop (‘The African Origin of Civilization’), besagt, daß nicht das weiße Europa die Wiege der westlichen Kultur war, sondern das schwarze Afrika. Die westliche Kultur entstamme nämlich der ägyptischen Kultur, und die sei eine schwarze gewesen. So wurde die These seitdem immer wieder popularisiert: Weiße hätten Schwarzen in Ägypten ihre Kultur geraubt – und dann der Sphinx die Nase abgeschlagen, damit ihre negroiden Züge nicht mehr auszumachen wären. (Kann eine Kultur überhaupt geraubt werden? Eine Kultur kann unterdrückt oder gefördert oder oktroyiert oder auch übernommen werden, aber wenn sie Fremden so zusagt, daß sie sie übernehmen, ist sie damit niemandem geraubt.)

Es handelt sich da nicht um eine Glaubenssache, sondern um eine empirische Frage: Welche Hautfarbe hatten die alten Ägypter? Da sie schon lange nicht mehr unter uns weilen, kann man es nicht sicher wissen. Man kann es nur aus den erhaltenen Zeugnissen zu erschließen versuchen. Weiße Berichterstatter haben sie teils geweißt, teils geschwärzt; Augenzeugen ist nicht immer zu trauen. Sie selber haben sich in ihrer Kunst jedoch dargestellt, und zwar teils rötlichbraun, teils ockergelb, teils weiß, insbesondere die Bewohner des Südens auch teils dunkelbraun. Die Mehrheit der Ägyptologen hat daraus den Schluß gezogen, daß im alten Ägypten offenbar Menschen verschiedener Hautfarbe zusammenlebten, im Süden auch dunklere. Dennoch schreibt der Schwarze Wissenschaftler Molefi Kete Asante, es werde heute überhaupt nicht mehr bestritten, daß Ägypten ein schwarzafrikanisches Land war, und sicher sagt er nicht wissentlich die Unwahrheit.

Den Widerspruch mag unabsichtlich jene Zeitung geklärt haben, die eine telefonische Rundfrage bei amerikanischen Ägyptologen veranstaltete und sie fragte, was sie von der These eines Schwarzen Ägyptens hielten. Die meisten (oder waren es alle?) sagten, daß sie sie für falsch hielten – daß sie aber aber um Himmels willen nicht beim Namen genannt werden wollten, da sie sonst Scherereien bekämen.

Und das ist ein Ergebnis des inquisitorischen Gesinnungsdrucks, das auf Dauer gefährlicher ist als die spektakulären Fälle von Zensur: daß ganze Fachbereiche sich daran gewöhnen, fünf gerade sein zu lassen. Halb zog sie ihn, halb sank er hin. Zum einen sind die Wünsche ja verständlich und nicht unberechtigt. Zum anderen hat man ein ebenso verständliches Interesse daran, Scherereien aus dem Weg zu gehen und sich nicht etwa von Flugblättern oder Sprechchören als Rassist oder Sexist anspucken zu lassen. So lernt ein ganzes Fach nach und nach, daß es besser ist, Forschungsprojekte, bei denen das Falsche herauskommen könnte, gar nicht erst in Angriff zu nehmen, daß bestimmte Fragen besser ausgeklammert bleiben, um in Ruhe den übrigen nachgehen zu können, daß bestimmte Autoren besser nicht zitiert werden, andere aber bei jeder Gelegenheit, daß bestimmte Kollegen besser nicht berufen oder zu den Fachtagungen eingeladen werden, daß man ihren Arbeiten Formfehler ankreiden muß, die man jedem anderen achselzuckend durchgehen ließe, daß man scheinbar kompromittierende Zitate eines in Verruf geratenen Kollegen unentwegt voneinander abschreiben darf, ohne jemals nachzuprüfen, ob sie dessen Meinung richtig spiegeln, daß man ihn vielleicht sogar aus dem Fachverband ausschließen und damit wissenschaftlich zur Unperson machen kann, daß man sich zu bestimmten Fragen klugerweise überhaupt nicht äußert, daß man besser durch irgendein Denkopfer die Harmlosigkeit der eigenen Position demonstriert – und im weiten Umkreis sehen alle betreten weg, um nicht selber noch in Sachen hineingezogen zu werden, die ja gar nicht die ihren sind. Niemand hat etwas Unredliches getan, zumindest ist ihm nichts Unredliches nachzuweisen, es wurde nur die Form der Bewahrheitung still und unauffällig ein wenig verändert – aber schon neigt sich die Wahrheit ein wenig, biegt sich, verbiegt sich, kippt. Und die Medien können melden, die einhellige Meinung der Experten sei die und die.

 

Wenn die Ansprüche der Political Correctness so stark auf die Sprache durchschlugen, dann sicher auch deshalb, weil sprachliche Reformen allemal die billigsten sind. Der Hauptgrund aber dürfte gewesen sein: daß sich die Überzeugung durchsetzte, jeder einzelne und jede Gruppe habe ein Recht darauf, sich nicht verletzt zu fühlen. Wohlgemerkt: nicht ein Recht darauf, nicht verletzt zu werden, sondern sich nicht verletzt zu fühlen, auch nicht durch Worte – ein entscheidender Unterschied. Ist es nicht logisch und nur gerecht? Unter allem, was den Opfergruppen in der Vergangenheit angetan wurde, waren meist auch sprachliche Verletzungen (hurtful speech, hate speech); zum Beispiel kursierten allerlei Schmähworte für sie. Wer ein Ende der Diskriminierungen will, muß der nicht auch ein Ende dieser Schmähungen wollen?

Schmähung aber ist gar nicht der Punkt. Daß es ein Recht darauf gibt, nicht beschimpft zu werden, ist unstrittig. Beleidigungen – ob mit Worten, Gesten oder Taten – sind überall verpönt und verboten. Um sie brauchte kein Aufhebens gemacht zu werden. Ihretwegen müßten nicht ganze Sprachfelder umgepflügt werden. Es geht aber gar nicht um die mit Absicht oder im Affekt gebrauchten Schimpfwörter. Es geht um an sich neutrale Wörter, die indessen jemand als verletzend empfindet. Das Kriterium also hat sich verschoben. Ob ein Wort verletzend ist, entscheidet sich nicht daran, ob es nach allgemeinem Sprachverständnis objektiv verletzend ist – und auch nicht daran, ob es in verletzender Absicht gebraucht wurde. Es soll sich allein am Gefühl des Verletzten entscheiden.

Nun können Gefühle objektiv angemessen sein, aber auch unangemessen; sie können sogar rundheraus irren. Aber subjektiv sind Gefühle immer wahr. Damit sind sie auch unwiderlegbar. Es gibt keine Berufung gegen sie. Wer ein Gefühl verletzt, ist von vornherein verurteilt. Unschuldsbeweise läßt ein Gefühl nicht zu. Es läßt sich noch nicht einmal ein echtes von einem nur behaupteten Gefühl unterscheiden. Ob jemand schuldig ist oder nicht, liegt allein im Belieben des Verletzten. Der Wahrheitsbeweis ist sein Gefühl. Wenn jemand einen anderen Kanake nennt, so hat er objektiv ein Schimpfwort gebraucht und muß sich darauf gefaßt machen, daß der sich mit einem Arschloch oder einer Ohrfeige oder einer Strafanzeige revanchiert, und das ist richtig so: Einer soll dem anderen keinen Schaden zufügen, auch nicht durch Worte. Wenn ich jedoch einen Schwarzen Neger nenne, habe ich kein Schmähwort benutzt und wollte wahrscheinlich auch keines benutzen. Das aber hilft mir nicht, wenn er oder jemand in seinem Namen sagt: gleich, ob er objektiv geschmäht wurde oder ob ich ihn schmähen wollte, also unabhängig vom Bedeutungsgehalt des Wortes oder von meiner Absicht, fühle er sich geschmäht, und aus seinem verletzten Gefühl folge, daß ich ein hassenswerter Rassist sei. Nirgendwo ist die Rechtsordnung auf das bloße subjektive Gefühl des Geschädigten abgestellt. Niemand dürfte einen anderen zu einem Dieb erklären und ihn wegen Diebstahls bestrafen lassen, nur weil er sich bestohlen fühlt, auch wenn tatsächlich nichts gestohlen wurde. Im Fall der sogenannten hate speech, der ‘Haßsprache’, wurde dieses gesunde, ja für jede Gesellschaft lebensnotwendige Prinzip außer Kraft gesetzt. In Amerika fanden bereits Prozesse statt, in denen sich einzelne Schadenersatz für den ihnen angeblich verbal angetanen seelischen Schmerz erstreiten, also ihr Gefühl der Verletztheit in Bargeld verwandeln wollten.

Und es ist nicht einmal notwendig, daß jemand sich subjektiv wirklich verletzt fühlt. Es reicht, daß er sich verletzt fühlen könnte. Es reicht, daß ein paar Aktivisten behaupten, Angehörige dieser oder jener Opfergruppe könnten sich verletzt fühlen. Es reicht die bloße Befürchtung, ein paar anstoßnehmende Aktivisten könnten sich prophylaktisch im Namen einer Opfergruppe verletzt fühlen.

Das Bemühen, den Opfergruppen jedes mögliche Gefühl sprachlicher Verletztheit zu ersparen, heißt (rassische, ethnische, sexuelle) Sensibilisierung. Gegen Unsensibilität gibt es Umerziehungskurse, eine Art Zwangsnachhilfeunterricht in PC. Wenn Sensibilität aber nicht mehr nur eine persönliche Eigenschaft ist, der gegenüber andere die Freiheit behalten, sie angemessen oder unangemessen zu finden, wenn sie zum politischen Programm erhoben wird und sich in Interessenvertretungen organisiert, setzt sofort ein Wettbewerb ein, bei dem jeder den anderen an Sensibilität zu übertreffen sucht.

Auf den ersten Blick erscheint die Forderung nur allzu billig: Niemand soll einen anderen verletzen. Aber sobald man seelische Verletzungen – Verletzungen durch Worte – körperlichen Verletzungen gleichstellt, also eine Art Rechtsanspruch auf seelische Unversehrtheit einführt, und sobald allein der angeblich Verletzte und seine Fürsprecher definieren, wann eine seelische Verletzung vorliegt, zeigt sie ihren Pferdefuß. Natürlich können nicht nur einzelne Wörter verletzen, sondern auch Sätze und Meinungen und wissenschaftliche Theorien. Galilei und Darwin haben viele Gläubige tief verletzt, und es handelte sich um wirkliche, nicht nur um von den Kirchen behauptete Verletzungen; heute verletzt viele die Ausdehnung der Evolutionstheorie auf die Psyche und den Geist des Menschen. In der Wissenschaft geht es überhaupt außerordentlich verletzend zu – ihr Lebenselixier ist Kritik, Kritik verletzt, selbst die schonend vorgetragene, nicht Recht zu bekommen ist kränkend, und manche Ergebnisse des Wissenschaftsprozesses haben das Zeug, auch in der Allgemeinheit Verstörung und Kränkung zu bewirken. Ein Rechtsanspruch auf seelische Unversehrtheit brächte alle Wissenschaft zum Erliegen. Wollte der Staat seinen Bürgern die seelische Unversehrtheit garantieren, müßten alle Debatten ein Ende haben; er selber müßte dann festlegen, welche Worte, Meinungen, Theorien ihnen zugemutet werden können und welche zu verbieten sind – das heißt, das Prinzip der seelischen Unversehrtheit wäre auch das Ende der liberalen Gesellschaft.

   

PC also ist unter anderem das Bemühen, die anerkannten Opfergruppen sprachlich aufzuwerten und wenn schon nicht aus dem Leben, so zumindest aus der Sprache alles zu tilgen, was an ihre Stigmatisierung erinnern könnte. Wie weit das gehen kann, macht der Leitfaden klar, der 1990 am Smith College in Northampton, Massachusetts, den Studienanfängerinnen in die Hand gegeben wurde (er wurde schon im Jahr darauf wieder zurückgezogen). Zu Tabus erklärte er nicht nur die Standard-Ismen, die man hier erwartet: Rassismus („Unterdrückung anderer Gruppen“), Ethnozentrismus („Unterdrückung anderer Kulturen“), Sexismus (die Diskriminierung von Frauen), Heterosexismus (die Diskriminierung von Homosexuellen), „Klassismus“ („Un­terdrückung der Arbeiterklasse“ – wohl um auch den übriggebliebenen Marxisten einen Platz innerhalb der PC einzuräumen). Eine herrschende Stimmung aufgreifend, fügte er einige durchaus neue hinzu: ageism („die Unterdrückung der Jungen und Alten durch jene mittleren Alters“), lookism („die Konstruktion eines Schönheitsstandards“) und, vor allem, ableism (Elitismus), nämlich „die Unterdrückung der Andersbefähigten durch die zeitweilig Befähigten“.

Also vermeide man (wie es eine an der Universität Missouri erarbeitete Sprachregelung für Journalisten empfahl) nicht nur das Wort alt, sondern alle Hinweise auf das Alter. Alte sind senior citizens, ‘Seniorbürger’; der Vorschlag „Juniorengel“ war dagegen nur einer der satirischen Scherze, zu denen diese Kunst der schonungsvollen Umschreibung geradezu herausfordert. Man vermeide jeden Hinweis auf das Aussehen, zumindest jeden, der auf gutes Aussehen hinweist und so die weniger gut Aussehenden verletzen könnte. Und man vermeide vor allem jeden Elitismus, den Beelzebub schlechthin, der daran erinnert, daß es Menschen verschiedener geistiger Ausstattung gibt. Worte wie dumm sind sowieso längst tabu; doch auch Umschreibungen wie minderbegabt sind noch zu deutlich – andersbefähigt also; und wem auch das noch zu verletzend scheint, sage von den zeitweilig Befähigten andersbefähigt genannt, um klarzustellen, daß hier die etwaige Dummheit allein in den Köpfen jener anzutreffen ist, die nach traditionellem Verständnis eher die Helleren sind. Im gleichen „Wörterbuch zu vermeidender Wörter und Wendungen“ steht auch folgender Eintrag: „Mann, Der: Hinweis auf das vorwiegend weiße Establishment. Könnte verletzend wirken.“ Anscheinend soll der Unterdrücker par excellence, der weiße heterosexuelle Mann, in der sprachlich berichtigten Welt durch Verschweigen gestraft werden.

Ähnliche sprachliche Rücksicht wurde dem Sachverhalt der Armut zuteil. Die poor (Armen) wurden zu den needy (Bedürftigen), diese zu den deprived (Depri­vierten), diese zu den underpriviliged (Unterprivile­gierten) und diese schließlich zu den disadvantaged (Benachteiligten). Sie wohnen in keinem Slum, sondern einem kulturell deprivierten Milieu. Ähnlich wurden Kranke und Invaliden zu den handicapped (Behinder­ten), diese zu den disabled (Entfähigten) und diese schließlich zu den Andersbefähigten (differently abled) oder körperlich Herausgeforderten (physically challenged). Daß Kleine vertikal Herausgeforderte heißen sollen, war jedoch ebenfalls nur ein Scherz.

Auch die Bezeichnungen der Opfergruppen selbst wurden renoviert. Die männlichen Homosexuellen machten sich ein Schimpfwort zu eigen, gay (schwul), so wie sich die Schwarzen in den siebziger Jahren plötzlich selber stolz black nannten. Aber wehe, jemand benutzte eins der anderen alten Schimpfwörter, fairy oder queer etwa.

Die Feministinnen bescherten der englischen Sprache das praktische, ja unentbehrliche Ms., das den Briefschreiber heute der unmöglichen und entwürdigenden Wahl zwischen Mrs. und Miss (Ehefrau und unverheiratete Frau) enthebt. Das Motionsproblem besteht im Englischen nicht in der gleichen Schärfe wie im Deutschen: Einige Bezeichnungen zwar werden moviert (waiter/waitress), die meisten aber – student, teacher, scientist – meinen Frauen und Männer gleicherweise. Also konnte gar keine Versuchung aufkommen, neue, feminine Formen in Verkehr zu bringen. Das Problem taucht nur dort auf, wo ein Pronomen auf eine solche geschlechtsneutrale Gruppe Bezug nimmt: The student came in, and (he oder she?) asked… Handelt es sich um eine bestimmte bekannte Person, so ist der Fall klar: Es ist das natürliche Geschlecht gefordert. Aber was, wenn es sich um eine unpersönliche Aussage handelt: the teacher who receives the information… Ist das männlich oder weiblich zu lesen? Hier protestierten Feministinnen schon in den siebziger Jahren: Es müsse doch nicht immer nur maskulin weitergehen. Seitdem taucht an dieser Stelle auch in mancher wissenschaftlichen Literatur das Femininum auf. Manche Autoren lassen Maskulinum und Femininum sorgfältig ausgewogen abwechseln. Auch das ist eine harmlose Korrektur, die der Sprache keinerlei Gewalt antut. Aber da es die Norm verletzt, wurde es zu einem starken Signal. Wer an solchen Stellen grundsätzlich immer nur she schreibt, der gilt heute als ausgemacht pc. Wenn eine Frau es tut, hat es einen kämpferischen, bei einem Mann einen anbiederischen Zungenschlag.

Eine rundheraus lächerliche Neuerung war es dagegen, als Feministinnen auch das Wort girl auszumerzen suchten, wohl weil es in ihren Ohren fast wie eine sexuelle Belästigung klang, denn amerikanische Männer nannten und nennen Frauen bis ins reife Alter gerne und eher liebevoll als despektierlich girl (bei entsprechendem Alter nicht zu übersetzen mit Mädchen, sondern mit junge Frau – und mit den Jahren wandert der Ton im Deutschen hinüber zu jung). Aber heute soll es nun nur noch highschool women geben, ‘Oberschulfrauen’. Eine Logik, die aus Gruppenbezeichnungen jeden Hinweis auf die Jugendlichkeit tilgen will, weil sie ihn offenbar für stigmatisierend hält, müßte konsequenterweise zu *Kindergartenfrauen und weiter zu *Personengartendamen führen.

Die Orientals wurden zu den Asian-American. Die illegal aliens (die illegalen Ausländer, die meisten von ihnen Hispanics, nämlich Arbeitsimmigranten aus Mexiko), wurden zu undocumented residents (ausweislosen Bewohnern). Aus den Indians (übrigens die Selbstbezeichnung der meisten) wurden Native Americans – und plötzlich standen alle anderen Amerikaner da, als wären sie im Ausland geboren.

In einem Artikel mit dem Titel „Wie man seine Ausdruckskraft vermindert“ hat der Fernsehkritiker Walter Goodman in der ‘New York Times Book Review’ auf den eigentümlichen Umstand aufmerksam gemacht, daß längere Bezeichnungen sich irgendwie korrekter machen als kürzere. Asian American (‘Asienamerikaner’) statt Orientale, jüdische Person statt Jude, senior citizen (‘Seniorbürger’) statt elderly (‘Älterer’), person with disabilities (‘Person mit Entfähigungen’) statt Invalide – keine der alten Bezeichnungen war verletzend, und sowieso bedeuten die neuen genau das gleiche. Aber sie sind länger. Vielleicht wird die schiere Länge als Signal dafür aufgefaßt, daß der Sprecher oder Schreiber es sich etwas kosten läßt, sprachliche Rücksichtnahme walten zu lassen: Selbstkasteiung zum Zwecke scheinhafter sozialer Gerechtigkeit. Länger ist korrekter – das scheint die eine Regel zu sein; die andere lautet natürlich: Im Zweifelsfall nehme man das allgemeinere, abstraktere, blassere Wort.

An den Verhältnissen selbst ändert der Austausch von Wörtern nichts. Und ob er zumindest die Domäne der Sprache etwas freundlicher und gerechter gestaltet, steht dahin – denn wo es emotionale Vorbehalte und Abneigungen gegen bestimmte Gruppen gibt, haften sich diese alsbald auch an neue Wörter, so daß ein ständiger Austausch nötig wird. Die Entwicklungsreihe von negroes zu Negroes zu non-whites zu colored (heute: persons of color) zu blacks zu minority (group) zu dem heute korrekten African Americans ist ein Beispiel.

Auf jeden Fall aber machen die politisch korrekten Sprachregelungen das Sprechen zu einem ständigen Eiertanz. Könnte das Wort, das mir auf der Zunge liegt, eventuell jemanden verletzen? Habe ich jemanden, den ich nennen sollte, weil auch er einer Opfergruppe angehört, nicht ausdrücklich mitgenannt und damit ausgegrenzt? Im Falle des letzten Satzes also zum Beispiel die Frauen, indem ich ‘er’ gesagt habe? Steckt in dem gewählten Wort etymologisch oder pseudoetymologisch eine Anspielung auf eine nicht erwünschte Gruppe? Könnte es jemanden an das erinnern, was er vielleicht gern wäre, aber nicht ist? Ist es geeignet, irgendein Stereotyp zu befestigen, und sei es das Stereotyp, daß Alte alt und Dicke dick sind?

 

In den Kämpfen und Krämpfen, die das Erlernen eines multikulturellen Zusammenlebens notwendig begleiten, muß Amerika der ganzen Menschheit vorangehen. Aber PC ist nicht nur ein amerikanisches Phänomen. Aus Japan wird von einer ähnlichen linguistischen Säuberung berichtet: daß in seinen Fernsehanstalten und Nachrichtenagenturen Listen mit Unworten kursieren; daß die Wörter für ‘blind’, ‘taub’, ‘stumm’, ‘dumm’, ‘verrückt’ nicht mehr öffentlich gebraucht werden dürfen, nicht einmal in unverfänglichen Redensarten wie „die Uhr spielt verrückt“; daß ein Science-Fiction-Autor, in dessen einem Roman Epileptikern Fahrverbot erteilt wird und der damit den Epileptikerverband gegen sich aufbrachte, das Schreiben überhaupt einstellte –„danpitsu“, eine Art von schriftstellerischem Harakiri.

Hätte Deutschland ähnliche soziale Konflikte wie die Vereinigten Staaten, es ginge daran zugrunde. Es hat sie nicht. Ist somit auch das Phänomen PC Deutschland erspart geblieben? Ist es nichts als paranoide Einbildung, wenn auch hierzulande einige über ein inquisitorisches geistiges Klima Klage führen? Zum Beispiel der Historiker Christian Meier: „[Es] entsteht ein bemerkenswerter Meinungsdruck. Wer die Probleme anders sieht, sehr viel größer und schwieriger, wer fürchtet, daß die massierte Gutwilligkeit dabei ist, sich angesichts einer ihr zunehmend weniger entsprechenden Realität zu verschleißen, sieht sich zwar nicht geradezu Denkverboten, aber doch allen möglichen Drohungen, wenn nicht gar Verleumdungen preisgegeben, wie etwa Botho Strauß sie inzwischen so vielfältig hat erfahren müssen, wie früher schon Martin Walser; zu allermindest ist man der Verständnislosigkeit ausgesetzt. Man erscheint als Pessimist, als Miesmacher, wenn nicht als Nationalist oder gar Faschist…“ Sieht Meier Gespenster? Gibt es in Deutschland das Analogon zur amerikanischen political correctness überhaupt?

Es gibt sie nicht, wird dem Miesmacher entgegengehalten. Als 1993 ein Autor (zufällig war ich es selber) in der Wochenzeitung ‘Die Zeit’ das amerikanische PC-Phänomen erstmals versuchsweise auf deutsche Zustände projizierte, wurde er sogleich scharf zurechtgewiesen, sinngemäß: Erstens gebe es das hier gar nicht, zweitens bestehe es völlig zu Recht.

Die Politische Korrektheit ist keine irgendwo kodifizierte Lehre. Es läßt sich nirgendwo nachlesen, was in ihrem Sinn korrekt sein soll. Sie enthält kein festes Repertoire an Thesen. Sie ist vielmehr ständig in Fluß. Sie ist nicht festzunageln. Sie hinterläßt keine Signaturen, sondern nur Folgen. Sie läßt sich darum auch kaum schwarz auf weiß nachweisen. Sie läßt sich nur spüren. Wer, wie Konrad Adam in einem Leitartikel der ‘Frankfurter Allgemeinen’, in Deutschland überall dreiste „Sprachanweiser“ am Werk sieht, die definieren, was politisch korrekt und was unkorrekt ist, um dann alles Unkorrekte „anzuprangern“, verkennt das Phänomen völlig – er übertreibt es, und gerade darum unterschätzt er es. Diese „Anweiser“ gibt es nicht. Niemand schreibt anderen etwas vor. Die deutsche PK hat überhaupt kein Subjekt, an das sich halten könnte, wer mit ihr nicht einverstanden ist. Sie ist etwas viel Ätherischeres, das gerade darum eine solche Durchdringungskraft besitzt: ein spontanes Einverständnis der Gutwilligen. Sie müssen gar nichts definieren und erst recht nichts dekretieren. Welche neue Frage auch immer auftaucht, sie wissen wunderbarerweise, was davon zu halten ist, und müssen sich darüber gar nicht erst einig werden, sie wissen es von vornherein. Diese untereinander Einigen weisen sich durch die Verwendung einer Reihe von Begriffen aus, die sie ihrer Rede als Erkennungsmarken anstecken. Man kann ihren Kreisen beitreten, man kann es aber auch lassen, und meistens geschähe einem nichts – nur daß man sich selber aus dem Kreis der Gutmenschen ausgeschlossen hätte, von ihnen fortan scheel angesehen würde und irgendwann sein Fett bekäme. PK ist nämlich so etwas wie eine kollektive Stimmung, ein starker, steter Wind aus politischen und sozialen Grundsatzgefühlen, der ursprünglich von links kam, aber längst die ganze Landschaft bestreicht und in das alte Links-rechts-Schema überhaupt nicht mehr einzupassen ist. Daß eine bestimmte Brise bläst, merkt natürlich nie, wer sich mit ihr bewegt. Ist sie darum unfaßbar?

Ich zähle hier, mehr oder weniger aufs Geratewohl, ein Bäckerdutzend einzelner dezidierter Meinungen auf, die heute in jedem Audimax, auf jedem Kirchentag, bei jedem Treffen einer Bürgerinitiative tonangebend sind, von jedem Teilnehmer erwartet werden und nicht erst begründet werden müssen, also dort als selbstverständlich richtig gelten – und sage prophylaktisch dazu, daß ich sie persönlich für legitim und ehrenwert und auch nicht für durchweg falsch halte, nur keine von ihnen für selbstverständlich gewiß.

Wenn es schon deutsche Soldaten geben muß, sollen sie wenigstens nicht ins Ausland entsandt werden. Keimbahntherapie darf unter keinen Umständen erlaubt werden. Schon das Wort ‘Elite’ läßt einem die Haare zu Berge stehen. Nationalsozialismus und Kommunismus dürfen niemals miteinander verglichen werden. Ausländer, die in Deutschland Zuflucht suchen, sollen nicht abgewiesen und nicht abgeschoben werden. Verkehr entsteht durch Verkehrsermöglichung; um den Verkehr zu reduzieren, müßten nur Straßen und Pisten „zurückgebaut“, jedenfalls nicht weiter ausgebaut werden. Alle Unterschiede zwischen den Menschen sind kulturbedingt und könnten durch entsprechende Erziehung eingeebnet werden. Naturheilmittel sind allemal besser als synthetische Medikamente. Volkszählungen sind des Teufels. Ölplattformen dürfen nur an Land und nicht auf See entsorgt werden. An allen Übeln der farbigen Welt ist der weiße Norden schuld. Wenn es nur wenige Physikerinnen gibt, dann allein darum, weil die Männer sie aus diesem Beruf ferngehalten haben. Gentechnisch faulresistent gemachte Tomaten sind gesundheitsschädlich und ekelhaft.   

Auf den ersten Blick nimmt sich das als ein chaotisches Sammelsurium aus. Die dreizehn Meinungen scheinen nicht das geringste miteinander zu tun zu haben. Möglicherweise ist es so: daß der Zufall – eine eindrucksvolle Fernsehsendung hier, eine eindrucksvolle Rede auf einer Demo da – aus allen Richtungen einen Haufen Meinungen zusammenweht, die vielen auf Anhieb einleuchten, weil überhaupt keine Alternativen dazu denkbar sind, und die dann zusammenkleben und meist gemeinsam vorkommen. Nun setze man aber das Gedankenexperiment fort und stelle sich vor, auf einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung sei irgendeine Auswahl aus diesen Meinungen vorgetragen worden, und jetzt trete jemand ans Saalmikrofon und behauptete für jede das genaue Gegenteil. Sollen sie die Ölplattform doch versenken. Die Dritte Welt hat sich ihre Schwierigkeiten selbst eingebrockt. Wir brauchen eine Elite. Der Zustrom von Ausländern muß gedrosselt werden… und so weiter. (Und noch einmal sage ich vorbeugend, daß das, jedenfalls in dieser Form, nicht meine Meinungen wären.) Was würden die anderen von ihm denken? Was würden sie ihm bald entrüstet ins Gesicht sagen? Genau: Faschist!

Viele jener Meinungen haben, bald direkt, bald indirekt einen Fluchtpunkt. Er heißt Faschismus. Ins Ausland sollen keine deutschen Soldaten entsandt werden, weil Hitlers Wehrmacht leider im Ausland war. Keimbahntherapie darf nicht sein, weil sie auf einen Züchtungsversuch hinausliefe, wie ihn sich schon die Nazis vorgenommen hatten. Schon das Wort ‘Elite’ läßt einem die Haare zu Berge stehen, weil es an die ‘Herrenrasse’ der Nazis erinnert. Die Politische Korrektheit wacht also darüber, daß nicht faschistisches Gedankengut in irgendeiner neuen Verkleidung wiederauflebt. Der antifaschistische Impetus ist es, der die meisten jener dreizehn Meinungen verbindet. Nicht oder nur auf Umwegen diesem Fluchtpunkt zuzuordnen sind jene Meinungen, die aus der Ökologiedebatte stammen und deren Fluchtpunkt etwa lautet: Natur ist gut, Menschenwerk ist schlecht. Damit ist aber nicht nur ein gewisser innerer Zusammenhang jener Meinungen demonstriert, sondern auch die Nähe zu dem amerikanischen PC-Phänomen. Sexist, Rassist, Faschist! – als das wird gebrandmarkt, wer sich nicht politically correct verhält. Allerdings, ‘Faschist’ klingt in Amerika etwas anders. Außer im Gedächtnis der Juden ist hier der ‘Faschist’ ein mythischer Übeltäter, der weit weg und in ferner Vergangenheit Monstrositäten begangen hat, so etwas wie Dracula. In Deutschland hat das Wort aus offensichtlichen Gründen eine unmittelbarere, drohendere Bedeutung, und die Brandmarkung als Faschist oder Nazi ist eine viel härtere Sanktion.

Soweit scheint alles völlig in Ordnung. Faschistische Ideen haben sich auf die denkbar schmerzhafteste Weise selber hinlänglich widerlegt. Sie fehlen im dissonanten Konzert der Meinungen nicht. Sie sind nicht nötig, um irgendeinen Erkenntnisprozeß voranzutreiben. Die Allgemeinheit kann auf sie verzichten. Die Meinungsfreiheit deckt keine Aufforde-rungen zu Verbrechen. Glückliches Land, das so viele argwöhnische Wächter hat! Oder etwa nicht?

Die Faschismusprophylaxe ist ein guter und moralischer Zweck, aber auch die besten Zwecke rechtfertigen keine Wiedergeburt der Inquisition. Dies darum, weil auch „Faschismus“ kein zweifelsfrei erkennbares objektives Merkmal ist. Wer bei einem anderen Faschismus diagnostiziert, kann sich täuschen. Selbst wenn jemand von sich selber sagt, er sei Faschist, kann er im Irrtum sein. Ein subjektiver Verdacht kann niemals auch schon das endgültige Urteil darstellen. Wie es gegen den Pornographieverdacht eines Zensors eine Berufung geben muß, so hätte es sie auch gegen den Faschismusverdacht zu geben. Wenn es sie nicht gibt, werden unter den leichthin als „faschistisch“ abgewürgten Ideen auch fruchtbare und notwendige sein –oder schlicht richtige.

Noch schärfer nämlich stellt sich das Problem, wenn die „Ideen“ keine bloßen Meinungen irgendwo im letztlich unnachprüfbaren Gewölle sozialer Werthaltungen sind, sondern wissenschaftliche Erkenntnisse, die nach den anerkannten Regeln der Kunst aus empirischen Beobachtungen abgeleitet wurden – wenn also ein begründeter Verdacht besteht, daß die „Ideen“ schlechthin richtig sind. Der Volksmund nennt bestätigte objektive Sachverhalte kurzerhand – und etwas voreilig – „Tatsachen“. Können derartige Tatsachen faschistisch sein? Das nicht, wird man sagen, aber es disqualifiziert eine solche Tatsache durchaus, wenn sie den Nazis möglicherweise willkommen gewesen wäre. Den Nazis vielleicht willkommen gewesen wären die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Erblichkeit der gemessenen Intelligenz, die sich Ende der sechziger Jahre angehäuft hatten; vielleicht auch nicht, aber es ist nicht auszuschließen. Prompt wurden die Psychologen, die diese Tatsachen eruiert und gemeldet hatten, als Faschisten beschimpft und auf vielfache Weise inquisitorisch schikaniert; der ganze Forschungszweig ist seitdem in Verruf, in Deutschland noch mehr als in Amerika, und kann nur unter vielfachen Behinderungen weiterverfolgt werden. [...]

Eine wissenschaftliche Erkenntnis aber verschwindet nicht durch Zensurmaßnahmen, und seien diese noch so moralisch motiviert. Eine wissenschaftliche Erkenntnis verschwindet nur, wenn sie widerlegt wird. Was an ihr richtig ist, bleibt es auch, wenn es mit vernichtenden Epitheta wie faschistisch bedachte wurde. Wegzensierte wissen-schaftliche Erkenntnisse führen nur zu einer Realitätsspaltung: Auf der einen Seite gibt es dann die Erkenntnisse, die man laut aussprechen darf, auf der anderen die, die sich die Informierten still denken, ein im Untergrund wucherndes und dort nicht richtiger werdendes Geheimwissen. Und die Gesellschaft läuft Gefahr, sich ein schimärisches Wirklichkeitsmodell zu eigen zu machen.

Nach meinem Geschmack tut die Frage, was wohl die Nazis zu dem oder jenem gesagt hätten, diesen sowieso viel zuviel Ehre an. Daß die Nazis Schiller und Schäferhunde mochten, kann kein Grund sein, Schiller und Schäferhunde zu hassen. Wenn das Nazitum etwas gut und richtig fand, wird es allein dadurch noch nicht schlecht und falsch; was das Nazitum schlecht fand, wird allein darum noch nicht automatisch gut. Das Nazitum war ein barbarisches Wahnsystem, das den Staat ursurpiert hatte. Es ist konsequenterweise an seiner Wahnhaftigkeit zugrunde gegangen. Es verdient nicht, nach seinem Untergang zum Schiedsrichter darüber eingesetzt zu werden, was als richtig und als falsch gelten soll.

Das politisch korrekte Denken ist ein grundsätzlich kämpferisches Denken und damit strikt dualistisch, ja eschatologisch: letztes Heil gegen letztes Unheil. Es sieht die Welt in einem krassen Schwarz-Weiß, nicht in verfließenden Farben. Das Zwar-Aber, das Teils-Teils, das Einerseits-Andererseits, die die Wissenschaft zum Prinzip erhoben haben, sind seine Sache nicht; es ist ihm zutiefst unsympathisch. Was nicht gut ist, ist schlecht und muß bekämpft werden. Dem relativistischen Gedanken, daß sich vieles unter verschiedenen, durchaus nicht von vornherein verwerflichen Aspekten sehen läßt und damit gut und schlecht zugleich sein könnte, mag es nicht nähertreten. Seine eschatologische Militanz ist ein Erbe aus den linksradikalen Oppositionsbewegungen der sechziger und siebziger Jahre: Hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Erkämpft das Menschenrecht! Demgemäß schätzt es Kritik, Nonkonformismus, Widerstand. Es nennt den und nur den einen bewußten Menschen, der in seinem Sinn kritisch ist – und relegiert alle, die die speziellen Inhalte dieser Kritik nicht teilen, auf die Stufe dumpfer Umnachteter. So vollführt es nach wie vor die Protestgesten von gestern – und hat nicht bemerkt, daß sich die Zeiten geändert haben. Kritik war einmal gefährlich. Der Nonkonformist, der das Bestehende, die Gesellschaft, die herrschenden Verhältnisse in Frage stellte (hinterfragte), nahm ein Risiko auf sich. Er schadete zumindest seiner Karriere; manchmal drohten ihm Berufsverbote oder das Gefängnis; in totalitären Verhältnissen setzte er sein Leben aufs Spiel. Er hatte etwas von einem Helden oder Märtyrer.

Aber nun hat jenes kritische Bewußtsein längst auf breiter Front gesiegt, jedenfalls unter den „Sinnproduzenten“ der westlichen Gesellschaften, die deren öffentliche Meinung bestimmen. Aus dem Nonkonformismus von damals ist seinerseits Konformismus geworden, der sich indessen weiter für Nonkonformismus hält; aus dem Dissidententum eine neue Orthodoxie, die jedoch weiter den Heldennimbus von einst in Anspruch nimmt. Kritik stigmatisiert den nicht mehr, der sie übt; sie wurde zu einer Ehrenplakette. Ein Skandal war einmal, worüber sich die Gesellschaft mehr oder weniger unisono entrüstete. Heute ist Skandal ein beliebtes Werbeargument – dieser Film ist ein Skandal heißt, daß seine Verleiher sich Chancen ausrechnen, ihn zum Kassenschlager zu machen. Auch wo der Skandal in seinem einstigen negativen Sinn fortlebt, ist er blasser geworden; die Preiserhöhung ist ein Skandal heißt nicht mehr, daß sie ein die Allgemeinheit schockierendes Vorkommnis sei, sondern nur noch: Meiner Meinung nach ist sie mißbilligenswert. (Erst greift man, um den eigenen Worten Nachdruck zu verleihen, zum hyperbolischen Ausdruck – kurz, man übertreibt.

Nach einer Weile passiert das Unvermeidliche: Der hyperbolische Ausdruck sinkt ab und eignet sich zu keiner Übertreibung mehr.) Aus dem kritischen Intellektuellen von einst, der Nachteile gewärtigen mußte und das in Kauf nahm, ist die heutige Figur des Querdenkers geworden, dem sein Querdenken vielfältig honoriert wird. „… während sich das kritische Denken in allen Schichten und Lebensbereichen als intellektuelle Norm etablierte, geriet es zum ‘Querdenkertum’ unserer Tage. Was sich bis heute durchgesetzt hat, ist nicht so sehr die Fähigkeit des einzelnen zur Kritik, sondern vor allem deren äußerer Gestus – eine unverbindliche Attitüde, deren Wert heute vornehmlich darin besteht, die Rangordnung der kritischen Geister festzulegen“ (Martin Hecht). Kein Querdenker zu sein, ist geradezu karriereschädlich geworden. In diesem Sinn hat sich das kritische Bewußtsein zu Tode gesiegt, ist politische Korrektheit ein Paradox, zur Norm geronnene Normverletzung, zum Mainstream gewordenes Außenseitertum, in der Heldenpose erstarrte Durchschnittlichkeit. Was wahrscheinlich keiner revolutionären Bewegung erspart bleibt, ist auch hier eingetreten: eine gewisse Verspießerung.

Die Steigerungsreihe für das, wogegen die Pießie sich richtet, lautet derzeit: Stammtisch, menschenverachtend, faschistisch. Alle besagen: Du solltest dich schämen! Hinter dem Wort Stammtisch steckt die Hypothese, eine Meinung – zum Beispiel etliche der in diesem Kapitel vertretenen Meinungen zur Sprache der Pießie – könnte den Beifall der falschen, nämlich der mehr oder weniger faschistisch denkenden Leute finden. Die nun sind allerdings kein bloßes polemisches Phantom, sondern existieren wirklich, sind möglicherweise sogar zahlreich – in der pluralistischen Gesellschaft gibt es ja immer gegenläufige Tendenzen und Stimmungen –, aber sie bestimmen die öffentliche Meinung keineswegs. Insofern sind alle drei Wörter tautologisch. Die Stammtisch-Genossen sind jedenfalls anonymes Volk, nicht die hochgeschätzte Basis also, sondern der verachtete Bodensatz. Die Basis verkehrt in anderen Gaststätten. Ihre Stammtische heißen nicht Stammtische, es fließt dort auch mehr Chianti als Bier, und es sitzen daran die richtigen Leute und äußern die richtigen Meinungen in den richtigen Worten. Und an welchen Tischen will man nun mitreden und gelobt werden: an diesen? an jenen? an allen? an keinem? (Was mich selber angeht, würde ich sagen: am liebsten natürlich an allen, aber wenn an keinem, wäre auch das recht – der hypothetische Applaus aus dieser oder jener Richtung kann nicht zum Oberzensor des Denkens gemacht werden, und auch zwischen den Tischen gibt es Sitzplätze.)

Wer daran zweifelt, daß es einen bis zu Tätlichkeiten gehenden Gesinnungsdruck gegen inkorrekte Ideen auch in Deutschland gibt, brauchte sich nur für die Verfemung der das Dogma der totalen Kulturdeterminiertheit in Frage stellenden „Biologisten“ an den deutschen Hochschulen zu interessieren oder für die rabiate Verfolgung, der hierzulande ausgesetzt ist, wer die Meinung zu vertreten wagt, der inzestuöse sexuelle Mißbrauch kleiner Mädchen durch ihren Vater oder Onkel sei nicht so häufig, wie von einigen extremistischen Frauen-gruppen behauptet, und die Erinnerung daran immer nur ein unverläßliches Beweismittel, da Erinnerungen ihrem Wesen nach Konstrukte sind. Er wäre schnell eines Besseren belehrt.

Es gibt die Sache, und es gibt ihre Sprache. Sie ist hierzulande nicht omnipräsent und in der gleichen Weise zwingend wie in Amerika; vor allem gibt es keine expliziten Sprachregelungen. Wer aber meint, jeder könnte alles sagen, braucht sich nur vorzustellen, in irgendeinem Hörsaal verwendete jemand das Wort Neger, in der schließlich nicht falschen, wenn auch lebensfernen Meinung, es selbst sei keineswegs pejorativ und bedeute nur, was auch die meisten korrekteren Wörter bedeuten, Schwarzer, so wie Bundespräsident Lübke es verwendete, als er eine Gästegruppe mit „Meine Damen und Herren, liebe Neger“ begrüßte. Nicht umsonst wurden sogar die Negerküsse abgeschafft, die die Schwarzen bei den Kindern früherer Zeiten so beliebt gemacht hatten wie der Sarotti-Mohr. Beim heutigen Schokoladenschaumkuß können sie sich nur noch schütteln, schon das Wort schmeckt wie Mäusespeck.

Das sei alles nur reaktionäre Paranoia? 1995 veröffentlichte ein Hamburger Richter, Günter Bertram, in der ‘Neuen Juristischen Wochenschrift’ einen kurzen Artikel über die schwierigen Probleme, die sich ergeben, wenn Ausländer Straftaten an Ausländern begehen, also wenn die Gerichte Fälle verhandeln müssen, in denen Opfer wie Täter Ausländer sind. Es sind Fälle, in denen die Komplexität des Lebens die bequeme, vereinfachende manichäische Formel „Ausländer gleich Opfer“ in Frage stellt. Zitiert wurde der Fall eines Ghanaers, der in Deutschland eine Türkenfamilie mit einer Baseballkeule zusammengeschlagen hatte. Vor Gericht beschwerte sich der Ghanaer, er werde schon wieder wegen seiner Hautfarbe diskriminiert. Auch die türkische Seite beschwerte sich: Das Gericht gewährleiste ihr aus türkenfeindlichen Motiven nur unzureichenden Schutz gegen den „Terror eines Negers“.

Prompt kam auf den Aufsatz der „energische Einspruch“ eines anderen Juristen: Er sei ein fremdenfeindlicher Akt, der den deutschen Stammtisch aufwiegele. Nach „Freisler“ klinge er zwar nicht ganz, aber doch nach „Deckert“. Die Wortwahl jedenfalls passe genau „in das Menschenbild eines Richters, der im gleichen Aufsatz einen Schwarzafrikaner als ‘Neger’ bezeichnet und dem die Rede von ‘ausländischen Mitbürgern’ gegen den Strich geht. Hier soll gegen Ausländer, gegen die multikulturelle Gesellschaft (‘Multikultur’) bewußt Stimmung gemacht werden.“

Die sprachliche Etikette muß also peinlich genau beachtet werden. Du sollst das Wort Viktimisierung nie in Anführungszeichen setzen, wie Bertram es einmal getan hatte. Du sollst ausländische Mitbürger nie einfach Ausländer nennen (Bertram hatte die Formel ausländische Mitbürger als zwar sympathisch, aber eigentlich paradox bezeichnet). Du sollst die multikulturelle Gesellschaft nie zu Multikultur abkürzen, sonst schürst du Ressentiments gegen sie. Du sollst unter keinen Umständen das Wort Neger gebrauchen, selbst wenn du einen Türken zitierst. Und wenn du dich nicht daran hältst, wirst du an den Pranger gestellt, und zwar als ein Mittelding zwischen Freisler und Deckert.

Nun kann man sagen: Da hat ein Jurist einen Artikel geschrieben, ein anderer einen Leserbrief – und was weiter? Dem Richter ist ja nichts weiter passiert. Er wurde nicht versetzt, mußte sich vor keiner Disziplinarkammer verantworten, mußte sich nicht öffentlich entschuldigen, mußte keinen Sensibilisierungslehrgang absolvieren. Die Sache hatte keinerlei Folgen. Anders als in anderen gesellschaftlichen Bereichen, dem Journalismus zum Beispiel, kam ihm sogar eine Reihe weiterer Leserbriefe zu Hilfe. In der Tat, die deutsche PK ist bisher weniger rigoros als die amerikanische PC. Trotzdem manövriert sie hart an der Grenze. Man muß sich nur vorstellen, die Entlarvung hätte nicht in einem Leserbrief an die Berufszeitschrift stattgefunden, sondern in einem Groschenblatt oder frontal! vor einem Fernsehtribunal – den „Freisler“ oder „Deckert“ dort wäre der Richter nicht wieder losgeworden.   

 

Insgesamt ahmt Deutsch die sprachlichen Renovierungen des politisch korrekten amerikanischen Englisch getreulich nach. Es handelt sich auch nicht bloß um den Import einiger Worte. Importiert wurde die Denkweise, die jene Worte hervorgebracht hat und hier nun neue des gleichen Schlags hervorbringt. Wie in Amerika sind die Neuerungen auch in Deutschland nicht durchweg unbegründet und an einigen Stellen sogar willkommen. Wenn man sie vernünftigerweise daran mißt, ob sie die Ausdrucksgenauigkeit des Deutschen erhöhen oder senken, werden einige als Zuwachs, andere als Einbuße eingestuft werden müssen und viele als weder–noch.

Einzuräumen ist auch, daß die deutsche Sprache (sofern man sie als ein handelndes Subjekt betrachten darf) bei der Übernahme nicht mit dem gleichen sophistischen Puritanismus vorgeht wie die amerikanische. So hat sie sich bisher mit dem Wort Behinderte begnügt, und auch arm darf in Deutschland noch gesagt werden, blond oder weißhäutig oder matronenhaft oder Siesta oder Mädchen und vieles andere ebenfalls.

Dennoch wurden viele Benennungen politisch korrekt umfrisiert. Deutsch gibt sich dafür um so williger her, als die beschönigende Umschreibung – der Euphemismus – hierzulande eine lange Tradition hat. Man denke nur an das Wort der Nazis für den staatlich-industriellen Massenmord, Endlösung. In diesem Verschönerungsstreben sind sich alle politischen Lager einig. Auf der einen Seite verbreiten der Verteidigungs-fall, die Verschlankung, die Freisetzung, der Kompressionsgriff oder der finale Rettungsschuß ihren harmlos-sachlichen Nimbus. Auf der anderen Seite nennen sich politisch radikale Chemiker kritische Chemiker (und degradieren so nebenbei die politisch weniger radikalen Kollegen zu unkritischen Subjekten), wenden sich Ausstellungen an bewußte und lesbische Frauen (denn bewußt bedeutet etwas anderes, als es zu bedeuten vorgibt). Auch die Autonomen laufen in sprachlicher Tarnkleidung herum. Was tun sie manchmal? Sie gehen auf die Straße. „Selbständige betreten die Straße“ – unverfänglicher geht es kaum. Das werden sie ja wohl noch dürfen! Das Milieu, in dessen Namen sie dieses Recht in Anspruch nehmen, heißt dann Gegenkultur.

Überhaupt möbelt jeder seine kleine Welt oder irgendeine ihm liebe oder unliebe Verhaltensweise gern zu einer ganzen eigenen Kultur auf, bis hin zu Horst Eberhard Richters Rivalitätskultur, in der vermutlich statt Versöhnungsarbeit oder Weltgebetstagsarbeit Rivalitätsarbeit geleistet wird (denn wo man an den Adel durch Arbeit glaubt, mußte Freuds Traumarbeit, gefolgt von Mitscherlichs Trauerarbeit und irgend jemandes Stolzarbeit und vieler anderer hochabstrakter Arbeit, auf fruchtbaren Boden fallen). Es ist nicht leicht, zu erkennen, welche Bedeutung das Wort Kultur in solchen Verbindungen noch hat. Der Kulturbegriff wurde dermaßen erweitert, daß sich sein Inhalt dabei erst verdünnte und dann völlig verdünnisierte. Eine Streitkultur ist allenfalls noch eine kultivierte Art des Streitens, die Wohnkultur eine geschmackvolle und teure Möblierung, die Eßkultur ein zivilisierter Umgang mit der Serviette – aber was wäre die Bierkultur? Worin gar besteht die Kultur der Verleumdungskultur? Kultur ist hier überhaupt kein Wort mit einer bestimmten Bedeutung, es ist eine bloße Markierung, die Beliebiges als ‘irgendwie gut’ ausweist oder, wenn nichts Bestimmtes, so doch zumindest das Sprachgebaren des Kulturfreunds.

In dieser schönen neuen Welt haben erst die Minderbemittelten, dann die Sozialschwachen die Armen abgedrängt. Sozialarbeiter sprechen auch nicht mehr von Bedürftigen, sondern von Kunden oder Klienten. Die Alten und erst recht die Greise wurden durch Senioren ersetzt. Selbst-verständlich tragen diese Senioren keine Perücke, sondern höchstens eine Zweitfrisur, ein Gebiß heißt die dritten Zähne, und Runzeln oder Falten, für die ein Ersatz nicht leicht zu finden ist, wurden wenigstens zu Fältchen verharmlost (wie wäre es mit *Lächel­spur?). Aus dem Eigenheim wurde die Residenz, aus dem Altersheim die Seniorenresidenz, aus dem Gewerbegebiet der Technologiepark, aus dem Rummelplatz der Vergnügungs- oder Freizeitpark, aus der Müllhalde der Entsorgungspark, und da offenbar nahezu alles zu einem Park umgewidmet werden kann, war das Schild Park und Reitplatz unausbleiblich. Der Bahnhof wird zum Mobilitätszentrum gemacht, und wenn die Toilette im Kasseler  Kulturbahnhof renoviert wird, wird sie unter dem Namen ReiseFrische wiedereröffnet. „Im Kulturmobilitätszentrum muß mal schnell auf die Reisefrische!“

Irre, Wahnsinnige, Verrückte gibt es nicht mehr; das Deutlichste heute sind Geistesgestörte, aber korrekter ist psychisch Kranker oder Psychiatriepatient, und ganz korrekt ist Person mit Psychiatrieerfahrung – womit erfolgreich kaschiert wäre, ob es sich um Psychiater oder ihre Patienten handelt. Die Reform der Krankenbehandlung (oder vielmehr ihrer Finanzierung) heißt Gesundheitsreform, als sollte die Gesundheit der Bevölkerung umgeschichtet werden. Daß es noch Krankenhäuser gibt, ist ein Wunder – aber Heilanstalt klänge wahrscheinlich zu psychiatrisch; anläßlich irgendeiner Gebühren-erhöhung oder Leistungs-einschränkung werden sie sich aber sicher noch in Gesundheitszentren umbenennen. Die Umbenennung des Leichen­ackers in Friedhof reicht weit zurück, bis ins Mittelalter, war damals aber nicht euphemistisch gemeint, sondern bedeutete schlicht ‘eingefriedeter, eingezäunter Raum’ – der ‘Friede’ darin war erst eine spätere (irrige) Volksetymologie. Kaum ein Wort hat im Laufe der Zeiten wohl so viele beschönigende Umschreibungen erfahren wie das Verb ‘sterben’.

Im Zuge sprachlicher Umgestaltung der Welt haben ersetzt: Sonderschulen die Hilfsschulen, (Justiz-)Vollzugsanstalten die Gefängnisse, Vollzugsbeamte die Gefängniswärter, Straftäter die Verbrecher (kein Wunder, daß soviel Zurückhaltung auf der anderen Seite einem besonders drastischen Wort zur Verbreitung verhilft, Knast), Rettungsmehrzweckstöcke die Gummiknüppel, Prozeßkostenhilfe das Armenrecht, Entsorger die Müllmänner und Straßenfeger (so wie im Englischen refuse collectors, ‘Abfallsammler’, die dustmen, ‘Staubmän­ner’), Alkoholkranke die Alkoholiker und Säufer, Drogenabhängige oder Suchtkranke die Rauschgiftsüchtigen, Berater die Verkäufer, Repräsentanten oder Referenten die Vertreter, Außendienstler die Reisenden, Gebäudereiniger die Fensterputzer, Restaurantfachleute die Kellner. Da mag auch die Wahrsagerin nicht zurückstehen und firmiert als AstroForce, und allerlei Partner machen sich anheischig, einem Rundum-Sorglos-Pakete anzudienen.

Die amerikanische pc-Sprache hatte es hier auch darum so leicht, weil sie sich nahtlos in die deutsche Betroffenheitssprache fügte – jenen schwammigen und vage wunden Stil, bei dem einige sprachliche Leuchtbojen auf einem Ozean stereotypisierter Gutwilligkeit schwimmen. Dort herrschen chronisch Betroffenheit alias Wut und Trauer alias (wenn gerade kein Schuldiger auszumachen ist) Bestürzung und Trauer, Steigerungsform fassungslose Betroffenheit. Dort bleibt man sensibel und verletzbar, was aber beileibe nicht dasselbe ist wie ‘leicht gekränkt’. Verletzlich wurde zu einem Kompliment; stolz erklärte sich eine Illustrierte selber zu Deutschlands verletzlichster (und erwies sich ein paar Wochen später als auf ganz unmetaphorische Weise verletzlich, als sie nämlich ihr Erscheinen einstellen mußte).

In diesen Zielgruppen läßt man sich ein auf alles, was wichtig ist und – Tribut an die aktuelle Fun-Kultur – erfreulicherweise manchmal sogar spannend. Dort geht man aufeinander zu, bringt sich ein in diverse Diskurse und Projekte (zum Beispiel ein Projektcafé mit Rollstuhltanz), sucht keine billige Wohnung, sondern bezahlbaren Wohnraum in einer bewohnbaren Stadt, lebt nicht, sondern überlebt grundsätzlich nur, als sei man unausgesetzt in Lebensgefahr (vielmehr: als werde einem von… ja, von wem?… von „der Gesellschaft“ böswilligerweise eine Existenz am Rande des Todes zugemutet), hat keinen Lebenslauf, sondern grundsätzlich eine Biographie, ohne daß irgend jemand je auch nur ein Wort davon aufschreiben muß. In dieser wehen Sprache hat man gewohnheitsmäßig Träume oder eine Utopie; wer psychotherapeutische Erfahrung sein eigen nennt, hat nicht etwa Phantasie, sondern eine Phantasie. Ich habe so eine Utopie, daß die Bäume immer grün bleiben. Denn die Utopie ist heute kein mehr oder weniger kompletter, jedenfalls mit System erdachter Gesellschaftsentwurf mehr, sondern irgendein Wunsch, der einem zufällig gerade durch den Kopf fährt. Der Vorteil dieser Wörter gegenüber anderen möglichen wie ‘Überlegungen’, ‘Wünsche’, ‘Forderungen’, ‘Hoffnung’, ‘Gesellschaftstheorie’ besteht darin, daß sie gleich das zartbittere Gefühl ausdrücken, aus dem Erwünschten werde sowieso nie etwas.

Alle naselang findet im Radio und überhaupt bei jeder öffentlichen Äußerung etwas statt, das Umgang heißt. Man geht mit seinem Schicksal um, seiner Vergangenheit, seiner Sensibilität, seinen Ängsten (die nur noch im Plural vorkommen), gar mit sich selbst als Person. Der Künstler geht mit Wahrnehmung um. Wie gehen Sie mit Ihrem Alter um? Mit einer solchen Katastrophe können sie noch nicht umgehen. Opfer sollten geschickter mit den Tätern umgehen. Wo alle mit etwas umgehen, dürfen die Seelsorger nicht fehlen, und so gehen die Kleriker offensiv mit dem Mitgliederschwund um. Schwer zu sagen, was dieses umgehen bedeutet, also welche Sinnstelle es in den Sätzen einnimmt, die es ziert. Man könnte sagen: keine – es sei das reine Nichts, eine Art und Weise, die Verbalphrase etwas länger und darum scheinbar gewichtiger zu gestalten, so wie in der Amtssprache zur Durchführung bringen die wichtigtuerisch aufgeplusterte Form von durchführen ist. Das trifft es fast, aber nicht ganz. Denn eine Restbedeutung haftet dem umgehen meist durchaus an: eine gewisse Distanzierung von der eigenen Person. Ich gehe mit meinen Ängsten um heißt nicht nur ‘ich habe Angst’, sondern ‘zwar habe ich Angst, aber gleichzeitig bin ich auch ein anderer, der den, der da Angst hat, kalt von außen betrachtet’. Umgehen heißt: sich wie einen Fremden managen; sich selber überlegen sein.

Die Vorzugsbeschäftigung des Betroffenheitskünders ist die Zeichensetzung, und wogegen er seine Zeichen (auch: Signale) setzt, ist unausweichlich irgendeine menschenverachtende Praxis. Menschenverachtend ist zu einer Art Kennwort geworden, einer gemeinschaftstiftenden Allzweckbeschimpfung dort, wo es zu faschistisch trotz aller Ausweitung dieses Begriffs nicht ganz langt, und dabei ist jede bestimmte Bedeutung verdunstet. Das stärkere Wort Misanthrop, ‘Menschenfeind’, ist dagegen nach wie vor eher ehrend; ein misanthropischer Spielplan steht einem Theater gut an, ein menschen-verachtender machte seinem Intendanten den Garaus. Überhaupt wächst dem bloßen Wort Mensch zuweilen ein eigenartig tränenfeuchtes Tremolo zu: in diesem von Menschen bewohnten Haus, das von Menschen mit leicht erhöhter weher Stimme gesprochen – die ganze Menschheit als wehleidige Opfergruppe.

Die Legierung dieser Sprache mit den Pendants etlicher amerikanischer pc-Wörter hat vielleicht auch in Deutschland dem öffentlichen Reden einen etwas freundlicheren Anstrich gegeben. Wie in Amerika hat sie aber auch eine Unsicherheit erzeugt, die jedenfalls den vermeintlich geschützten Gruppen wenig nützt: Darf man einen Türken noch einen Türken nennen? Darf man die ausländische Herkunft überhaupt noch erwähnen? Daß etwas getürkt sei, darf man jedenfalls nicht mehr sagen; der Journalist, der das Wort verwendet, wird prompt abgestraft – auch wenn bisher nicht einmal erwiesen ist, daß türken als neuere Kurzform von einen Türken bauen irgend etwas mit der Türkei zu tun hat. Daß Böhmen sich von böhmischen Dörfern und Bohemiens gekränkt fühlen, wurde bisher nicht kolportiert; aber sie könnten ja noch. Also sollen die Leute ruhig auch von polnischer Wirtschaft sprechen? Nein, das sollen sie nicht. Genau dazwischen liegt die Demarkationslinie. Polnische Wirtschaft ist eine despektierliche Meinungsäußerung über die Polen, besagend, daß bei denen alles drunter und drüber gehe. Die Redensart gehört in das Repertoire nationaler Stereotype, so wie spanischer Stolz oder schottischer Geiz oder gallischer Esprit. Das Verb türken hingegen bedeutet nicht, daß Türken getürkt seien oder sich besonders gut aufs Türken verstehen. Die böhmischen Dörfer stehen mit keinem realen Böhmen in erkennbarem Zusammenhang; man muß nachschlagen, was sie einmal besagen sollten („Die Wendung meinte ursprünglich die slawischen Namen vieler Dörfer in Böhmen, die den Deutschen in Böhmen fremdartig klangen und unverständlich waren“).

Hatte das Wort ‘Moslem’ etwas Beleidigendes? Wie angeblich ‘Mohammedaner’ beleidigend war, weil es den Glauben am Propheten und nicht an Gott festmachte? Oder warum drängt heute alles auf Muslim? Nein, ‘Moslem’ war keineswegs beleidigend, sondern eine leicht eingedeutschte Fassung desselben arabischen Wortes, das ‘der sich Gott Unterwerfende’ bedeutet und mit dem auch Islam, ‘Unterwerfung’, zusammenhängt. Aber ungewollt beleidigend ist nun der, der vor lauter Korrektheitsehrgeiz das ‘s’ in Muslim weich ausspricht – dann nämlich bedeutet das Wort ‘umnachtet’, ‘grausam’.

Auch lädt das politisch korrekte Sprechen zur Verlogenheit ein. Wer, wie von höchster Stelle empfohlen, nur noch Mitbürger türkischer Herkunft sagt (Mitbürgerin und Mitbürger natürlich), denkt doch weiter Türke, denn im laufenden inneren Monolog macht man normalerweise keine Umstände, und alle wissen, daß er es weiter denkt, und er weiß, daß alle es wissen.

Wie das politically correct Englisch erkauft das politisch korrekte Deutsch die relative Verfreundlichung des Alltags mit einem starken Verlust an Konkretheit, an Deutlichkeit. Es ist eine diplomatische, bläßliche, verwaschene Sprache. Wenn einem jemand mit bedeutungsvollem Augenaufschlag anvertraut, ich habe endlich gelernt, mit mir selber als Person umzugehen, wird man sich vergeblich fragen, was er denn konkret gelernt hat, denkt sich aber natürlich sein Teil. Wer mit seiner Betroffenheit umgeht, indem er ein Zeichen setzt und etwas bewegt – was tut der eigentlich? Jeder darf sich alles darunter vorstellen, oder auch nichts. Wörter und Wendungen, die einmal starke Gefühlsbewegungen ausdrücken sollten, erstarren zu Formeln, die oft nur noch dem Ausweis der richtigen Gesinnung dienen und die Gefühlsbewegung selber Lügen strafen. Denn floskelhafter Gefühlsausdruck weckt den Verdacht, daß dahinter auch nur floskelhafte Gefühle stehen.

Die ganze Verlegenheit des Vorhabens zeigt sich an der Ersetzung von primitiv durch einfach strukturiert. Ursprünglich einmal war primitiv ein unschuldiges Wort: eine adjektivische Ableitung von lateinisch primus, ‘erster’, über das Französische mit der Bedeutung ‘ursprungsnah’ ins Deutsche gelangt. So sprach man von ‘primitiven Kulturen’ und meinte schlicht Kulturen vor der Überwältigung durch die westliche Zivilisation. Aber anders als vielen anderen Wörtern, die dennoch politisch korrigiert wurden, wuchs dem Adjektiv primitiv unübersehbar eine eindeutig schmähende Bedeutung zu: ‘roh’, ‘geistig unterentwickelt’. Schon vor Jahrzehnten empfahl der ‘Duden’ darum, statt von primitiven Völkern lieber von Naturvölkern zu sprechen. Diese Bezeichnung, die einen Gegensatz zwischen Natur- und Kulturvölkern zu postulieren und damit den sogenannten Naturvölkern ungerechterweise jede Kultur abzusprechen scheint, geriet wohl nur darum nicht auch ihrerseits in Verruf, weil man sich schließlich nicht jede Bezeichnung des Unterschieds rücksichtsvoll verbieten kann. Aber auch einzelnen möchte man natürlich gern ersparen, primitiv genannt zu werden.

 Das Dumme ist nur, daß intellektuell und emotional relativ unter-entwickelte Menschen keine bloße Erfindung jener sind, denen daran gelegen ist, sie sprachlich oder sonstwie zu stigmatisieren. Unerfreulicherweise gibt es sie tatsächlich, und die Beseitigung der hergebrachten Bezeichnung ändert daran nichts. Die schlichte Denkungsart läßt sich nicht einmal immer ignorieren. Vor Gerichten und Sozialgerichten kann es notwendig werden, sie ins Spiel zu bringen, nicht um die betreffenden Menschen zu diffamieren und zu diskriminieren, sondern im Gegenteil, um sie zu entlasten. Früher hätten sich Gutachter nicht geniert, solche Menschen primitiv zu nennen. Da das zum Schimpfwort wurde, kann es in einem amtlichen Schriftstück selbstverständlich nicht mehr erscheinen. Aber wie läßt sich der gleiche Sachverhalt anders ausdrücken? Wie kann man etwas sagen, ohne es zu sagen? Heute ist der Euphemismus einfach strukturiert im Schwange: A., der seine Frau täglich verprügelte, ist ein einfach strukturierter Mensch. So wäre das anstößige Wort erfolgreich umgangen, und die Umschreibenden können sich ihres sozialen Zartgefühls erfreuen.

 Dennoch weiß natürlich jeder auf der Stelle, was gemeint ist: daß A. ein dummer, roher, brutaler, kurz ein primitiver Kerl ist. Es ist nur eine Frage der Zeit, und einfach strukturiert hat primitiv in jeder Beziehung beerbt; höchstens, daß seine Umständlichkeit seine Verwendbarkeit einschränkt. Was also ist gewonnen? Der unerfreuliche Tatbestand besteht unverändert weiter, er wird auch unverändert beim Namen genannt, nur einem anderen. Sollte das Wort primitiv den Primitivling gekränkt haben, so kränkt das Wort einfach strukturiert den Einfachstrukturierten ebenso. Die Hoffnung, die den Wortaustausch inspirierte, scheint lediglich die zu sein, daß er nun nicht mehr genau versteht, was da so höflich verklausuliert über ihn gesagt wird.

Während politische Korrektheit im Fall Afroamerikaner einen begrüßenswerten Zuwachs an sprachlicher Genauigkeit brachte, hat die Tabuisierung des Worts Zigeuner die betreffende Bevölkerungsgruppe praktisch der Nennbarkeit entzogen, zumindest im Singular. Seit 1979 bestehen einige ihrer Vertreter – nur in Deutschland – darauf, daß Zigeuner durch Roma und Sinti ersetzt werden müßte. Ein Einzelner aber kann nicht Roma ‘und’ Sinti sein, nur ‘oder’. Wie aber soll ein Außenstehender wissen, ob er es mit einem aus der Gruppe der (seit Generationen in Deutschland ansässigen und auch Cinti geschriebenen) Sinti oder aus der der (meist in diesem Jahrhundert aus dem Balkan zugewanderten) Roma zu tun hat? Er weiß es in der Regel nicht. Zudem weiß fast niemand, ob die beiden Namen Plural oder Singular sind, also ob man „ein Sinti“ überhaupt sagen kann. (Man kann es nicht, es heißt „ein Sinto“ und „ein Rom“.) Und sind es auch Feminina? (Sie sind es nicht; die weiblichen Formen lauten „Romni“ und „Sintiza“.) Schließlich fühlen sich andere Gruppen des gleichen Volkes, die weder Roma noch Sinti sind, von der scheinkorrekten Bezeichnung ausgegrenzt – und die Furcht vor bewußten oder unbewußten Ausgrenzungen ist doch gerade eine der Triebkräfte hinter der politisch korrekten Sprachrevision.

Was aber sprach denn gegen Zigeuner? Angeblich, daß das Wort „jahrhundertelang zur Stigmatisierung gebraucht wurde“. Nur zu wahr, daß die, die früher Zigeuner hießen, jahrhundertelang geringgeachtet und dann in Deutschland nicht nur stigmatisiert, sondern in unbekannt großer Zahl ermordet wurden. Aber das Wort als solches war nicht pejorativ. Es bedeutet keinesfalls „Ziehgauner“ und wurde auch nicht so verstanden. Die Volksetymologien, die das Grimmsche Wörterbuch verzeichnet, besagen alle nur soviel wie „Zieh einher“, in Anspielung auf die fahrende Lebensweise. Auch die Ableitung zigeunern bedeutet nur ‘unstet umherwandern’. Daß manchen Seßhaften die unstete Lebensweise selbst unsympathisch ist, liegt nicht an den Worten für sie, kann also auch nicht durch einen Wortaustausch behoben werden.

Auch die Volksetymologien, die Zigeuner von ‘umherziehen’ ableiten, sind wie so viele andere natürlich falsch. Secanen nannten sich selber die Nachkommen jener nordwestindischen Volksgruppe, die, seit sechshundert Jahren auf der Flucht, um 1500 in Mitteleuropa eintrafen. Andere bezeichneten sie irrtümlich als Egypter – ein Name, der schließlich das englische gypsy, das spanische gitano, das französische gitan ergab. Den Namen Secanen hatten sie vom Balkan mitgebracht. Das gleiche Wort (phonetisch ‘tsigan’) bürgerte sich in vielen osteuropäischen Sprachen ein, aber auch im Französischen (tzigane) und Portugiesischen (cigano). Jedesmal paßte es sich dabei den Laut- und Schreibregeln der Landessprache an; im Deutschen gab es schon sehr bald Zigeuner her. Woher ‘tsigan’ stammte und was es bedeutete, ist dunkel. Die gängigste Erklärung leitet es aus dem byzantinischen Griechisch ab: athínganoi oder dann tsínganoi wurden die unberührbaren Anhänger einer phrygischen Ketzersekte genannt, und mutmaßlich wurde das Wort von ihr auf die rätselhaften Islam-Flüchtlinge aus Kleinasien übertragen. Es war jedenfalls kein Schmähwort. Seine Abschaffung macht frühere Schmähungen nicht ungeschehen und verhindert keine für die Zukunft.

Da manchen ehemaligen Zigeunern das Wort aber einfach nicht mehr zu gefallen scheint, spräche natürlich nichts gegen eine Umbenennung. Es müßten nur zwei Bedingungen erfüllt sein. Erstens müßte es sich um eine Bezeichnung handeln, die alle Angehörigen für sich akzeptierten, also eine echte und umfassende Eigenbezeichnung, egal ob sie aus der Geschichte geschöpft oder künstlich neu gebildet wird. Zweitens müßte es ein Wort sein, dessen grammatischer Status – Genus, Numerus – durchsichtig ist, so daß es sich in verschiedenen Zielsprachen frei verwenden ließe. Solange ein solches Wort aussteht, kann auf Zigeuner und seine Entsprechungen in den anderen europäischen Sprachen nicht verzichtet werden.

Es ist ein großes Glück, daß die Juden das Selbstbewußtsein hatten, keine politisch korrekte Umbenennung zu wünschen, die in ihrem Fall nur in einer akkuraten und erschöpfenden Definition hätte bestehen können. Deren Länge hätte wahrscheinlich auch sie zu Unnennbaren gemacht. Statt dessen wollten sie einfach weiter Juden sein – obwohl sie viel mehr noch als die Zigeuner mit dem Wort stigmatisiert worden waren. Aber offenbar war ihnen klar, daß das nicht im mindesten die Schuld des Wortes, sondern die der Antisemiten war und sie unter jeder beliebigen anderen Bezeichnung ebenso stigmatisiert worden wären.

Es besteht die Tendenz, die Fremd- den Eigenbezeichnungen anzugleichen. Wer das richtig findet, erklärt sie zu einem Prinzip aller Sprachmodernisierung. Ich selber finde sie richtig, meine aber, daß sie wie jedes für die Praxis bestimmte Prinzip nicht verabsolutiert werden darf. Ein Katalane nennt sich selber nicht Spanier, sondern Katalane; ein Baske Baske; jede Gruppe, die mehr oder weniger widerwillig einem größeren Ganzen angehört, wird sich nicht gern von dem Namen für dieses größere Ganze mitmeinen lassen. Trotzdem ist eine Bezeichnung für den Angehörigen des größeren ganzen unverzichtbar, in diesem Fall eine mit der Bedeutung „Bürger des Staates Spanien“. Es wäre unpraktikabel, in solchen Fällen die Fremd- der Eigenbezeichnung anzugleichen. Im Falle Moslem/Muslim geht die Forderung im Grunde noch weiter: die Fremdbezeichnung sollte auch genau ausgesprochen werden wie die Eigenbezeichnung. Das muß an den Grenzen der Sprachkenntnisse und der menschlichen Zungenfertigkeit so jämmerlich scheitern, daß es besser gar nicht versucht wird. Wer weiß, wie Breslauer oder Mailänder oder Puertoricaner in ihren Landessprachen heißen? Wer wüßte sie auch richtig auszusprechen? Und was gar, wenn die betreffende Gruppe sich gar nicht einig ist, wie ihre Eigenbezeichnung lauten sollte, wie im Fall der Roma und Sinti? So wird das „Prinzip“ nie mehr sein können als eine Daumenregel, manchmal anwendbar, manchmal nicht.

Es gibt erste Anzeichen dafür, daß das politisch korrekte Sprechen auch auf Tiere ausgedehnt werden soll. Schon war in einer Rundfunk-sendung von der sogenannten Aggressivität der Eisbären die Rede. Die Implikation war natürlich, daß Eisbären nicht wirklich aggressiv sind, daß nur der Mensch sie mit einem solchen Attribut belegt, stigmatisiert. So fängt es an. Ein harmloses, aber unliebsames Wort wird in ironisierende Anführungszeichen gesteckt oder mit einem distanzierenden „sogenannt“ versehen. Der nächste Schritt ist dann der, es durch ein anderes zu ersetzen, das der unerwünschten Bedeutung angestrengt entgegenwirkt: *Friedbär böte sich an, oder bei der deutschen Vorliebe für internationale Wortstummel auf -i und -o vielleicht *PaziTeddy. Sollte das Schule machen, werden wir irgendwann den Esel in ein andersbefähigtes Grautier und das Schwein in ein sauberkeitsmäßig herausgefordertes Borstentier umgetauft wiederfinden.  

 

Feministischer Druck hat dem Deutschen eine Reihe von Änderungen beschert, einige willkommen, andere schwer zu verkraften. Es sind die Änderungen, hinter denen die artikuliertesten Interessen stehen und die die weitaus tiefsten Eingriffe in die Sprache mit sich bringen – nicht nur den Austausch einzelner Wörter, sondern die Abänderung einiger sprachlicher Regeln. Pauschale Beifallsbekundungen oder Verdammungen helfen hier überhaupt nicht weiter. Die einzelnen Neuerungen wollen differenziert betrachtet sein.

Bei der Anrede muß heute erfreulicherweise nicht mehr zwischen Frau und Fräulein gewählt werden – Frau ist immer richtig, sogar offiziell. Es mußte der Sprache damit keine Gewalt angetan werden; es reichte, aus der Bedeutung des Wortes Frau stillschweigend den Hinweis auf den Zivilstand zu streichen. Das Fräulein war schon darum ein Beleg für sexistische Asymmetrie, weil das Gegenstück dazu fehlte, das Männlein, anders als zum Beispiel im Spanischen, wo es neben der señorita den señorito gibt.

Begrüßenswert und gänzlich unproblematisch ist auch, daß – zum Beispiel in der Sportberichterstattung – immer öfter der nackte Nachname gebraucht wird, wenn von Frauen die Rede ist: Huber wie Becker, Graf wie Stich. Nicht nur, daß Frauen auf diese Weise genau wie Männer behandelt werden. Vor allem verschwindet damit die zudringliche und verkindlichende Vertraulichkeit des Vornamens, und es verschwindet das gräßliche die der Diven (die Duse, die Callas), das so vornehm wie ordinär war, ließ es doch immer auch an den Klatsch auf Berliner Hinterhöfen denken („die Schlatzke hat doch heute den Müll danebengekippt“).

Wo weibliche Titel und Berufsbezeichnungen fehlten, mußten solche kreiert werden. Meist war das problemlos möglich; eine große Zahl maskuliner Substantive ließ die Movierung schon immer zu (Bauer/Bäuerin und analog Ingenieur /Ingenieurin, obwohl Ingenieuse auch denkbar gewesen wäre). In anderen Fällen reichte ein einfacher Tausch von ‘-mann’ gegen ‘-frau’ (Kauf­frau). Allerdings hatte schon Luther ‘Mann’ selbst moviert: „Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin heißen, darum daß sie vom Manne genommen ist.“ Auf diese Weise wurde früh zum Landsmann eine Landsmännin, zum Schiedsmann eine Schiedsmännin gebildet. Solche Movierungen auch dort vorzunehmen, wo sie aus irgendeinem Grunde fehlten, war nur recht und billig. Es gibt keinen Grund, warum sich eine Notarin als Notar anreden lassen sollte. Wenn ein Schulleiter heute eine Lehrerin immer noch als Kollege oder Lehrer tituliert, ist er wahrscheinlich wirklich Sexist.

Dennoch gerät man schon bei den Titeln in eine sprachliche Problemzone. Die Einführung femininer Formen dort, wo es vorher nur das Maskulin gab, macht Frauen in der Tat so sichtbar, wie es die feministischen Sprachreformerinnen fordern. Es schafft aber sozusagen auch einen Überschuß an Sichtbarkeit, der geradezu frauenfeindlich wirken kann: Dieses Amt wird von einer Frau ausgeübt, seht her und wundert euch! Obwohl sie eine Frau ist, hat sie die Doktorprüfung bestanden! Darum ist auch nach Jahrzehnten des Zweifels nicht entschieden, ob es nun Frau Präsidentin, Frau Ministerin, Frau Staatssekretärin, Frau Professorin, Frau Doktorin heißen soll. Auch viele Trägerinnen dieser Titel sind nicht dafür zu haben. Es könnte ja so wirken, als beanspruchten sie in ihrer Tätigkeit, was sie keineswegs wollen, einen Weiblichkeitsbonus.

Unter den wenigen, die die Sprache nicht nur benutzen, sondern gelegentlich über sie nachdenken, ist nicht selten die Meinung anzutreffen, man komme über die Etymologie an die wahrere Bedeutung der Wörter heran. Dann schreibt man bedeutungsschwer ‘Ver-zweiflung’ oder ‘Zwei-fel’, im Glauben, so im Rückblick auf die Wortgeschichte bewiesen zu haben, daß das wahre Wesen der Verzweiflung im Zweifeln bestehe und das wahre Wesen des Zweifels in der Ungewißheit angesichts einer zweifachen Möglichkeit – so daß Verzweiflung letztlich nichts anderes als Gespaltenheit sei (was sie natürlich nicht ist). Es ist prätentiöser Nonsens. Wer die Bedeutung eines abstrakten Wortes lernt, lernt sie nicht aus der Wortgeschichte; er lernt, in welchen Zusammenhängen das Wort aktuell gebraucht wird und welche Sinnstelle dieses Zusammenhangs es vertritt. Die Wortgeschichte ist aus dem Bewußtsein der Sprecher meist völlig verschwunden, und wo sie noch durchschimmert, versieht sie die aktuelle Bedeutung höchstens mit einem gewissen Assoziationshof, nicht aber mit ihrem wahren Kern. Überhaupt stehen die Wörter in keinem tieferen inneren Zusammenhang mit den Sachen, die sie meinen, abgesehen von den wenigen lautmalerischen, von ‘Kikeriki’ bis ‘Donnergrollen’. Sie sind willkürliche Marken, die den Begriffen nach rein linguistischen Regeln angeheftet werden. Es fügt der aktuellen Bedeutung eines Worts wie ‘Bereitschaft’ nichts hinzu und nimmt ihr nichts weg, daß darin ‘reiten’ (im Sinne von ‘sich fortwegen’) steckt und ‘bereit’ irgendwann einmal die Reisefertigkeit ausdrückte. Wer aus einem Wort wie ‘fertig’ seinen Ursprung heraushört, nämlich ‘fährtig’ im Sinne von fahrbereit, kommt seinem aktuellen Sinn kein Stück näher. Und daß ‘bereit’ und ‘fertig’ etymologisch einmal bedeutungsgleich waren, ändert nichts daran, daß sie es heute nicht mehr sind; es demonstriert nur, daß die Wege der Sprache krumm und unberechenbar sind. Ein ‘Patient’ ist jemand, der von einem Arzt behandelt wird; daß das Wort ursprünglich ‘Dulder’ bedeutete, ist nicht mehr als eine hübsche sprachgeschichtliche Arabeske. Ein Standardargument für die Richtigkeit einer ‘radikalen’ Gesinnung lautet: ‘radikal’, das komme von radix, Wurzel – und daraus ersehe man ja, daß eine radikale Gesinnung eine sei, die nicht nur am Symptom kuriere, sondern an die Wurzel des Übels gehe. Die Etymologie scheint das Wort zu adeln. Aber natürlich garantiert sie nicht im geringsten, daß die betreffende Gesinnung irgendeine Wurzel richtig identifiziert hat. 

Hier und da hat sich auch die feministische Sprachkorrektur auf die Etymologie verlegt. Sie horcht die Wörter darauf ab, ob in ihnen nicht ein historischer Rest mitklingt, der den Frauen einmal abträglich war. Von hier ist es nur ein Schritt zu den unsinnigen Bemühungen, gegen unsinnige Etymologien einzuschreiten. Amerikanische Feministinnen wollten den man aus woman (etymologisch soviel wie ‘Weibmensch’) vertreiben, indem sie sie zu womyn machten – als bedeutete woman seiner Herkunft wegen heute irgendetwas anderes als ‘Frau’. Wenn sie sich an dem his (‘sein’) in history störten und statt dessen herstory (‘ihre Story’) vorschlugen, so hatten sie überdies eine völlig falsche Etymologie am Wickel. In Deutschland führte die gleiche naive Androphobie zu Vorschlägen wie Efrauzipation oder verschwestern (für versöhnen, das aber nicht von ‘Sohn’, sondern von ‘Sühne’ kommt).

Man könnte meinen, solche Korrekturvorschläge seien von männlichen Chauvinisten erfunden worden, um den Feminismus lächerlich zu machen. Sie sind es aber nicht. Seine Lächerlichkeit tötet ein neues Wort auch nicht. Verschwesterung und Efrauzipation zwar haben sich bisher nicht durchgesetzt. Aber nicht irgend jemand, sondern eine Staatsministerin (von Rheinland-Pfalz in diesem Fall) übernimmt offiziell und feierlich die Schirmfrauschaft über eine Ausstellung. Die Logik dahinter kann nur gelautet haben: Jede Silbe, die irgendwie, zu Recht oder zu Unrecht, an Männer erinnern könnte, ist anstößig, wird ausgemerzt und durch ‘Frau’ ersetzt. Sie ist nicht einmal bis zur Analyse des ganzen Wortes vorgedrungen und schon gar nicht zu dessen Etymologie. Das Wort heißt ‘Herrschaft’ (übri­gens ‘die’), und eine Herrschaft ist keine Herrenriege, nicht das Pendant zur ‘Frauenschaft’ der Nazis, sondern der Akt des Herrschens. Auch Frauen können und konnten herrschen; sie können sich auch beherrschen oder andere anherrschen. Nach der Logik der Ministerin müßte damit Schluß sein: Das Verbum ‘herrschen’ dürfte nur noch gebraucht werden, wenn das dazugehörige Subjekt maskulin ist; ist es feminin, so wäre… nun ja, *‘frauschen’ oder *‘damschen’ zu verwenden. Das wäre dann der kuriose einzige Fall, in dem ein und derselben Tätigkeit zwei verschiedene geschlechtsspezifische Tätigkeitswörter zuzuordnen wären. ‘Herr­schen’ bedeutete und bedeutet mitnichten so etwas wie ‘dem Mann unterwerfen’. Etymologisch hängt die Wurzel von ‘herrschen’ vielmehr mit ‘hehr’ zusammen. Beides geht auf eine altgermanische Form zurück, die soviel wie ‘grau(haarig), alt, ehrwürdig’ bedeutete. ‘Herr’ und ‘Herrin’ sind ‘verehrte Ältere’. Die Verwandlung der Schirmherrschaft in eine Schirmfrauschaft war eine Exorzierung der Grauhaarigkeit.        

Hält man sie unter die etymologische Lupe, so entdeckt man allerdings in vielen Wörtern männliche Formen, sogar und gerade in manchen Funktionswörtern, die mit ihrer Bedeutung kaum nach außen verweisen, sondern nur die syntaktischen Beziehungen zwischen den Inhaltswörtern eines Satzes klarstellen und damit so tief im Gefüge der Sprache verankert sind, daß sie sich praktisch jeder Reformierbarkeit entziehen. Sie lassen sich, anders als Inhaltswörter, kaum austauschen; an ihnen etwas zu verändern wäre so schwer wie ein Umschreiben der Grammatik.

Das Fragepronomen wer fragt nach Männern wie Frauen, obwohl ‘er’ in ihm steckt; die analoge weibliche Form müßte etwa ‘wihr’ lauten, existiert aber nicht. Obwohl in jemand wie in niemand etymologisch ein ‘Mann’ steckt, meinen sie immer auch Frauen; das noch durchsichtigere jedermann tut es ebenfalls. Sogar Mensch wäre unter etymologischem Gesichtswinkel zu beanstanden, denn das Wort bedeutete einmal nichts anderes als ‘der Männische’. Gleichwohl meint es längst jedes Wesen der Gattung Homo, und dem allgemeinen Sprachbewußtsein ist die Etymologie völlig entfallen. Sollte feministischer Reformsinn sie ausgraben, müßte ihm eigentlich eine ‘Weibsche’ an die Seite gestellt werden. Wohlweislich ist es bisher unterblieben – nicht nur, weil es die Frauen lächerlich machte, sondern weil ein Wort, das ohne Rücksicht auf das Geschlecht die gesamte Gattung meint, unentbehrlich ist. Als ein Relikt patriarchalischer Verhältnisse sind in vielen Sprachen die Wörter für ‘Mann’ und ‘Mensch’ identisch. Rom in der Sprache der einst Zigeuner genannten Volksgruppen ist solch ein Fall, das französische homme ist es wie die anderen Abkömmlinge des lateinischen homo. Auch Englisch hat für beides nur ein Wort, man, und muß sich heute mit human abmühen, um ihm eine politisch korrekte geschlechtsindifferente Sammelbezeichnung gegenüberstellen zu können. (Wer auch in human einen Mann entdeckte, läge indessen falsch, denn das Wort ist eine Adjektivbildung zu lateinisch humus, Erdboden.) Mit zwei verschiedenen Wörtern für das Gattungswesen und die Angehörigen des männlichen Geschlechts ist Deutsch also sogar eine ungewöhnlich unsexistische Sprache.

Dennoch wurde auch ein deutsches Funktionswort zum Ziel feministischer Sprachkritik: das Pronomen man. Aus einer Zeit stammend, als bei Menschen zuerst an Männer gedacht wurde, ist es, wie sein französisches Gegenstück on (von homme), tatsächlich sexistischen Ursprungs. Jedoch bedeutete es von Anfang an nicht ‘Männer’, sondern ‘irgendein Mensch’ oder ‘Leute’. Der Sprachgebrauch überschrieb sozusagen die Etymologie und setzte eine Konvention eigener Kraft an ihre Stelle. Als aber Mißtrauen wach wurde und befand, es grenze die Frauen aus, wurde dem man ein frau beigesellt. Eigentlich ist nichts dagegen zu sagen. Es ist nicht besonders lang und umständlich, es vergewaltigt die Regeln der Wortbildung und Orthographie nicht, und es stellt sprachlich Gerechtigkeit her. Dennoch ist es in den etwa zwanzig Jahren seiner Existenz, also in nahezu einer Generation nicht durchgedrungen, und wahrscheinlich wird es das nie. Wenn es ihm nicht gelingt, über die Sondersprache der Feministinnen hinauszudringen und Bestandteil der Allgemeinsprache zu werden, so dürfte das weniger an der Renitenz der Männer als daran liegen, daß frau, um wirklich notwendig zu erscheinen, den Bedeutungsumfang von man reduzieren müßte: Man dürfte dann nur noch ‘Männer’ bedeuten. Wenn aber man nur noch ‘Männer’ bedeutete, gäbe es kein geschlechtsneutrales Kollektivpronomen mehr. Das aber wäre nur dann entbehrlich, wenn das Gruppendenken auf ganzer Linie triumphierte und es keine Menschen mehr, sondern nur noch Frauen und Männer ohne verbindende Gemeinsamkeiten gäbe. In diesem Fall freilich wäre kein Halten mehr. Dann würden frau und man beim Buchstaben genommen, und man sähe, daß die Paarformel Kinder ausgrenzt. Und sobald die Dreierformel man, frau und kind diese Ungerechtigkeit behoben hätte, kämen die Senioren und fühlten sich ausgegrenzt. Und dann könnte jede Gruppe verlangen, ausdrücklich mit aufgeführt zu werden. Es heißt, in Amerika verliefen manche gemeinsamen Aktionen der Opfergruppen auch darum mühsam, weil die Logik, nach der eine nicht ausdrücklich mitgenannte Gruppe ausgegrenzt ist, erschöpfende Aufzählungen nötig macht und immer die Gefahr besteht, daß jemand vergessen wurde.  

Der naive Etymologietest zusammen mit dem anderen, folgenreichen sprachreformerischen Aberglauben, daß Gruppen, die in einem Sammelbegriff nicht ausdrücklich genannt werden, damit ausgegrenzt, marginalisiert, stigmatisiert, unsichtbar gemacht werden, führte unter anderem zur Ersetzung der Brüderlichkeit durch die Geschwisterlichkeit. (Konfrontiert mit dem Vorschlag, Brüderlichkeit durch Menschlichkeit zu ersetzen, die schließlich bereits etwas ganz anderes bedeutet, hatte ich die Geschwisterlichkeit in meinem Buch Redens Arten 1986 selber erfunden, nicht ahnend, daß jemand einen ironischen Vorschlag beim Wort nehmen würde.) Brüderlichkeit, von J. H. Campe zur Verdeutschung von fraternité geprägt: das war indessen eine Eigenschaft, die niemals nur Brüdern und damit Männern vorbehalten war. Sie war etwas durchaus Geschlechtsunspezifisches, das gleiche wie die (jüngere) Solidarität (die wörtlich etwa soviel wie ‘Gesamt­heitlichkeit’ bedeutet). Etymologisch war sie eine bloße Metapher: Geht miteinander um wie Brüder – nicht wie nur Brüder miteinander umgehen oder wie alle Brüder miteinander umgehen, sondern wie zum Beispiel Brüder im seltenen Idealfall miteinander umgehen, fürsorglich. Daß Frauen zu diesem Verhalten unfähig seien, sagte das Wort so wenig, wie es Väter und Söhne und sonstige Verwandtschaftsgrade und alle anderen Nicht-Brüder ausgrenzte. Die Abschaffung dieser Metapher ist also die pure Androphobie: Männliches Verhalten soll nie etwas Vorbildliches haben können. Mit ähnlicher Logik wären das Vaterhaus und das Vaterland, aber auch die Muttersprache und der Mutterboden oder die Tochterfirma zu kassieren. Und jetzt? Wird geselligen Zechern die Verschwisterung abverlangt? Soll die Sprachkorrektur, um dem falschen Bewußtsein kein Einfallstor zu bieten, auch rückwirkend gelten? Geschwister, zur Sonne, zur Freiheit? Alle Menschen werden Geschwister?

Solches aber sind Bagatellen, verglichen mit dem einen großen Problemfall, den die feministischen Wünsche nach Sichtbarmachung der Frauen der Sprache beschert haben: den generisch – das heißt als Gattungsbezeichnungen – gebrauchten Substantiven. Mitbürger – grammatisch ist das ein Maskulinum. Kann und soll es Frauen „mitmeinen“? Grenzt es sie aus?

Das Problem besteht nur im Plural. Wenn von individuellen Frauen die Rede ist, versteht es sich von selbst, daß grammatisch feminine Formen benutzt werden, wo immer sie vorhanden sind oder ohne Krampf gebildet werden können. Alles andere wäre tatsächlich beleidigend. Eine einzelne Frau muß sich nicht als lieber Mitbürger anreden lassen. In einigen Fällen allerdings gibt es keine geschlechtsspezifischen Formen. Mitglied oder Kind als Neutra machen beide Geschlechter gleich unsichtbar und scheinen darum wahrscheinlich allseits akzeptabel. Gast dagegen gibt es bisher nur als Maskulinum. Wer sich daran stieße, brauchte es nur zu movieren; sollte die Gästin einem allgemeinen Bedürfnis entgegenkommen, wird sie sich ohne weitere Folgen für das Sprachsystem, also ohne die Änderung irgendeiner Regel durchsetzen.

Nicht alle Plurale sind problematisch. Wo von Gruppen die Rede ist, zu denen Frauen und Männer gehören, müssen natürlich beide Geschlechter genannt werden, sofern die Geschlechtszugehörigkeit von irgendeinem Interesse ist: Seit dem Beginn der Koedukation hat diese Schule Schülerinnen und Schüler – kein Geschlecht kann in solchen Sätzen das andere mitmeinen, und wer eines wegließe, hätte nicht so sehr gegen die sprachliche Gleichstellung der Geschlechter verstoßen als einen mißverständlichen und darum schlechten Satz gebildet.

Aber was, wenn sich der Plural auf eine Menschengruppe bezieht, deren Geschlechtszugehörigkeit in diesem Zusammenhang völlig gleichgültig ist? Für Sammelbezeichnungen einzelner Personengruppen, bei denen die Geschlechtszugehörigkeit so wenig interessiert wie andere Merkmale (Alter, Größe, Haarfarbe, Gesundheitszustand und so weiter), galt von altersher eine einfache linguistische Regel. Sie lautete: Man nehme die Grundform. Aus sprachhistorischen Gründen ist diese Form meist von maskulinem grammatischem Geschlecht; weibliche Formen wurden aus ihr abgeleitet und sind daher die längeren.

Die allgemeine Übereinkunft lautete also: generisch gebrauchte Substantive meinen beide Geschlechter, unabhängig von ihrem grammatischen Geschlecht. Niemals war in der Sprachgemeinschaft irgendein Zweifel daran aufgekommen, daß der Bürgersteig auch für Frauen da ist, daß ein Personenzug auch Männer befördert, daß ein Führerschein auch für Frauen gilt, daß ein Geiselnehmer auch Männer als Geiseln nimmt, daß Kundenwünsche auch zählen, wenn sie von Frauen vorgetragen werden, daß in einem Nichtraucherabteil auch Frauen nicht rauchen sollen. Es war selbstverständlich, daß zwischen natürlichem und grammatischem Geschlecht nur ein lockerer und oft gar kein erkennbarer Zusammenhang besteht. Auch Hündinnen sind selbstverständlich Hunde, so wie auch Kater Katzen sind; in beiden Fällen ist das jeweils andere Geschlecht im Sammelbegriff stillschweigend mitgemeint. Die Sonne ist so wenig eine Frau, wie der Mond ein Mann ist, auch wenn Mythologisierungen bisweilen von dem zufälligen grammatischen Geschlecht in der jeweiligen Sprache ausgingen; in den romanischen Sprachen war das Verhältnis genau umgekehrt, der Sonn und die Mondin. Die Frau ist Femininum, das Weib und das Mädchen aber nicht, und ihrer Weiblichkeit tut es keinen Abbruch. Auch eine männliche Führungskraft mußte sich mit dem Femininum abfinden, denn zwar sind die meisten Grundformen maskulin, aber keineswegs alle: Geiseln, Seelen, Personen, Persönlichkeiten, Koryphäen, Autoritäten, Kapazitäten, Fach-, Führungs- und Servicekräfte sind Feminina, von denen sich gleichwohl nie ein Mann ausgegrenzt gefühlt hat. Es handelt sich um linguistische Zufälle, die nichts Herabsetzendes hatten.

Das  Problem kam erst auf, als sich eine naive Gleichsetzung von natürlichem und grammatischem Geschlecht mit einer geschärften Ausgrenzungsfurcht kreuzte. In dem Augenblick, als Sprachrefor-merinnen zu dem Schluß kamen, die grammatisch maskulinen Formen schlössen böswillig oder gedankenlos die Frauen aus, war die alte Übereinkunft aufgekündigt. Von der Stunde an schossen die Paarformeln ins Kraut: Bürgerinnen und Bürger, Studentinnen und Studenten… Keine Politikerin und kein Politiker kann heute auf sie verzichten. Er und sie stünden sofort als SexistIn da. Die universalistische Geschlechts-neutralität der alten generischen Substantive befriedigt das Denken in Opfergruppen nicht mehr.

Daß die männliche Form die Grundform ist und die weibliche aus ihr abgeleitet wird wie nach biblischer Überlieferung Eva aus Adam, ist zweifellos ein Souvenir aus Zeiten, in denen Männer sich für das primäre Geschlecht hielten, ein sexistisches Relikt. Auch ist zwar das grammatische Geschlecht im allgemeinen Bewußtsein nicht mit dem natürlichen identisch, aber schwach schlägt es dennoch durch: Zu Sätzen wie Diese Universität hat zehntausend Studenten assoziieren viele wahrscheinlich zunächst männliche Studierende. Es ist also nicht abzustreiten, daß die alte Übereinkunft Männer bevorzugte. Solche Ungerechtigkeiten lassen sich jedoch nur sehr schwer rückgängig zu machen. Jede gewachsene Sprache trägt ihre Geschichte mit sich herum und konserviert  in vieler Hinsicht das Denken vergangener Zeiten – man denke nur an die allgegenwärtige feudale und militärische Metaphorik (un­botmäßig, eine Lanze einlegen). Abschiede von der Sprachgeschichte sind schwer durchzusetzen. Sie haben auch ihren Preis.

In diesem Fall ist der Preis die Einbuße an Ökonomie, die der Sprache auferlegt wird. Überall stößt und schleift die Sprache Längen ab, überflüssige und sogar weniger überflüssige. Längen wirken umständlich, redundant, pedantisch, zeitverschwenderisch, unelegant, unschön. Es kann der Sprache sonst gar nichts kurz genug sein. Die Qualifikation macht sie zur Quali, den Solidaritätszuschlag zum Soli, den Professor zum Prof, die Toilette zur To. Inmitten dieser allgemeinen Entwicklung zum hastigen Telegrammstil stehen nun fremd die endlosen Paarformeln: Professorinnen und Professoren, Rundfunkhörerinnen und Rundfunkhörer, Existenzgründerinnen und Existenzgründer, Clowninnen und Clowns, und weil das inzwischen schon automatisch hervorsprudelt, seit einiger Zeit sogar Mitglieder und Mitgliederinnen, Reisende und Reisendinnen. Nur noch in einem Fall darf auf sie verzichtet werden: wenn die fragliche Bezeichnung für etwas negativ Bewertetes steht. Da bleibt es durchaus den Männern überlassen, Frauen mitzumeinen. Niemand jedenfalls hat bisher darauf bestanden, daß es paritätisch Alkoholikerinnen und Alkoholiker, Trickbetrügerinnen und Trickbetrüger, Mörderinnen und Mörder, Strohfrauen und Strohmänner heißen müßte. Also hat auch noch niemand Schillers Lied von der Glocke „gleichstel­lungsgerecht“ umgedichtet: „Freiheit und Gleichheit! hört man schallen, Die ruhge Bürgerin und der ruhge Bürger greift zur Wehr, Die Straßen füllen sich, die Hallen, und Würgerinnen- und Würgerbanden ziehn umher. Da werden Weiber…“ Nein, pejorativ, zumal es auch noch ein Neutrum ist: „Da werden Damen zu Hyänen…“ Auch typisch, daß „die Hyäne“, dieses unsympathische Tier, nun gerade feminin ist. Vielleicht ebenfalls zu korrigieren: „Da wird die Dame zum Hyänen…“

Es handelt sich also um den Konflikt zweier konkurrierender Werte: Sichtbarmachung der Frauen auf der einen, Sprachökonomie auf der anderen Seite. Die politische Korrektheit hat sich mit einer Emphase für die Sichtbarmachung der Frauen entschieden, als wäre sie ganz umsonst zu haben.

Immer mehr Rechtsvorschriften ordnen die Paarformeln für den gesamten staatlichen Bereich zwingend an. Das Land Rheinland-Pfalz hat 1995 eine Verwaltungsvorschrift zur „Geschlechtsgerechten Amts- und Rechtssprache“ erlassen, die immer dann, wenn man sich nicht mit einer geschlechtsneutralen Formulierung um das Problem herumdrücken kann, Paarformeln vorschreibt, allerdings nur homöopathisch dosiert, nämlich dann, wenn in einem Satz nicht mehr als zwei davon vorkommen müssen – die Verwaltungsvorschrift für Sätze mit mehr als zwei generischen Substantiven steht noch aus. (Die neutralen Formulierungen, etwa Passivkonstruktionen, machen das Amtsdeutsch meist noch amtsdeutscher.)

 Von einer solchen weisen Mengenbeschränkung hat das Land Nordrhein-Westfalen Abstand genommen. Dort ist das Dienstverhältnis an den Universitäten folgendermaßen geregelt: „Dienstvorgesetzter der Rektorin oder des Rektors, der Kanzlerin oder des Kanzlers und der Professorinnen und Professoren ist das Ministerium. Dienstvorgesetzte oder Dienstvorgesetzter der Hochschuldozentinnen und Hochschuldozenten, der wissenschaftlichen Assistentinnen und Assistenten…“ Genug? Nein, meine Damen, meine Herren, das haben wir uns eingebrockt, da müssen wir nun durch. „… der Oberassistentinnen und Assistenten, der Oberingenieurinnen und Oberingenieure, der wissenschaftlichen und künstlerischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter… ist die Rektorin oder der Rektor. Dienstvorgesetzte oder Dienstvorgesetzter anderer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist die Kanzlerin oder der Kanzler.“ Und das ist nur erst der Paragraph 63. Erstellt wurden er und seine Gesellinnen und Gesellen gemäß den Weisungen einer interministeriellen Arbeitsgruppe unter dem Motto: „Eine gleichstellungsgerechte Gesellschaft erfordert auch eine gleichstellungsgerechte Rechtssprache.“ Und was auf dem Weg zu diesem hehren sprachlichen Ziel ist am „erfolgversprechendsten“ und mithin am Gleichstellung bewirkendsten? Die „Verwendung von geschlechtsneutralen Umformulierungen; Paarformeln“ (mit den Frauen grundsätzlich voran, alte Kavaliersschule).

Das Land Nordrhein-Westfalen begründet seine Sprachregelung psychologisch, wenn auch nur in Form einer vagen psychologischen Spekulation: „Eine psychologisch wirksame Benachteiligung von Frauen durch Verwendung des generischen Maskulinums kann nicht ausgeschlossen werden.“ Nicht: „ist nachgewiesen worden“, nicht einmal: „ist wahrscheinlich“, nur „kann nicht ausgeschlossen werden“. Welche Folge kann jemals ganz ausgeschlossen werden? Mit der dünnsten aller möglichen Begründungen hat sich der Staat hier also auf das allerschlüpfrigste Terrain begeben: Er hat ein einklagbares Recht auf seelische Unversehrtheit anerkannt.

Um das zwar einem guten Zweck dienende, aber redundant Weitschweifige zu kürzen und Papier und Druckerschwärze zu sparen, verfiel ‘die tageszeitung’, zunächst scherzeshalber, Anfang der achtziger Jahre auf die Binnen-Innen: SchülerInnen, KäuferInnen und so fort. Obwohl dieses  Binnen-I Karriere machte und sich inzwischen sogar in Texten findet, denen jede Ironie fernliegt, hat es sich in über einem Dutzend Jahre nicht wirklich Akzeptanz verschaffen können. Der Grund dürfte weniger der Großbuchstabe im Wortinnern sein, den die offizielle deutsche Orthographie bisher nicht zuläßt, als vielmehr der Verstoß gegen eine noch elementarere Sprachregel: daß sich Geschriebenes und Gesprochenes eins zu eins entsprechen sollen. Jeder gesprochene Laut soll in der Schrift abgebildet werden, besagt das allgemeine Sprachverständnis, und jeder in der Schrift abgebildete Laut soll gesprochen werden. Bei Bildungen vom Typ LehrerInnen ist aber nicht zu sprechen, was dasteht – dabei kämen nur Lehrerinnen heraus. LehrerInnen steht vielmehr für Lehrer und Lehrerinnen, ist also eine Abkürzung: Sie erspart die schriftliche Wiederholung des maskulinen Grundworts, aus dem das Femininum durch Motion entstanden ist. Abkürzungen sind natürlich erlaubt; nur müssen sie eindeutig auflösbar sein. Wäre die Abkürzungsregel (XInnen = X + Xinnen; I = +X) immer anwendbar, so hätten sich die Binnen-Innen möglicherweise durchsetzen können. Sie ist es jedoch nicht. Bei Bildungen wie StudentInnen ist etwas ganz unter den Tisch gefallen, das Plural -en der männlichen Studierenden. Ein Satz wie Die SekretärInnen machen Überstunden läßt sich auf Anhieb nicht mehr vorlesen; man müßte sich vorher auf die Auflösung der Abkürzung vorbereiten. Die Einfachheit täuscht also. Die Rückverwandlung der Abkürzungsform in Rede bringt den Sprecher notwendigerweise ins Stocken.

Paarformeln sind natürlich in hohem Grade politically correct; nur eben immer ein bißchen lang. Das Stadtparlament im schweizerischen Wädenswil ging vor einigen Jahren den kürzeren Weg. Es beschloß, daß in der örtlichen Verfassung ausschließlich grammatische Feminina Gattungsbegriffe sein dürften. Also hätte es in Wädenswil nur noch Einwohnerinnen unter der Ägide einer männlichen Stadtpräsidentin gegeben; sollten die Männer ruhig einmal sehen, wie „psychologisch wirksam“ es ist, wenn sich ein Geschlecht vom anderen mitmeinen lassen muß. Hätte… denn irgendwie funktionierte es nicht. Die neue Regel, daß fortan als geschlechtsneutrale Sammelbegriffe die längeren, abgeleiteten, grammatisch femininen Formen verwendet werden sollen, war nämlich außerhalb Wädenswils unbekannt geblieben. Also verstand man die Wädenswiler Sprache dort einfach falsch. So schaffte die Gemeinde ihre Neuerung schon ein paar Monate später kleinlaut lieber wieder ab.

Die Paarformeln werden nicht so bald wieder abgeschafft werden. In voller Länge und gleichstellungsgerechter Paarigkeit wird es weiter heißen und heißen müssen: „Die Grundordnung kann vorsehen, daß die Dekanin oder der Dekan nach Ablauf ihrer oder seiner Amtszeit Prodekanin oder Prodekan wird…“ Womit nebenbei auch festgestellt ist, daß auf dem Umweg über Dekanatsamt Geschlechtsumwandlungen möglich sind. Denn der scheinbare Zuwachs an Genauigkeit wird sofort wieder aufgefressen: Wo die Sprache umständlicher wird, wird sie auch mißverständlicher, und um Mißverständnissen vorzubeugen, müßte sie wiederum noch umständlicher werden.

Allerdings, den bewußten Frauen würde ein Opfer zugemutet, wenn sie sich von grammatisch maskulinen Formen mitmeinen lassen sollen. Es wäre sogar ein doppeltes Opfer. Nicht nur, daß sie für die kürzere Grundform optieren müßten, auch wenn diese meist grammatisch maskulin ist – sie müßten erst einmal anerkennen, daß die Geschlechtszugehörigkeit nicht alles ist und auch nicht unentwegt betont werden muß; also letztlich, daß das, was Frauen und Männern gemeinsam ist, ihre Unterschiede und Konflikte überwiegt. Diesem Doppelopfer gegenüber steht das Opfer an Sprachökonomie, das die gesamte Sprachgemeinschaft zu bringen hätte, Frauen eingeschlossen, wenn niefrau den Paarformeln Einhalt gebietet.

 

Niemand erzwingt die politische Berichtigung der Sprache. Keine Instanz schreibt sie vor. Der ‘Duden’ empfiehlt sie noch nicht einmal. Was sie bewirkt, ist jener Wind der stereotypisierten Gutwilligkeit, der durch die Gesellschaft weht. Wer ihn ignorierte, bezeugte damit, daß er entweder einfach nicht auf dem laufenden ist (also von gestern) oder keine Sensibilität besitzt für die Kränkungen, die mit Sprache zugefügt werden können. Als unsensibel möchte niemand dastehen. Es wäre ja stammtischhaft, beinahe menschenverachtend, vielleicht sogar faschistisch.

Die Befürchtung, als unsensibel zu gelten, ist hochwirksam. Unwillkürlich zuckt zusammen, wer auf den Mauern eines verfallenen alten Gebäudes die verwaschene Aufschrift ‘Greisenasyl’ erblickt, in Fraktur. Das Lied von den ‘Zehn kleinen Negerlein’ soll man seinen Kindern auf keinen Fall mehr vorsingen; aber kann man ihnen noch die Nikolas-Episode aus dem ‘Struwwelpeter’ vorlesen? Zwar ist sie unmißverständlich antirassistisch – aber „kohlpechrabenschwarzer Mohr“? Schwärzt das die Afroafrikaner nicht an? Hätte der Autor es nicht anders ausdrücken müssen? Und was soll ein Übersetzer tun, wenn er einen älteren Text vor sich hat, in dem noch völlig ungeniert die unberichtigte Sprache verwendet wird? Soll er ihn auf den aktuellen Stand bringen? Mark Twain schreibt ohne Skrupel „Mohammedaner“ und „Neger“ – soll man daraus Muslim und Afroamerikaner machen? Wäre es nicht geradezu falsch, solche Wörter zu aktualisieren, da in der Entstehungszeit des Textes die aktuellen Bezeichnungen ja noch gar nicht da waren? Wäre eine solche Aktualisierung nicht eine zu Recht verrufene „Kulturübersetzung“, so als würde Goethe zeitlich angepaßt: „Es schlug mein Herz, geschwind aufs Moped…“? Aber werden gerade die besten, die aufmerksamsten Leser nicht doch zusammenzucken, wenn ihr Blick auf ‘Mohammedaner’ und ‘Neger’ fällt? Werden sie bereit sein, die historische Rechtfertigung gelten zu lassen? Darf man lebende Menschen mit solchen Wörtern kränken, nur weil Frühere nichts Kränkendes in ihnen sahen? Bei Mark Twain, der doch so wenig Rassist war, wie ein Mensch nur zu werden hoffen kann, kommt sogar öfter das Wort ‘Nigger’ vor, einfach weil seine Figuren es manchmal gebrauchen, wie ihre Entsprechungen in der Realität es gebraucht hätten. Darf das stehen bleiben? Obwohl es eindeutig ein grobes Schmähwort ist? Müssen nicht wenigstens solche rassistischen Beschimpfungen heute wegzensiert werden? In Amerika war man hier und da dieser Meinung und strich Mark Twain von der Leseliste; wahrscheinlich wird es irgendwann bereinigte Ausgaben geben.

Aus Amerika ist aber auch die Reaktion eines schwarzen Harvard-Studenten überliefert, als ein weißer Kommilitone forderte, Schwarze müßten durch Sprachregelungen vor „Haßsprache“ geschützt werden, da sie sonst von den Universitäten vertrieben würden: Solche Schutzmaßnahmen seien geradezu anmaßend. Er sei in seinem Leben vielen Formen des Rassismus ausgesetzt gewesen und nie davongelaufen. Ob gemeint sei, daß er seine Bücher packen und nach Hause gehen würde, weil jemand in seiner Gegenwart rassistische Sprache gebraucht? „Diese Annahme ist rassistischer und beleidigender, als mich Nigger zu nennen.“ 

 

Wenn die politische Korrektur der Sprache auf der irrigen Meinung beruht, durch bloße Namensgebung ließen sich die Verhältnisse und sogar die Gefühle der Menschen reformieren, so ist sie vermutlich Teil eines noch größeren, eines säkularen Aberglaubens: der Mensch, das Bewußtsein des Menschen sei Sprache und sonst nichts. „Sprache, wie die Liebe und der Tod, ändert und bestätigt uns, haftet an uns und erforscht uns… und macht uns zu denen, die wir sind“, wie kürzlich ein Literaturwissenschaftler schrieb. Von woher ist diese Idee in das zeitgenössische Denken eingedrungen, um sich dort zu einem Standardtopos aufzublähen? Vielleicht aus der hermeneutischen Umdeutung der Psychoanalyse, die aus dieser, als sie als Unterabteilung der Medizin keinen Erfolg und keine Zukunft hatte, eine Geisteswissenschaft zu machen trachtete, welche der normalen naturwissenschaftlichen Art der Bestätigung und Widerlegung enthoben wäre. Allen Ernstes haben psychoanalytische Hermeneutiker behauptet, daß der Mensch seine erzählte Lebensgeschichte „sei“, daß der Therapeut ihn also nur dazu bringen müsse, seine Lebensgeschichte anders zu erzählen, und daß eine psychische Störung dann geheilt wäre, wenn der Patient sein Leben umformuliert habe. Wenn man eine Krankheit für das „Symbol“ eines seelischen Konflikts hält, ist es nur folgerichtig, Heilung auf der rein symbolisch-sprachlichen Ebene zu suchen. Vermutlich waren es tiefe anthropologische Mißverständnisse dieser Art, die der Psychoanalyse zu dem Ruf verholfen haben, eine tiefe Anthropologie zu haben oder zu sein.

Wer den Menschen für ein durch und durch versprachlichtes Wesen hält, muß sich von Korrekturen an der Sprache wahre Wunder versprechen. Scheinbar nimmt er sie überaus ernst. In Wahrheit verkennt er sie. Eine blinde Liebe ist ihrem Gegenstand selten förderlich.

Die politische Berichtigung der Sprache wird von der Hoffnung befeuert, eine korrigierte Sprache würde irgendwie auch das Bewußtsein der Menschen korrigieren: Die Alten, die nicht mehr Alte heißen, würden dadurch zwar nicht verjüngt, aber es blieben ihnen all die abträglichen Vorstellungen erspart, die sich bisher an das Wort alt geheftet hatten. Mit dem unbeschriebenen Blatt eines neuen Wortes erhielten sie sozusagen eine neue Chance. Und da die alten Vorstellungen das Wort einbüßten, um das sie sich kristallisiert hatten, wären sie sozusagen ihres Trägermediums beraubt und müßten verkümmern und schließlich verschwinden.

Vielleicht ist es ja so – vielleicht bestimmt nicht nur das Bewußtsein die Sprache, vielleicht wirkt, zumindest ein wenig, auch die Sprache ins Bewußtsein zurück. Es ist nicht sicher, es ist aber auch nicht ganz ausgeschlossen. Das Aufkommen der Bezeichnung pc hat vielleicht nicht gerade das Bewußtsein der Menschen verändert, aber doch auf beiden Seiten schärfer eingestellt. Wer seine Sprache politisch berichtigt, gibt nicht nur zu erkennen, daß er sich ein neues Bewußtsein zu eigen gemacht hat, er hat möglicherweise wirklich einen Bewußtseinswandel hinter sich. Indessen war dieser nicht die Folge seines Sprachwandels, sondern ging diesem voraus; war nicht sein Ergebnis, sondern seine Ursache.

Die wirkliche Testfrage wäre darum, ob Menschen, die in die berichtigte Sprache hineinwachsen und ihre Ausdrücke von vornherein für die einzig richtigen halten, damit auch genau jenes Bewußtsein erwerben, das den Initiatoren der Sprachberichtigung einmal vorgeschwebt hatte – ein Bewußtsein, das niemanden mehr stigmatisiert und diskriminiert und so fort.

Das Fatale ist, daß sich das überhaupt nicht mehr erkennen ließe. Wenn die politische Korrektur der Sprache ihr Ziel erreichte, alle irgendwie kränkenden Wörter aus dem Verkehr zu ziehen, und wenn sich die ganze Sprechergemeinschaft unisono an die neue Etikette hielte, könnte der berühmte Beobachter vom andern Stern nur noch jubeln: Tadelloses Bewußtsein in diesem Land! Allerdings hätte er keinerlei Gewähr dafür, daß die Leute nun wirklich keine anstößigen Gedanken mehr hegen. Was sie wirklich meinen, wäre jeder sprachlichen Sichtbarkeit entzogen. Und der Preis der Verfreundlichung des Alltags wäre die Große Allgemeine Verschleierung.

 

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