Die Berichtigung Über die Sprachreform im Zeichen der Politischen Korrektheit
Von Dieter E. Zimmer
WAS HEUTE auch
in Deutschland Political
Correctness, PC,
Politische Korrektheit, PK, heißt, ist nicht nur ein sprachliches
Phänomen. Es ist ein Bündel politischer und weltanschaulicher Meinungen,
eine Denkweise, eine Haltung, eine Stimmung, zuweilen geradezu ein
Lebensstil. Es ist dabei aber auch, und zwar ganz zentral, eine Art zu
sprechen, in Amerika zum Teil sogar der Ausfluß etlicher ausdrücklicher
und sanktions-bewehrter Sprachregelungen. Die sprachlichen
Veränderungen, die die PK bewirkt hat und in aller Welt weiter bewirkt,
lassen sich jedoch nur auf dem Hintergrund der ganzen Denkweise
verstehen (und kritisieren), der sie zu Diensten steht. Sie ist
nicht auf Amerika beschränkt, und sie ist nichts Marginales. Im
Gegenteil, sie wirft einige der letzten Fragen des gesellschaftlichen
Zusammenlebens auf, denen sich niemand entziehen kann. Welche Haltung
sollen in einem heterogenen – multikulturellen, multi-ethnischen,
multirassischen, multisprachlichen, multisexualorientierten,
multireligiösen – Gemeinwesen die einzelnen Gruppen zueinander
einnehmen? Wie können und sollen sie ihr Zusammenleben organisieren?
Welche Meinungen übereinander und welche Wörter füreinander dürfen
geäußert werden und welche nicht? Es sind
Fragen, die sowieso nicht leicht zu erörtern wären, da für jeden
einzelnen zuviel vom Ausgang dieser Erörterung abhängt. Wenn dazu die
Geschichte der Beziehungen zwischen den betreffenden Gruppen eine der
manifesten, unbestreitbaren Ausbeutung, Diffamierung, Unterdrückung oder
gar Sklaverei war, erschweren die Gereiztheit auf Seiten der Nachkommen
der Opfer und das schlechte Gewissen auf Seiten der Nachkommen der Täter
jede Diskussion noch mehr. Sachlich und nüchtern jedenfalls wird es
dabei nicht zugehen können. Daher die schrillen Töne im Streit um die
Politische Korrektheit. Sie wurde als ein schützender Verband über
lauter wunde Punkte gelegt. Schon ein bloßes Wort kann ihn
herunterreißen. Das
Zusammenspiel von gereizten Forderungen und schlechtem Gewissen hat an
den amerikanischen Hochschulen und zum Teil auch in den Medien in den
letzten fünfundzwanzig Jahren nach und nach ein Klima entstehen lassen,
in dem es gefährlich ist, bestimmte Ideen und bestimmte Wörter laut zu
sagen: Ideen und Wörter, von denen sich eine der
Opfergruppen herabgesetzt
fühlt oder fühlen könnte. Hochschul-lehrer wurden an den Pranger
gestellt, am Reden gehindert, beleidigt und gedemütigt, hier und da auch
physisch bedroht und tätlich angegriffen, mußten Lehrveranstaltungen
absetzen, verloren Forschungsmittel oder ihre Stellung, weil sie eine
tabuisierte Idee vertreten, ein tabuisiertes Wort gebraucht hatten.
Professoren, Studenten, Journalisten und Fernsehkommentatoren wurden
genötigt, sich wegen einer tabuisierten Idee, eines tabuisiertes Wortes,
ja eines matten Witzes öffentlich zu entschuldigen, Buße zu leisten, zu
widerrufen. („Habe meine Lektion gelernt“, lautete die Überschrift eines
Artikels, in dem ein Student in Michigan sich gezwungenermaßen für ein
Scherzgedicht über einen homosexuellen Sportler entschuldigte.) Die
Unduldsamkeit scheut nicht die Lächerlichkeit. Es kann Folgen haben, auf
dem Campus das falsche T-Shirt zu tragen. Da sich darauf ein Junge und
ein Mädchen küßten, wurde ein Professor an einer der großen
Westküstenuniversitäten von einigen Studentinnen wegen „sexueller
Belästigung“ (sexual harassment)
angezeigt und mußte ein Disziplinarverfahren über sich ergehen lassen.
Hätten sich auf dem Hemd zwei Jungen oder zwei Mädchen geküßt, wäre ihm
vermutlich eine Belobigung zuteil geworden.
„Tugenddiktatur“, „Denkverbote“, „Gedankenpolizei“ – das sind
dramatische, zu dramatische Worte, denn zu einem totalitären Staat sind
die Vereinigten Staaten bei allem nicht geworden. Jedenfalls aber hat in
einigen die öffentliche Meinung bestimmenden Milieus vielfach ein
unduldsames Eiferertum um sich gegriffen, das – zum Besten des großen
ganzen, versteht sich – anderen das Leben schwer macht und ein Klima der
Einschüchterung und Beklommenheit erzeugt. Ausgerechnet die politischen
Erben des free speech movement
bestehen darauf, daß der freien Rede Grenzen gezogen werden sollten. Dreieinhalb
Jahrhunderte nach Galilei sei eine neue antikritische Ideologie auf dem
Vormarsch, die die Wissenschaft selbst bedrohe, schreibt Jonathan Rauch.
In seinem Buch Kindly Inquisitors
(1993) heißt es: „In Amerika… und anderswo wird das alte Prinzip der
Inquisition wiederbelebt: daß Menschen, die falsche und schädliche
Ansichten hegen, zum Wohle der Gesellschaft bestraft werden sollten.
Wenn man sie schon nicht ins Gefängnis werfen kann, dann sollten sie
immerhin ihrer Arbeitsstelle verlustig gehen, organisierten
Beschimpfungs-kampagnen ausgesetzt, zu Entschuldigungen und zum Widerruf
gezwungen werden. Und wenn der Staat die Bestrafung nicht übernehmen
kann, sollten private Institutionen und Interessengruppen es tun, eine
auf Gedanken Jagd machende Bürgerwehr.“
Der Begriff
der Political Correctness
selber ist eins der seltenen Beispiel dafür, daß der Sprache durchaus
eine gewisse Macht eigen sein kann. Nicht so sehr darauf kommt es an,
was für einen Namen eine Sache hat – aber ob sie überhaupt einen Namen
hat, macht in der Tat einen Unterschied. Komplexe Sachverhalte zu einem
Begriff zusammen-zufassen, erleichtert das Denken ungemein; prägnant
benannte Begriffe machen diese Sachverhalte allgemein verhandelbar, und
geschickt benannte Begriffe tragen bereits ein polemisches Moment in
sich, das das Denken in eine bestimmte Richtung lenkt und ihm andere
Wege abschneidet. Ehe der
Begriff der Political Correctness
da war, gab es den Gesinnungsdruck einer radikalen politischen
Bewegung, den er dann bezeichnen sollte, seit langem. Aber da er keinen
zusammenfassenden Namen hatte, fehlte es ihm gewissermaßen an voller
Realität – das Phänomen war allgegenwärtig und in Ermangelung eines
Namens doch nicht benennbar. Die Plötzlichkeit, mit der er sich nach
zwei fast gleichzeitigen Titelgeschichten der Magazine ‘Newsweek’ und
‘New York’ im Januar 1991 durchsetzte, zeigte, wie sehr er entbehrt
worden war. Am Ende dürfte die bloße Existenz eines Namens einiges dazu
beigetragen hat, die Auswüchse der
PC zu überwinden. Es war ein
milde ironisches, kein gehässiges Wort, dem sein polemisches Potential
zu Anfang nicht anzusehen war. Wer könnte sich schon durch das Attribut
korrekt angegriffen fühlen?
Mit dem Wort politically correct
hatten sich in den sechziger Jahren junge Linke ironisch von der sturen
Parteilinie mancher Funktionäre distanziert. Direkt oder indirekt ging
es wohl zurück auf einige Mao-Sprüche aus dem Jahr 1963, zu finden in
seinem Rotem Buch, etwa dem: „Sobald die richtigen [correct]
Ideen… von den Massen beherrscht werden, werden sie zur materiellen
Gewalt.“ Im Diskurs der deutschen Linken meinte
Linientreue und dann bei den
Neu-Linken richtiges Bewußtsein
das gleiche. Der Satz You are not
politically correct, I’m afraid aus einer amerikanischen politischen
Diskussion jener Tage wäre mit Du
hast eben nicht das richtige Bewußtsein, Genosse zutreffend
übersetzt. Der früheste Beleg für die Verwendung in einem positiven Sinn
stammt aus dem Jahre 1970. Wörtlich übersetzt: „Jemand kann nicht
zugleich politisch korrekt und Chauvinist sein.“ So lebte der
Begriff, bald positiv, bald ironisierend kritisch gebraucht, als linker
Insider-Kommentar zum relativen Wert der Gesinnungstreue viele Jahre
still vor sich hin – bis John Taylors Titelgeschichte im Stadtmagazin
New York ihn der Linken
entwand und plötzlich die ganze Nation in Balkenlettern vor die Frage
stellte: Are You Politically
Correct? Also: Hast du auch
das richtige Bewußtsein? Um dann im Innern zu beschreiben, welche
vielfältigen Drangsalierungen an den Hochschulen auf Leute warten, die
es am richtigen
Bewußtsein, an der
political correctness fehlen
lassen. Daß er so
rasch um sich griff, lag jedoch nicht nur daran, daß nun ein amorpher
und sozusagen schweifender Radikalismus einen Namen hatte. Es lag
wahrscheinlich auch daran, daß dieser sich als ein ungewollt listiger
Name erwies. Die, die nun die
politisch Korrekten hießen, hatten sich gern als Schwimmer gegen
einen übermächtigen Strom gesehen, als Partisanen. Der Name jetzt machte
darauf aufmerksam, daß der Strom zumindest im Hochschulmilieu längst in
ihre Richtung floß, daß ihr Partisanentum hier zu einer neuen Orthodoxie
geworden war. Er traf sie sozusagen in ihrer Partisanenehre. Die
Gegenseite hatte plötzlich die Genugtuung, zur Abwechslung einmal viele
PC-ler in der Defensive zu
sehen, bemüht zu erklären, daß sie nur das politisch Notwendige,
Anständige und Richtige täten, aber so
politisch korrekt gar nicht
wären. Später, als
das Wort zu einem giftigen Kampfbegriff geworden war, den sich die
Parteien hin und her reichten und der dann auch in andere Länder mit
anderen sozialen Gemengelagen exportiert wurde, verschwamm seine
Bedeutung, fiel alles nur mögliche unter das Rubrum
pc, auch sein Gegenteil.
Zunächst aber war die Bedeutung völlig klar.
Politically correct: im Kern
waren das die Forderungen einiger militanter
Minderheiten, die um ein Ende
ihrer Diskriminierung kämpften. Die eine Forderung war die nach der
quotierten Berücksichtigung bei der Stellen- und Mittelvergabe (affirmative
action, konkrete antidiskriminatorische Maßnahmen). Die andere war
die nach einer Revision der Lehrpläne. Diese führte zu einer an vielen
Stellen aufflammenden, erbitterten „Kanon“-Diskussion: Welche Lektüre
soll Studienanfängern vorgeschrieben werden? Es war eine Diskussion, die
von zwei merkwürdigen Voraussetzungen ausging: daß Studenten höchstens
das vorgeschriebene Dutzend Bücher lesen und sonst keine; und daß sie
sich die Gedankenwelt dieser verordneten Bücher umstandslos zu eigen
machen. So gesehen, nahm sich der „Kanon“, die Pflichtlektüreliste der
Anfangssemester, wirklich als ein Instrument aus, die Köpfe ein für
allemal mit diesem oder jenem Inhalt zu füllen. Es ist eine
lockere Koalition von
Minderheiten, die sich da zusammen-gefunden hat. Gemein haben sie
nur, daß sie sich in erster Linie als
Opfer verstehen: Schwarze,
Indianer, Hispanics,
männliche und weibliche Homosexuelle – und Frauen, auch wenn diese nicht
gerade Minderheitenstatus beanspruchen können. Sie alle wurden einmal
oder werden immer noch diffamiert,
diskriminiert,
stigmatisiert,
marginalisiert,
deklassiert, degradiert,
ausgegrenzt,
oppressed (unterdrückt) – kurz, sie wurden und werden
victimized (‘viktimisiert’,
zu Opfern gemacht). Daß es sich
um eine Koalition weniger ausgewählter
Opfergruppen handelt, wird
klar, wenn man sich vor Augen hält, daß andere, die sich – subjektiv mit
Recht – ebenfalls über Diskriminierung und Zurücksetzung beschweren
könnten, entschieden nicht dazugehören: etwa Juden, Pädophile, Raucher,
Psoriatiker oder User von OS/2. (Der konservative Hochschulkritiker
Roger Kimball merkte einmal bissig an: „Viel mehr Menschen sterben jedes
Jahr an Brustkrebs, Herzinfarkt und anderen Krankheiten als an Aids.
Doch nur Aids genießt den Vorzugsstatus, politisch korrekt zu sein… vor
allem wegen des Aktivismus, den es unter Homosexuellen ausgelöst hat.“)
Zwei Gruppen, die immer wieder um Aufnahme nachgesucht haben, blieben
ausgeschlossen: in Amerika die Creationisten, in Deutschland die
Scientologen, auch wenn diese sich in ihren Veröffentlichungen gern als
eine Minderheit darstellen, die der gleichen Verfolgung ausgesetzt sei
wie die Juden im Nazistaat. Diese
Koalition hat sich einen Kompositfeind erschaffen, der sie eint: den
weißen (eurozentrischen)
heterosexuellen (phallokratischen,
patriarchalischen)
Mann, auch und besonders den
toten, als Verkörperung einer
als unterdrückend empfundenen europäischen
Kulturhegemonie. Er ist der
Täter, der sie alle zu
Opfern gemacht hat und dessen
Macht nun gebrochen werden soll. Das stand hinter den Sprechchören an
der Stanford-Universität: „Hey hey, ho ho, Western culture’s got to go“
– „Heh heh, meck meck, westliche Kultur muß weg“. Das Frappierende daran
war vor allem, daß diese Rufe an einer Elitestätte westlicher Kultur
ertönten. Goethe, Darwin, Tolstoj, Picasso – zweifellos waren sie weiße
Europäer und männlichen Geschlechts, vielleicht waren sie sogar
„Phallokraten“; aber daß ihre Leistungen damit ausreichend oder auch nur
in irgendeiner relevanten Weise charakterisiert wären, läßt sich wohl
kaum behaupten. Die political
correctness ist das Klima, in dem solche einerseits völlig
richtigen, andererseits völlig leeren Anschuldigungen gedeihen. Politisch
korrektes Denken beruht auf einer Verabsolutierung, sozusagen einer
Fundamentalisierung der Gruppenzugehörigkeit. Die Gruppe, der er
zugehört, ist es, die den Menschen definieren soll – und wenn sie ihn
nicht geradezu erschöpfend definiert, stellt sie doch das einzig
Interessante an ihm dar. Bei allem, was einer sagt, schreibt, tut,
zuallererst und vielleicht als einziges zu fragen, ob er einer der
anerkannten Opfergruppen oder
der einen Tätergruppe
angehört – das macht den Kern politisch korrekten Denkens aus. Die
Gruppenzugehörigkeit ist es, die dem Menschen im politisch korrekten
Denken seine Identität
verschafft. Diese vielbeschworene, vielgesuchte
Identität ist in seinem
Verständnis gar nicht das ganz persönliche Wesen, in dem sich der
einzelne von allen anderen unterscheidet. Sie ist etwas grobschlächtig
Kollektives – das ausdrückliche und vernehmbare Bekenntnis zur eigenen
Gruppe. Der Homosexuelle, der von sich sagt, er habe seine
Identität gefunden, will
damit nicht sagen, daß er irgendwelche ganz persönlichen Eigenheiten in
sich entdeckt habe. Er will vielmehr sagen, daß er beschlossen habe,
sich offen zu seiner Homosexualität zu bekennen. Ein
weißer heterosexueller Mann
machte sich lächerlich, wenn er von sich sagte, er habe nun endlich
seine Identität gefunden –
nicht weil nicht auch er eine persönliche und eine kollektive
Identität hätte, sondern weil
eine kollektive Identität wie
die seine nicht von der Art ist, von der irgendein Aufhebens gemacht
werden sollte – für die Politische Korrektheit hat sie geradezu etwas
Ehrenrühriges. Man ist genug gestraft damit, daß man sie hat, man
bekennt sich einfach nicht zu ihr. In einem Memorandum an die Mitglieder
eines Diversity Education
Committee schrieb eine Studentin in Pennsylvania von ihrer „tiefen
Achtung für das Individuum und [ihrem] Wunsch, die Freiheiten aller
Mitglieder der Gesellschaft zu schützen“. Sie bekam das Papier zurück.
Das Wort ‘Individuum’ war unterstrichen. Der Kommentar lautete: „Das ist
heute ein zu meidendes Wort, welches vielen als
rassistisch gilt.
Argumente, die das Individuum über die Gruppe stellen, privilegieren
letztlich die ‘Individuen’,
die der größten und herrschenden Gruppe angehören.“ Diese
Verabsolutierung der Gruppenzugehörigkeit macht die
PC mißtrauisch gegen jeden
Universalismus. Der Anspruch, es gebe universale, gruppenübergreifende
menschliche Eigenschaften und Werte, könnte ja selber nur ein weiterer
Trick des weißen heterosexuellen
Mannes sein, seine Kulturhegemonie durchzusetzen. Wenn er etwa
behauptet, die Regeln der Logik gälten für die gesamte Menschheit, ja
sogar unabhängig von der Menschheit: Erklärt er damit nicht nur seine
eigene Denkweise für universal? Will er sie damit anderen Gruppen
aufnötigen? Diskriminiert er
auf diese Weise nicht jene, die nicht logisch denken und vielleicht auch
gar nicht logisch denken wollen? Dieser inhärente Antiuniversalismus
bringt eine Denkströmung, die im Ansatz auf ein fröhlich
pluralistisches, multikulturelles Miteinander der verschiedenen Gruppen
aus zu sein schien, in die ständige Gefahr, in einen feindseligen
Gruppenseparatismus umzuschlagen. Ein
offensichtliches Beispiel ist die Sprachenpolitik. Es lag von jeher auf
der Hand, daß es für einen Staat von Vorteil ist, wenn alle seine Bürger
durch eine gemeinsame Sprache verbunden sind. Das galt schon für den
autoritären Staat, in dem von oben nach unten befohlen wurde. Unten
sollten die Befehle schließlich überall verstanden werden. Um so mehr
ist ein demokratisches Gemeinwesen darauf angewiesen, daß sich jeder
jedem verständlich machen kann. Dort, wo in einem Staat die einzelnen
Sprachen ihre eigenen geschlossenen Verbreitungsgebiete haben wie in
Belgien oder Kanada oder der Schweiz oder in Spanien, sind die Konflikte
groß genug. Wo die Sprecher der einzelnen Sprachen durchmischt zusammen
wohnen, geht es ohne gemeinsame Sprache gar nicht mehr. Die Politische
Korrektheit jedoch nimmt von vornherein und fast automatisch für die
Partikularsprachen und gegen die verbindende Gemeinsprache Partei. Sie
ist ja die dominante Sprache der Herrschenden, soll den Anderssprachigen
oktroyiert werden und diese ihrer eigenen Sprache berauben, wenn sie es
nicht schon getan hat. Der
Hispanic im vorwiegend englischsprachigen Nordamerika habe ein Recht
darauf, in seinem gesamten Alltag Spanisch zu sprechen. Er solle stolz
auf sein Spanisch sein und jeden Versuch zurückweisen, ihm das Englisch
der Herrschenden aufzuzwingen. Diese Parteinahme für die „kleinen“,
unterdrückten,
stigmatisierten Nebensprachen
eines Landes hat tatsächlich etwas ungemein Sympathisches und
Verführerisches. Es ist schade um jede Sprache, die irgendwo in
Bedrängnis gerät und vielleicht sogar untergeht, wie es schade um jede
aussterbende Art in der Natur ist. Und die eigene Sprache ist ein so
intimer, lebenswichtiger Besitz, daß der, der auch nur teilweise auf sie
verzichten soll, einen der größten denkbaren Verluste erleidet. Im
Nachteil gegenüber den Sprechern der dominanten Sprache ist er sowieso,
und der Nachteil verstärkt meist die anderen Nachteile, die mit dem
Minderheitenstatus verbunden sind. Andererseits aber ist auch dies wahr:
daß der Staat, der in lauter isolierte Sprachen zerfällt, an
Sprachlosigkeit zugrunde gehen muß. Natürlich wird er deswegen nicht
wirklich zugrunde gehen; es werden sich nur die getreuen Sprecher der
Nebensprachen selber in ihren jeweiligen Gettos verbarrikadieren und von
seinen wichtigen Angelegenheiten ausschließen. Wer Kritik
an der Politcal Correctness
anmeldet, dem antwortet aus deren Lager meist eine Gegenfrage: „Was ist
denn schlimm daran, wenn den Rassisten und Sexisten endlich Einhalt
geboten wird? Sie gehören wohl selber zu diesem Gesindel?“ Wenn zur
Abwechslung einmal die ewigen
Unterdrücker (oppressors)
ein wenig drangsaliert werden – um so besser! Wie es ein Flugblatt in
den frühen siebziger Jahren formulierte: „Was sind ein paar Prügel gegen
den Genozid, den dieser Mann vorbereitet hat?“ Es galt einem in seinem
Fach hoch angesehenen Psychologieprofessor, der keineswegs irgendeinen
Genozid vorbereitet hatte, dessen Forschungsergebnisse jedoch, beim
Weitersagen von der Entrüstung bis zur Unkenntlichkeit vergröbert, von
einer der Opfergruppen als
irgendwie kränkend empfunden wurden. Genau dies
macht das selbst das gutwilligste Inquisitionsklima so gefährlich: daß
es unweigerlich mit der Wahrheit kurzen Prozeß macht. Die Freiheit,
seine Meinung ohne Prügelandrohung zu sagen, ist schließlich kein
widerrufbares Zugeständnis der Gesellschaft an die selbstsüchtigen
Ausdruckswünsche einzelner Individuen. Sie ist der Nährboden, aus dem
die liberale (das heißt freiheitlich verfaßte) säkulare Gesellschaft
ihre Kräfte bezieht. Dies ist
keine Sonntagsredenfloskel, sondern eine Tatsache, wie Jonathan Rauch
gezeigt hat. Ein Gemeinwesen hätte viele Möglichkeiten, darüber zu
entscheiden, was als wahr gelten soll, und alle sind irgendwo und
irgendwann ausprobiert worden. Die Wahrheit könnte einigen wenigen
auserwählten Individuen von einem überirdischen Wesen offenbart worden
sein, und die Gesellschaft hält diese Offenbarungen dann für letzte
Wahrheiten, die niemand in Frage stellen darf. Es könnte einigen wenigen
Weisen überlassen werden, die Wahrheit durch scharfes und tiefes
Nachdenken zu finden; und die anderen übernehmen sie. Über die Wahrheit
könnte abgestimmt werden: Wahr ist dann, was die Mehrheit für wahr hält.
Über die Wahrheit könnte auch das Los entscheiden. Alle diese Methoden
heben den Konflikt zwischen vielen subjektiven Wahrheiten durch einen
Machtspruch auf. Sie schaffen Ruhe im Land. Sie sind nur nicht
produktiv. Seit dreihundert Jahren gehen einige Kulturen einen anderen
Weg, den die Wissenschaft ihnen vormacht. Die
Wissenschaft ist nicht, wofür viele sie immer noch halten: eine
Ansammlung von Theorien, die sich ein paar Spezialisten nach den der
Allgemeinheit verschlossenen Regeln ihrer Kunst ausgedacht haben. Schon
gar nicht ist sie das, was ein paar auserwählte Autoritäten in
kanonischen Texten festgehalten haben. Die Wissenschaft ist überhaupt
kein bestimmter Wissensbestand. Sie ist ein Prozeß der
Erkenntnisgewinnung, und zwar ein offener Prozeß, der keinem bestimmten
Ziel zustrebt und an keinem Ende ankommt. Dieser Prozeß wird von einigen
einfachen Regeln gesteuert, die keine Ausnahme zulassen. Sie lauten:
Jede Idee ist willkommen. Jede Idee muß sich jederzeit der Kritik
stellen. Jede Idee gilt nur so lange, bis eine überzeugendere Idee sie
überwunden (oder absorbiert) hat. Also gibt es in der Wissenschaft keine
absoluten Wahrheiten: Alles, was für wahr gehalten werden will, muß auf
den Tisch und stellt sich einer allgemeinen Debatte. Also gibt es auch
keine letzten Autoritäten: Kein Papst, kein Seher, kein
Philosophenkönig, kein Diktator, kein Parlament, auch kein
Nobelpreisträger hat in dieser immerwährenden Debatte je das letzte
Wort. Die Kritik,
der sich jede Idee stellen muß, hat so rational zu sein wie
menschenmöglich. Sie besteht, kurz gesagt, in einer Bemühung um
Gegengründe, also um das, was Karl Popper Falsifizierung genannt hat: um
eine systematische Suche nach Fehlern im zugrunde gelegten Datenmaterial
und in den daraus gezogenen Schlüssen. Als vorläufig richtig wird
akzeptiert, was dieser sytematischen Falsifizierungsanstrengung
widerstanden hat. Da jeder Wissenschaftler mit ihr zu rechnen hat, tut
er im eigenen Interesse gut daran, schon selber nicht nur nach allem zu
suchen, was für seine Idee spricht, sondern ebenso nach allem, was gegen
sie spricht. Tut er es nicht selber, so werden es andere tun. Was alle
Wissenschaften über die Verschiedenheit ihrer Gegenstände und
Untersuchungsverfahren hinweg eint, ist diese universale Methode der
Bewahrheitung. Das genaue
Gegenteil der wissenschaftlichen Haltung ist jeder Fundamentalismus –
nicht weil Fundamentalisten eine Wahrheit haben, an die sie fest glauben
(die können auch Wissenschaftler haben) oder weil es eine irrationale
Wahrheit ist (sie ist gelegentlich durchaus rational), sondern weil es
eine letzte und absolute Wahrheit ist, die Gegengründe nicht nur selber
nicht sucht, sondern auch dann nicht zur Kenntnis nimmt, wenn andere sie
geltend machen. Der Fundamentalismus ist keine bestimmte religiöse oder
weltanschauliche Glaubensdenomination. Er ist eine Geisteshaltung,
vielleicht eine Charaktereigenschaft: lauter Antworten zu wissen und nie
Fragen. Fundamentalisten sind im doppelten Sinn unbeirrbar: „nicht
bereit, die Möglichkeit ins Auge zu fassen, daß sie im Irrtum sein
könnten“ (Rauch). Der Stil der Wissenschaft dagegen ist unbegrenzte
Skepsis: Alles mag sich als falsch erweisen. Dieser Weg
hat nichts an sich, was prinzipiell für ihn spräche, außer vielleicht,
daß er der Verschiedenheit menschlicher Ideen angemessen ist. Seine
Legitimation ist eine rein pragmatische: daß er sich als beispiellos
produktiv erwiesen hat, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen hat er
die Erkenntnis wie kein anderer vorangetrieben, und daß die auf diesem
Weg gewonnenen Erkenntnisse nicht ganz falsch gewesen sein können, zeigt
sich daran, wie wirksam und schnell sie die gesamten menschlichen
Lebensumstände verändert haben und weiter verändern. Zum anderen hat er
Konflikte entschärft: Anders als die Anhänger verschiedener Religionen
in ihren Glaubenskriegen, brauchen sich die Anhänger verschiedener
Theorien nicht die Köpfe blutig zu schlagen. Statt dessen führen sie
eine unausgesetzte Debatte. Alle Argumente erhalten in dieser Debatte
eine Chance, auch die sonderbaren (die vielleicht einmal nicht mehr
sonderbar erscheinen), sogar die tatsächlich oder scheinbar abstrusen
(denn niemand kann schon vorher entscheiden, ob ein Argument abstrus
ist). Der Fortgang der Erkenntnisgewinnung lebt von der Verschiedenheit
der Ansichten, die in den Prozeß eingespeist werden, so wie die
Evolution einer Spezies auf ihrer genetischen Vielfalt aufbaut. Wo die
Verschiedenheit beschnitten wird, wird der ganze Prozeß gestört. Die
Wissenschaft mit ihren scheinbar laxen, scheinbar alles zulassenden
Rahmenrichtlinien hat das Wunder bewirkt, das störende Faktum
menschlicher Meinungsverschiedenheiten produktiv zu machen. Daß alle
Argumente ohne Gefahr für Kopf und Kragen vorgebracht werden können, ist
ihr Lebenselixier. Simpler
gesagt: Argumente verprügelt man nicht, man schreit sie auch nicht
nieder oder belegt sie mit anderen Strafen. Argumente werden
ausschließlich kritisiert – und „kritisiert“ heißt: nicht lautstark
verurteilt, sondern rational gewogen. Damit treten sie in Wettbewerb
miteinander, und hoffentlich siegt das besser begründete. Dafür, daß es
tatsächlich siegt, gibt es keine Garantie. Für das Verfahren spricht
nur, daß dort, wo der freie Wettbewerb der Argumente behindert wird, die
Aussichten, daß jemals irgendein richtiges Argument übrigbleibt, noch
viel geringer sind. Insofern
stellt jede Nötigung, auch die von moralischem Pathos getragene, die
Geschäftsgrundlage der Wissenschaft in Frage. Und darum ist die
Political Correctness in
Amerika nicht nur bei Rassisten, Sexisten und anderen Reaktionären auf
Widerspruch gestoßen. Zu ihrem eigenen Erstaunen sahen sich die zu
erwartenden Konservativen mit vielen Liberalen und (von jeher
universalistischen) Linken im Widerspruch zumindest gegen ihre Auswüchse
geeint. Denn die radikale Aufwertung des Gruppendenkens löst nicht nur
gesellschaftliche Probleme, sie schafft auch welche. Erstens: Wer
die Diskriminierung einer
Opfergruppe beheben will, muß ihren (bisher verkannten) Wert
betonen. Wer aber den Wert einer Gruppe betont, begibt sich in jenes
riskante Gefilde, wo der Anspruch auf ihre Gleichberechtiung leicht in
Verklärung umschlägt. Das ist dann nicht nur eine unrealistische
Haltung, die notwendig zu Enttäuschungen führt, denn der Opferstatus hat
noch keine Gruppe je von den üblichen menschlichen Schwächen befreit.
Die Verklärung irgendeiner Gruppe führt vor allem nicht dazu, daß die
verschiedenen Gruppen besser miteinander auskommen. Sie spaltet. Und die
gespaltenen Sympathien – einerseits für die an vielen Fronten
fortschreitende Reethnisierung der Welt, andererseits für die
Überwindung ethnischer und anderer Barrieren – führen in vielen
konkreten Konfliktlagen zur Lähmung. Zweitens:
Auf der einen Seite betont die
Political Correctness die Verschiedenheit der Menschen und Kulturen.
Die diversen einzelnen Unterschiede hat sie zu
Der Differenz aufgewertet.
The Difference: das ist ihr
geradezu eine mythische Qualität. In einem der vieldiskutierten
Grundtexte der PC, der
Eröffnungsrede der Literaturwissenschaftlerin Catharine R. Stimpson zur
Jahrestagung 1990 der Modern
Language Association, heißt es gegen Ende dunkel, aber lyrisch: „Wir
hatten die Freiheit, mit Großmut und Tapferkeit die Unterschiede
zwischen Texten und zwischen unseresgleichen wahrzunehmen. Wir merzten
die schädigenden Unterschiede aus. Wir buchstabierten die Unterschiede,
die uns zu erneuern versprachen.“ Auf der anderen Seite aber lautet das
egalitäre Grunddogma der Politischen Korrektheit, daß alle Menschen,
alle Menschengruppen im Grunde gleich seien – gleich nicht nur im Sinne
der Chancengleichheit, sondern durchaus auch in ihren ihnen von der
Natur verliehenen Anlagen. Die
inquisitorischen Umgangsformen der
Political Correctness wurden
in den frühen siebziger Jahren erprobt und eingeübt, als ein paar
Professoren in Amerika und England die alte Theorie, daß die bestehenden
Unterschiede in der meßbaren Intelligenz und in anderen Fähigkeiten zu
einem erheblichen Teil aus genetischen Unterschieden zu erklären seien,
mit besserem Datenmaterial untermauerten. Unterschiede, ja! Aber um
genetische Unterschiede durfte es sich auf keinen Fall handeln. Obwohl
die ketzerischen Ideen von damals heute in Fachkreisen kaum noch
angezweifelt werden, ist für die
Political Correctness jegliche Verhaltensgenetik tabu geblieben.
Wenn Unterschiede zwischen den Menschen bestehen, dann nur, weil
verschiedene Umwelten sie in verschiedene Richtungen gedrängt haben; und
weil die einen die anderen daran gehindert haben, alle ihre Fähigkeiten
voll zu entwickeln. Bestehende Ungleichheiten wären also nur ein
gesellschaftlich produzierter Schein. Noch einmal Catharine Stimpson,
nicht über Unterschiede zwischen Individuen, sondern zwischen Gruppen:
„Die üppig produktive Werkstatt der Geschichte hat die Hohlformen der
Gruppenzugehörigkeit ausgestanzt und aufgestapelt: Alter, Klasse,
Ethnizität, Institution, Geschlecht, Nation, Stamm, Rasse, Rang,
Religion, Sexualorientierung. Aus gutem Grund fragen viele unserer
zentralen Forschungsanstrengungen heute, was aus der Kultur wird, wenn
solche Differenzierung für einige wenige Macht und für viele
Unterwerfung bedeutet.“ Dies gibt
sich als die bare Selbstverständlichkeit, die wissend umraunt werden
kann und keiner weiteren Begründung bedarf, ist jedoch tatsächlich eine
Hypothese, die beim Wort zu nehmen und dann empirisch nachzuprüfen wäre
– und im Zuge dieser Nachprüfung hätte sie sich konkurrierenden
Hypothesen zu stellen. Es könnte sein, daß sie bestätigt wird: daß
Gruppenunterschiede ausschließlich von der Geschichte geschaffen werden.
Es könnte auch sein, daß sie sich als falsch erweist: daß einige der
aufgezählten Unterschiede biologischer Art sind und keine Produkte der
Geschichte. Es könnte schließlich sein, daß bei jedem der aufgezählten
Unterschiede Geschichte und Natur auf eine andere Weise zusammenwirken;
dann bekämen Wissenschaftler vieler Disziplinen Arbeit. Der Punkt ist,
daß man es eben nicht vorher weiß und darum auch nicht das eine oder
andere der möglichen Ergebnisse von vornherein als das einzig richtige
hinstellen kann. Wer es dennoch tut, verläßt den Boden der Wissenschaft.
Er kann niemals zu einem zutreffenden Modell der objektiven Wirklichkeit
kommen, will es wohl auch gar nicht.
Political Correctness hat
auch in diesem Fall der Wahrheit kurzen Prozeß gemacht, nicht mit den
Fäusten, sondern mit Lyrik. Und weil er
stichhaltige Antworten zur Genese von Unterschieden nicht sucht, ist
sich zum Beispiel der Feminismus nicht über die Grundfrage klar
geworden, ob Frauen im Grunde genau wie Männer sind, aber von den
Männern gehindert wurden, sich voll zu entfalten; oder ob sie „von Natur
aus“ glücklicherweise gerade ganz anders als Männer sind und diese
Andersartigkeit kultivieren sollten. Klar, daß er sich in Widersprüche
verwickelt. Drittens:
Das politisch korrekte Denken ist in seinem guten Kern antirassistisch,
antisexistisch, antieurozentrisch. Es hat den Feind der
Opfergruppen identifiziert,
den weißen (europiden)
heterosexuellen Mann, und es
ist von vornherein all jenen Kulturen und Subkulturen gewogen, die nicht
weiß, nicht europäisch, nicht heterosexuell, nicht männlich sind. Ihre
Sympathie stößt dabei jedoch immer wieder auf Kulturen, die selber
durchaus nicht antirassistisch, antiethnozentrisch, antisexistisch,
antihomophobisch sind. Ihre Prämisse, daß alle Kulturen gleich gut seien
und die nichtweißen noch besser, trifft auf fundamentalistische
Kulturen, die ganz entschieden nicht der Meinung sind, alle Kulturen
seien gleich gut, für die es vielmehr nur eine einzige gute gibt, die
eigene. Was also,
wenn es zu den Besonderheiten der geförderten fremden Kultur gehört,
Ehebrecherinnen zu steinigen? Kleinen Mädchen die Klitoris
herauszuschneiden? Homosexualität als Verbrechen zu verfolgen?
Andersgläubige auszupeitschen? Offen Antisemitismus oder anderen
Rassenhaß zu proklamieren? Ist das fremdes Kulturgut, das Respekt
verdient? Oder muß sich die allumfassende Gutwilligkeit der
PC dann doch selber Grenzen
setzen? Muß sie sich gar selber als ein ziemlich spezielles Produkt eben
der verhaßten eurozentrischen Kultur erkennen, für das sie außerhalb
dieser auf wenig Verständnis zählen kann? Und der Gipfel der Zumutung:
ist ihr liberalistisches Geltenlassen von allem, was da kreucht und
fleucht, jedenfalls solange es nicht-weiß und nicht-westlich ist, etwa
auch wieder nur eine Form von
westlichem Kulturimperialismus, und eine ganz besonders raffinierte? Die
Nachfolgerin der ‘Black
Muslim’-Bewegung, die von Louis Farrakhan angeführte ‘Nation of Islam’,
ist notorisch für ihren unverhohlenen Antisemitismus. Wenn ihre
Agitatoren Stimmung gegen die
Jewniversities oder Jew York
machen – ist auch das noch politisch korrekt, da es ja irgendwie im
Rahmen der Emanzipationskämpfe der Schwarzen geschieht? Als Farrakhan im
Oktober 1995 zum ‘Million Men March’ nach Washington aufrief (etwa eine
halbe Million kam), waren von der Kundgebung Frauen ausgeschlossen.
Hätte eine weiße Organisation dergleichen getan, hätte sie sofort die
gesamte Political Correctness
auf dem Hals gehabt – wahrscheinlich hätte sie den Sturm nicht überlebt.
Dürfen also die einstigen Opfer von weißem Rassismus heute selber
Rassisten sein? Ja, genau das dürfen sie, das sollen sie sogar, ist dann
oft die Antwort, denn „Rassismus gibt es immer nur gegenüber
Untergeordneten“ (Paula Rothenberg). So wird etwas sprachlich
wegdefiniert: Was eine
Opfergruppe selber tut, kann niemals Rassismus sein. Es ist nicht
bekannt, wieviel Anklang diese Logik gefunden hat. Vermutlich führt sie
zu jener schizoiden Reaktion, die jedes Inquisitionsklima heranzüchtet:
Öffentlich nickt man vage zustimmend mit dem Kopf; innerlich hält man
sie für baren Nonsens. Viertens:
Diskriminieren bedeutete
ursprünglich „unterscheiden“. In der Wissenschaftssprache bedeutet es
das immer noch. Wer ‘Diskriminationsvermögen’ besitzt, besitzt die
Fähigkeit, Unterschiede zu erkennen. Die Grundüberzeugung der
Political Correctness ist
egalitär, antielitär: Alle Kulturen, alle Religionen, alle Gruppen, alle
Personen sind zwar verschieden, aber keine ist irgendwie schlechter als
die andere, ausgenommen die
weißen heterosexuellen Männer, die schlechter sind als alle anderen.
Die Differenzen dürfen, ja
sollen konstatiert werden; aber mit ihrer Konstatierung darf nie ein
Werturteil verbunden sein. Korrekt? Einige
Lebensbereiche beruhen nun aber auf dem Vermögen, Unterschiede nicht nur
zu konstatieren, sondern auch zu bewerten. Am offensichtlichsten ist es
im Sport. Interessant für die Menschen ist er nicht als
egalitär-demokratische Leibesertüchtigung für alle; gemeinsame Radtouren
einer Freundesschar werden gewöhnlich nicht im Fernsehen übertragen.
Interessant wird Sport erst als ein Wettbewerb, in dem sich
herausstellt, ob die einen besser sind als die anderen: ob sie schneller
laufen, höher springen, härter schlagen, öfter eine Lederkugel in einen
Holzrahmen schießen. Zu diesem Wettbewerb treten nicht nur einzelne,
sondern Gruppen (Clubs, Ortschaften, ganze Länder) an, und ganze Länder
und Kontinente geraten in einen allgemein gebilligten Freudentaumel,
wenn ihre Mannschaft gezeigt hat, daß sie die bessere ist. Es ist
geradezu der Sinn des Spiels, die Besseren von den Schlechteren zu
unterscheiden. Zu den Schlechteren zu gehören, ist indessen kränkend.
Verlierer sind, wenn man so will,
stigmatisiert: eben als die Schlechteren. Sie können sich damit
trösten, daß sie deswegen noch lange nicht die schlechteren Menschen
sind. Aber auf diesem ihrem Parcours sind sie die Schlechteren, und sie
wollten sich messen und haben diese Feststellung damit sogar selber
herausgefordert. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Während sich
das politisch korrekte Denken mit der Tatsache körperlicher
Qualitätsunterschiede offenbar abgefunden hat, sind sie ihm in den
geistigeren Zonen unerträglich. Auch die Künste und Wissenschaften
jedoch beruhen darauf, daß nicht alles gleich gut ist. Eben weil nicht
alle gleich gut singen, tanzen, zeichnen, spielen, schreiben können,
gibt es Kunst. Kunst: das ist die Einsicht der meisten, daß sie es
selber nicht so gut könnten. Auch diese Einsicht kann etwas Kränkendes
haben. Da die Psyche der meisten Menschen jedoch nicht nur aus Neid
besteht, überwiegt in der Regel ihre Freude an Dingen, die sie selber
nicht zuwege brächten, eben weil sie sie selber nicht zuwege brächten.
Je schwerer eine Leistung aussieht, desto größer ist auch ihr Reiz für
die anderen, die sie nicht erbringen können. Das heißt, Kunst ist ihrem
Wesen nach elitär. Sie macht
Qualitätsunterschiede, und sie prämiiert die Besseren. Dieser ihr
Aspekt ist der Politischen Korrektheit nicht geheuer. Sie geht ihm aus
dem Weg, indem sie die (sowieso unbequem schwierige) Qualitätsfrage
wegdrückt. An der sogenannten Kunst interessiert sie dafür, daß es sich
um Gruppenäußerungen handelt. In den „Kanon“ sollen nicht die besten und
noch nicht einmal viele gleich gute Bücher aufgenommen werden; die ganze
Frage „besser“ oder „schlechter“ erscheint als abwegig und irgendwie
unanständig und eine neuerliche Zumutung des
weißen heterosexuellen Mannes.
Der korrekte „Kanon“ wäre der, in dem die
Opfergruppen vertreten sind.
Einerseits meldet die PC
damit eine völlig richtige Forderung an, die auch konsensfähig wäre: daß
die einzelnen Kulturen einer multikulturellen Gesellschaft möglichst
viel übereinander erfahren sollten – und daß die vorhandenen Kanons,
sofern sie eine blinde Voreingenommenheit zugunsten der westlichen
Kultur atmen, berichtigt werden müssen. Aber indem sie die
Qualitätsfrage dabei ausblendet, degradiert sie die Literatur zu einer
bloßen Wortmeldung: Hier sind wir, uns gibt es auch noch! Wenn aber
Literatur und die anderen Künste nur noch als kollektive Wortmeldungen
wahrgenommen werden, sind sie überhaupt nicht mehr nötig. Es gibt viel
effektivere Methoden, die Aufmerksamkeit auf eine Gruppe zu lenken; den
ganzen Umstand der Kunst braucht es dazu nicht. Das
verabsolutierte Gruppendenken, das
die Gruppe, die Interessen
der Gruppen zum Maßstab aller Dinge macht, verkürzt die Literatur auch
dort, wo Qualitätsunterschiede anerkannt werden. Afroamerikaner sollen
auf den Leselisten Bücher von Afroamerikanern vorfinden, Latinos von
Latinos, Frauen von Frauen, Schwule von Schwulen, Lesben von Lesben. Es
werde, heißt es, ihr Selbstgefühl heben. Daß es das tut, ist möglich.
Wenn sie dabei aber das Gefühl beschleichen sollte, daß sie auf der
Liste nur stehen, weil ihre Gruppe nicht übergangen werden sollte, nicht
weil das Buch aus ihrer Gruppe ebenso gut ist, dürfte es ihrem
Selbstgefühl eher schaden. Wieder liegt das Mißverständnis zugrunde, daß
Literatur nichts anderes wäre als ein Container von Meinungen, die bei
der Lektüre umstandslos in die Köpfe eingefüllt werden. Alle Literatur
ist aber in Wahrheit eine Einladung an den selber abwägenden und
urteilenden – den „kritischen“ – Leser; jede richtige Lektüre schult
ihn. Wer dafür sorgen will, daß nur korrekte Bücher gelesen werden, hat
eine sehr geringe Meinung vom menschlichen Verstand; zumindest an
Universitäten ist sie kaum angebracht. Kaum ein anderes Buch dürfte
seine Leser so stark gegen allen Faschismus immunisieren wie Hitlers
Mein Kampf. Literatur ist
auch nicht primär Psychotherapie, ein Mittel zur Erzeugung von
Selbstgefühl. Literatur ist eine Begegnung mit fremden
Vorstellungswelten; Selbstgefühl erzeugt sie nur dort, wo sie dazu
anstiftet, sich selbständig, eben kritisch, mit diesen fremden Welten
auseinanderzusetzen. Noch mehr verkürzt wird sie, wo an ihr nur noch
interessiert, ob die korrekten Gruppen die momentan korrekten
politischen Inhalte vortragen. Diesen Zweck erfüllen die Flugblätter der
entsprechenden Organisationen allemal effektiver als Romane, Dramen oder
Gedichte. Genau darum überleben sie den Moment auch nicht. Genauso
wenig kann es sich die Wissenschaft leisten, Qualitätsmaßstäbe durch
Gruppenzeugnisse zu ersetzen. Nicht jedes Argument ist gleich gut; ein
schlechtes Argument wird nicht besser dadurch, daß es aus einer
bestimmten Gruppe kommt. Wissenschaft ist universalistisch, und wenn sie
es nicht mehr ist, hört sie auf, Wissenschaft zu sein. Ihre Gegenstände
können mit den Zeitströmungen wechseln, ihre Vertreter können in den
verschiedensten Loyalitäten befangen sein, können sogar die abwegigsten
Vorurteile über die Welt und übereinander hegen, so daß der
Ideologieverdacht immer und von vornherein zu Recht besteht – als eine
Methode der Erkenntnisgewinnung funktioniert sie nur, solange sie an
ihrem universalistischen Objektivismus als Ziel festhält: als eine
Methode, die alle Ideen ohne Rücksicht auf ihre Herkunft nach den
gleichen Regeln der Prüfung unterwirft. Sobald sie das Ziel der
Objektivität fallen ließe und glaubte, daß jeder einzelne und jede
Gruppe ihre eigene Wahrheit hätten, hätte sie sich aufgegeben. In den
„weichen“, subjektivistischen, ideologie- und modeanfälligen
Geschichts-, Kultur- und Sozialwissenschaften mag man sich eine Weile
über ihre universalistische Natur hinwegtäuschen.
Black science,
gay science,
female science – fördern sie
nicht alle hochinteressante Ergebnisse zutage? Dringend nötige sogar,
die vordem niemand zutage förderte? Das tun sie. Aber sie tun es nur
dort, wo sie sich der gleichen universalistischen Methode unterwerfen.
Sie richten den wissenschaftlichen Blick auf andere, vorher
vernachlässigte Gegenstände, aber es bleibt der gleiche
wissenschaftliche Blick. Wenn es nicht der gleiche Blick ist, dann ist
es sonst etwas, aber keine Wissenschaft. Und wenn dieser besondere
wissenschaftliche Blick und die Institutionen, die ihn lehren und
anwenden, die Universitäten westlichen Zuschnitts also, ursprünglich von
toten weißen heterosexuellen
Männern geschaffen wurden, dann hilft es auch nichts, dann wurden
sie es eben. In den
„harten“, den Naturwissenschaften kann die Täuschung keinen Augenblick
lang bestehen. Wenn eine Molekularbiologin bei ihren Experimenten
Meßergebnisse bekommt, die alles, was über jenen Ausschnitt der Natur
bisher bekannt ist, auf den Kopf stellen würden, kann sie sich nicht
darauf berufen, daß es sich in ihrem Fall eben um
female science handele und
daß „Frauen (oder Feministen, ob männlich oder weiblich),
als Gruppe eher unparteiische
und objektive Resultate hervorbringen als Männer (oder Nichtfeministen)“
(so die Feministin Sandra Harding). Sie muß sich wie jeder andere, Mann
oder Frau, Feminist oder Nichtfeminist, fragen lassen, ob sie richtig
gemessen hat. Hat sie es, so kann sie sich freuen, denn sie hat eine
große Entdeckung gemacht. Hat sie es nicht, so war es nur ein Fehler,
und wenn es sie als Frau kränkt, daß sie einen Fehler gemacht hat, so
ist das ihr Pech. So erbarmungslos geht es in der Wissenschaft zu, und
nur solange es so erbamungslos darin zugeht, bleibt sie Wissenschaft.
Frauen oder Schwarze oder Schwule mögen andere Gegenstände für
interessant halten und ihre Arbeit auf unterschiedliche Weise tun: Der
Test, der über „richtig“ oder „falsch“ befindet, bleibt für alle der
gleiche. Wenn die Naturwissenschaftler zu der Überzeugung kämen, daß es
separate weibliche oder schwarze oder schwule Wahrheiten gäbe, müßten
sie ihre Labors anderntags schließen. An der
Oberfläche scheint Political
Correctness aus einer Agenda heterogener und variabler Anliegen zu
bestehen, die keinen Zusammenhalt haben. In Connecticut wird eine
Studentin relegiert, weil ein Schild an ihrer Zimmertür
Homos zu jenen Personen
zählte, von denen sie nicht besucht werden wollte; in Pennsylvania wird
ein Juradozent für ein Jahr beurlaubt, muß sich öffentlich entschuldigen
und an einer Sensibilisierungs-Veranstaltung
teilnehmen, weil er, und zwar in betont antirassistischem Zusammenhang,
Schwarze als Ex-Sklaven
bezeichnet hat; in Harvard wird eine Rufmordkampagne gegen einen
Professor für ethnische Studien organisiert, einen liberalen Veteranen
des Antirassismus, weil jemand in seinem Standardwerk das Wort
Indian und
Oriental entdeckt hat; er muß
schließlich seine ganze Lehrveranstaltung absetzen. Solche Vorfälle
scheinen wenig miteinander zu tun zu haben. Wer sich in dem einen Fall
engagiert, tut es nicht automatisch auch in dem anderen – vielleicht
steht er dort sogar auf der entgegengesetzten Seite. Dennoch haben sie
etwas gemein: die Fundamentalisierung des Gruppendenkens, die
Sensibilisierung genannt
wird. Gibt es eine Art Lackmustest für Politische Korrektheit? Er müßte
den Kern treffen und also eruieren, wie absolut sich jemand das
Gruppendenken zu eigen gemacht hat. Vielleicht ist es dieser? Man zeige
der Probandin oder dem Probanden ein wissenschaftliches Ergebnis, das
möglicherweise irgendeiner anerkannten
Opfergruppe nicht gefällt.
Zum Beispiel: daß mathematische Hochbegabung bei Männern häufiger ist
als bei Frauen, während der Begabungsschwerpunkt des weiblichen
Geschlechts im sprachlichen Bereich liegt, daß es zwischen dem
weiblichen und dem männlichen Begabungsprofil also einige statistische
Unterschiede gibt (nachgerade eine wissenschaftliche Binsenweisheit).
Und dann beobachte man die Reaktion: Tritt ein Blick des Entsetzens in
die Augen? Wenn dann noch der Kommentar kommt: Das sei wieder einmal
typisch männliche Pseudowissenschaft, Frauen hätten so etwas nie und
nimmer herausgefunden – dann darf man wohl die sichere Diagnose stellen:
pc.
Eine
Hauptthese der sogenannten
Schwarzen oder
Afrozentrischen Wissenschaft, zuerst vertreten in einem Buch des
senegalesischen Schriftstellers Cheikh Anta Diop (‘The African Origin of
Civilization’), besagt, daß nicht das weiße Europa die Wiege der
westlichen Kultur war, sondern das schwarze Afrika. Die westliche Kultur
entstamme nämlich der ägyptischen Kultur, und die sei eine schwarze
gewesen. So wurde die These seitdem immer wieder popularisiert: Weiße
hätten Schwarzen in Ägypten ihre Kultur geraubt – und dann der Sphinx
die Nase abgeschlagen, damit ihre negroiden Züge nicht mehr auszumachen
wären. (Kann eine Kultur überhaupt geraubt werden? Eine Kultur kann
unterdrückt oder gefördert oder oktroyiert oder auch übernommen werden,
aber wenn sie Fremden so zusagt, daß sie sie übernehmen, ist sie damit
niemandem geraubt.) Es handelt
sich da nicht um eine Glaubenssache, sondern um eine empirische Frage:
Welche Hautfarbe hatten die alten Ägypter? Da sie schon lange nicht mehr
unter uns weilen, kann man es nicht sicher wissen. Man kann es nur aus
den erhaltenen Zeugnissen zu erschließen versuchen. Weiße
Berichterstatter haben sie teils geweißt, teils geschwärzt; Augenzeugen
ist nicht immer zu trauen. Sie selber haben sich in ihrer Kunst jedoch
dargestellt, und zwar teils rötlichbraun, teils ockergelb, teils weiß,
insbesondere die Bewohner des Südens auch teils dunkelbraun. Die
Mehrheit der Ägyptologen hat daraus den Schluß gezogen, daß im alten
Ägypten offenbar Menschen verschiedener Hautfarbe zusammenlebten, im
Süden auch dunklere. Dennoch schreibt der Schwarze Wissenschaftler
Molefi Kete Asante, es werde heute überhaupt nicht mehr bestritten, daß
Ägypten ein schwarzafrikanisches Land war, und sicher sagt er nicht
wissentlich die Unwahrheit. Den
Widerspruch mag unabsichtlich jene Zeitung geklärt haben, die eine
telefonische Rundfrage bei amerikanischen Ägyptologen veranstaltete und
sie fragte, was sie von der These eines Schwarzen Ägyptens hielten. Die
meisten (oder waren es alle?) sagten, daß sie sie für falsch hielten –
daß sie aber aber um Himmels willen nicht beim Namen genannt werden
wollten, da sie sonst Scherereien bekämen. Und das ist
ein Ergebnis des inquisitorischen Gesinnungsdrucks, das auf Dauer
gefährlicher ist als die spektakulären Fälle von Zensur: daß ganze
Fachbereiche sich daran gewöhnen, fünf gerade sein zu lassen. Halb zog
sie ihn, halb sank er hin. Zum einen sind die Wünsche ja verständlich
und nicht unberechtigt. Zum anderen hat man ein ebenso verständliches
Interesse daran, Scherereien aus dem Weg zu gehen und sich nicht etwa
von Flugblättern oder Sprechchören als Rassist oder Sexist anspucken zu
lassen. So lernt ein ganzes Fach nach und nach, daß es besser ist,
Forschungsprojekte, bei denen das Falsche herauskommen könnte, gar nicht
erst in Angriff zu nehmen, daß bestimmte Fragen besser ausgeklammert
bleiben, um in Ruhe den übrigen nachgehen zu können, daß bestimmte
Autoren besser nicht zitiert werden, andere aber bei jeder Gelegenheit,
daß bestimmte Kollegen besser nicht berufen oder zu den Fachtagungen
eingeladen werden, daß man ihren Arbeiten Formfehler ankreiden muß, die
man jedem anderen achselzuckend durchgehen ließe, daß man scheinbar
kompromittierende Zitate eines in Verruf geratenen Kollegen unentwegt
voneinander abschreiben darf, ohne jemals nachzuprüfen, ob sie dessen
Meinung richtig spiegeln, daß man ihn vielleicht sogar aus dem
Fachverband ausschließen und damit wissenschaftlich zur Unperson machen
kann, daß man sich zu bestimmten Fragen klugerweise überhaupt nicht
äußert, daß man besser durch irgendein Denkopfer die Harmlosigkeit der
eigenen Position demonstriert – und im weiten Umkreis sehen alle
betreten weg, um nicht selber noch in Sachen hineingezogen zu werden,
die ja gar nicht die ihren sind. Niemand hat etwas Unredliches getan,
zumindest ist ihm nichts Unredliches nachzuweisen, es wurde nur die Form
der Bewahrheitung still und unauffällig ein wenig verändert – aber schon
neigt sich die Wahrheit ein wenig, biegt sich, verbiegt sich, kippt. Und
die Medien können melden, die einhellige Meinung der Experten sei die
und die. Wenn die
Ansprüche der Political
Correctness so stark auf die Sprache durchschlugen, dann sicher auch
deshalb, weil sprachliche Reformen allemal die billigsten sind. Der
Hauptgrund aber dürfte gewesen sein: daß sich die Überzeugung
durchsetzte, jeder einzelne und jede Gruppe habe ein Recht darauf, sich
nicht verletzt zu fühlen. Wohlgemerkt: nicht ein Recht darauf, nicht
verletzt zu werden, sondern sich nicht verletzt zu fühlen, auch nicht
durch Worte – ein entscheidender Unterschied. Ist es nicht logisch und
nur gerecht? Unter allem, was den
Opfergruppen in der Vergangenheit angetan wurde, waren meist auch
sprachliche Verletzungen (hurtful
speech, hate speech); zum
Beispiel kursierten allerlei Schmähworte für sie. Wer ein Ende der
Diskriminierungen will, muß der nicht auch ein Ende dieser Schmähungen
wollen? Schmähung
aber ist gar nicht der Punkt. Daß es ein Recht darauf gibt, nicht
beschimpft zu werden, ist unstrittig. Beleidigungen – ob mit Worten,
Gesten oder Taten – sind überall verpönt und verboten. Um sie brauchte
kein Aufhebens gemacht zu werden. Ihretwegen müßten nicht ganze
Sprachfelder umgepflügt werden. Es geht aber gar nicht um die mit
Absicht oder im Affekt gebrauchten Schimpfwörter. Es geht um an sich
neutrale Wörter, die indessen jemand als verletzend empfindet. Das
Kriterium also hat sich verschoben. Ob ein Wort verletzend ist,
entscheidet sich nicht daran, ob es nach allgemeinem Sprachverständnis
objektiv verletzend ist – und auch nicht daran, ob es in verletzender
Absicht gebraucht wurde. Es soll sich allein am Gefühl des Verletzten
entscheiden. Nun können
Gefühle objektiv angemessen sein, aber auch unangemessen; sie können
sogar rundheraus irren. Aber subjektiv sind Gefühle immer wahr. Damit
sind sie auch unwiderlegbar. Es gibt keine Berufung gegen sie. Wer ein
Gefühl verletzt, ist von vornherein verurteilt. Unschuldsbeweise läßt
ein Gefühl nicht zu. Es läßt sich noch nicht einmal ein echtes von einem
nur behaupteten Gefühl unterscheiden. Ob jemand schuldig ist oder nicht,
liegt allein im Belieben des Verletzten. Der Wahrheitsbeweis ist sein
Gefühl. Wenn jemand einen anderen
Kanake nennt, so hat er objektiv ein Schimpfwort gebraucht und muß
sich darauf gefaßt machen, daß der sich mit einem
Arschloch oder einer Ohrfeige
oder einer Strafanzeige revanchiert, und das ist richtig so: Einer soll
dem anderen keinen Schaden zufügen, auch nicht durch Worte. Wenn ich
jedoch einen Schwarzen Neger
nenne, habe ich kein Schmähwort benutzt und wollte wahrscheinlich auch
keines benutzen. Das aber hilft mir nicht, wenn er oder jemand in seinem
Namen sagt: gleich, ob er objektiv geschmäht wurde oder ob ich ihn
schmähen wollte, also unabhängig vom Bedeutungsgehalt des Wortes oder
von meiner Absicht, fühle er sich geschmäht, und aus seinem verletzten
Gefühl folge, daß ich ein hassenswerter Rassist sei. Nirgendwo ist die
Rechtsordnung auf das bloße subjektive Gefühl des Geschädigten
abgestellt. Niemand dürfte einen anderen zu einem Dieb erklären und ihn
wegen Diebstahls bestrafen lassen, nur weil er sich bestohlen fühlt,
auch wenn tatsächlich nichts gestohlen wurde. Im Fall der sogenannten
hate speech, der
‘Haßsprache’, wurde dieses gesunde, ja für jede Gesellschaft
lebensnotwendige Prinzip außer Kraft gesetzt. In Amerika fanden bereits
Prozesse statt, in denen sich einzelne Schadenersatz für den ihnen
angeblich verbal angetanen seelischen Schmerz erstreiten, also ihr
Gefühl der Verletztheit in Bargeld verwandeln wollten. Und es ist
nicht einmal notwendig, daß jemand sich subjektiv wirklich verletzt
fühlt. Es reicht, daß er sich verletzt fühlen könnte. Es reicht, daß ein
paar Aktivisten behaupten, Angehörige dieser oder jener
Opfergruppe könnten sich
verletzt fühlen. Es reicht die bloße Befürchtung, ein paar
anstoßnehmende Aktivisten könnten sich prophylaktisch im Namen einer
Opfergruppe verletzt fühlen. Das Bemühen,
den Opfergruppen jedes
mögliche Gefühl sprachlicher Verletztheit zu ersparen, heißt (rassische,
ethnische,
sexuelle)
Sensibilisierung. Gegen
Unsensibilität gibt es
Umerziehungskurse, eine Art Zwangsnachhilfeunterricht in
PC. Wenn
Sensibilität aber nicht mehr
nur eine persönliche Eigenschaft ist, der gegenüber andere die Freiheit
behalten, sie angemessen oder unangemessen zu finden, wenn sie zum
politischen Programm erhoben wird und sich in Interessenvertretungen
organisiert, setzt sofort ein Wettbewerb ein, bei dem jeder den anderen
an Sensibilität zu
übertreffen sucht. Auf den
ersten Blick erscheint die Forderung nur allzu billig: Niemand soll
einen anderen verletzen. Aber sobald man seelische Verletzungen –
Verletzungen durch Worte – körperlichen Verletzungen gleichstellt, also
eine Art Rechtsanspruch auf seelische Unversehrtheit einführt, und
sobald allein der angeblich Verletzte und seine Fürsprecher definieren,
wann eine seelische Verletzung vorliegt, zeigt sie ihren Pferdefuß.
Natürlich können nicht nur einzelne Wörter verletzen, sondern auch Sätze
und Meinungen und wissenschaftliche Theorien. Galilei und Darwin haben
viele Gläubige tief verletzt, und es handelte sich um wirkliche, nicht
nur um von den Kirchen behauptete Verletzungen; heute verletzt viele die
Ausdehnung der Evolutionstheorie auf die Psyche und den Geist des
Menschen. In der Wissenschaft geht es überhaupt außerordentlich
verletzend zu – ihr Lebenselixier ist Kritik, Kritik verletzt, selbst
die schonend vorgetragene, nicht Recht zu bekommen ist kränkend, und
manche Ergebnisse des Wissenschaftsprozesses haben das Zeug, auch in der
Allgemeinheit Verstörung und Kränkung zu bewirken. Ein Rechtsanspruch
auf seelische Unversehrtheit brächte alle Wissenschaft zum Erliegen.
Wollte der Staat seinen Bürgern die seelische Unversehrtheit
garantieren, müßten alle Debatten ein Ende haben; er selber müßte dann
festlegen, welche Worte, Meinungen, Theorien ihnen zugemutet werden
können und welche zu verbieten sind – das heißt, das Prinzip der
seelischen Unversehrtheit wäre auch das Ende der liberalen Gesellschaft.
PC also
ist unter anderem das Bemühen, die anerkannten
Opfergruppen sprachlich
aufzuwerten und wenn schon nicht aus dem Leben, so zumindest aus der
Sprache alles zu tilgen, was an ihre
Stigmatisierung erinnern
könnte. Wie weit das gehen kann, macht der Leitfaden klar, der 1990 am
Smith College in Northampton, Massachusetts, den Studienanfängerinnen in
die Hand gegeben wurde (er wurde schon im Jahr darauf wieder
zurückgezogen). Zu Tabus erklärte er nicht nur die Standard-Ismen, die
man hier erwartet: Rassismus
(„Unterdrückung anderer Gruppen“),
Ethnozentrismus
(„Unterdrückung anderer Kulturen“),
Sexismus (die Diskriminierung
von Frauen), Heterosexismus
(die Diskriminierung von Homosexuellen),
„Klassismus“ („Unterdrückung
der Arbeiterklasse“ – wohl um auch den übriggebliebenen Marxisten einen
Platz innerhalb der PC
einzuräumen). Eine herrschende Stimmung aufgreifend, fügte er einige
durchaus neue hinzu: ageism
(„die Unterdrückung der Jungen und Alten durch jene mittleren Alters“),
lookism („die Konstruktion
eines Schönheitsstandards“) und, vor allem,
ableism (Elitismus),
nämlich „die Unterdrückung der Andersbefähigten durch die zeitweilig
Befähigten“. Also
vermeide man (wie es eine an der Universität Missouri erarbeitete
Sprachregelung für Journalisten empfahl) nicht nur das Wort
alt, sondern alle Hinweise
auf das Alter. Alte sind
senior citizens,
‘Seniorbürger’; der Vorschlag „Juniorengel“ war dagegen nur einer der
satirischen Scherze, zu denen diese Kunst der schonungsvollen
Umschreibung geradezu herausfordert. Man vermeide jeden Hinweis auf das
Aussehen, zumindest jeden, der auf gutes Aussehen hinweist und so die
weniger gut Aussehenden verletzen könnte. Und man vermeide vor allem
jeden Elitismus, den
Beelzebub schlechthin, der daran erinnert, daß es Menschen verschiedener
geistiger Ausstattung gibt. Worte wie
dumm sind sowieso längst
tabu; doch auch Umschreibungen wie
minderbegabt sind noch zu
deutlich – andersbefähigt
also; und wem auch das noch zu verletzend scheint, sage
von den zeitweilig Befähigten
andersbefähigt genannt, um klarzustellen, daß hier die etwaige
Dummheit allein in den Köpfen jener anzutreffen ist, die nach
traditionellem Verständnis eher die Helleren sind. Im gleichen
„Wörterbuch zu vermeidender Wörter und Wendungen“ steht auch folgender
Eintrag: „Mann, Der: Hinweis auf das vorwiegend weiße Establishment.
Könnte verletzend wirken.“ Anscheinend soll der Unterdrücker par
excellence, der weiße
heterosexuelle Mann, in der sprachlich berichtigten Welt durch
Verschweigen gestraft werden. Ähnliche
sprachliche Rücksicht wurde dem Sachverhalt der Armut zuteil. Die
poor (Armen)
wurden zu den needy (Bedürftigen),
diese zu den deprived (Deprivierten),
diese zu den underpriviliged
(Unterprivilegierten) und
diese schließlich zu den
disadvantaged (Benachteiligten).
Sie wohnen in keinem Slum,
sondern einem kulturell
deprivierten Milieu. Ähnlich wurden
Kranke und
Invaliden zu den
handicapped (Behinderten),
diese zu den disabled (Entfähigten)
und diese schließlich zu den
Andersbefähigten (differently
abled) oder körperlich
Herausgeforderten (physically
challenged). Daß Kleine
vertikal Herausgeforderte heißen sollen, war jedoch ebenfalls nur
ein Scherz. Auch die
Bezeichnungen der Opfergruppen
selbst wurden renoviert. Die männlichen Homosexuellen machten sich ein
Schimpfwort zu eigen, gay (schwul),
so wie sich die Schwarzen in den siebziger Jahren plötzlich selber stolz
black nannten. Aber wehe,
jemand benutzte eins der anderen alten Schimpfwörter,
fairy oder
queer etwa. Die
Feministinnen bescherten der englischen Sprache das praktische, ja
unentbehrliche Ms., das den
Briefschreiber heute der unmöglichen und entwürdigenden Wahl zwischen
Mrs. und
Miss (Ehefrau und
unverheiratete Frau) enthebt. Das Motionsproblem besteht im Englischen
nicht in der gleichen Schärfe wie im Deutschen: Einige Bezeichnungen
zwar werden moviert (waiter/waitress),
die meisten aber – student,
teacher,
scientist – meinen Frauen und
Männer gleicherweise. Also konnte gar keine Versuchung aufkommen, neue,
feminine Formen in Verkehr zu bringen. Das Problem taucht nur dort auf,
wo ein Pronomen auf eine solche geschlechtsneutrale Gruppe Bezug nimmt:
The student came in, and (he
oder she?)
asked… Handelt es sich um eine bestimmte bekannte Person, so ist der
Fall klar: Es ist das natürliche Geschlecht gefordert. Aber was, wenn es
sich um eine unpersönliche Aussage handelt:
the teacher who receives the
information… Ist das männlich oder weiblich zu lesen? Hier
protestierten Feministinnen schon in den siebziger Jahren: Es müsse doch
nicht immer nur maskulin weitergehen. Seitdem taucht an dieser Stelle
auch in mancher wissenschaftlichen Literatur das Femininum auf. Manche
Autoren lassen Maskulinum und Femininum sorgfältig ausgewogen
abwechseln. Auch das ist eine harmlose Korrektur, die der Sprache
keinerlei Gewalt antut. Aber da es die Norm verletzt, wurde es zu einem
starken Signal. Wer an solchen Stellen grundsätzlich immer nur
she schreibt, der gilt heute
als ausgemacht pc. Wenn eine
Frau es tut, hat es einen kämpferischen, bei einem Mann einen
anbiederischen Zungenschlag. Eine
rundheraus lächerliche Neuerung war es dagegen, als Feministinnen auch
das Wort girl auszumerzen
suchten, wohl weil es in ihren Ohren fast wie eine sexuelle Belästigung
klang, denn amerikanische Männer nannten und nennen Frauen bis ins reife
Alter gerne und eher liebevoll als despektierlich
girl (bei entsprechendem
Alter nicht zu übersetzen mit
Mädchen, sondern mit junge
Frau – und mit den Jahren wandert der Ton im Deutschen hinüber zu
jung). Aber heute soll es nun
nur noch highschool women
geben, ‘Oberschulfrauen’. Eine Logik, die aus Gruppenbezeichnungen jeden
Hinweis auf die Jugendlichkeit tilgen will, weil sie ihn offenbar für
stigmatisierend hält, müßte
konsequenterweise zu *Kindergartenfrauen
und weiter zu *Personengartendamen
führen. Die
Orientals wurden zu den
Asian-American. Die
illegal aliens (die
illegalen Ausländer, die
meisten von ihnen Hispanics,
nämlich Arbeitsimmigranten aus Mexiko), wurden zu
undocumented residents (ausweislosen
Bewohnern). Aus den Indians
(übrigens die Selbstbezeichnung der meisten) wurden
Native Americans – und
plötzlich standen alle anderen Amerikaner da, als wären sie im Ausland
geboren. In einem
Artikel mit dem Titel „Wie man seine Ausdruckskraft vermindert“ hat der
Fernsehkritiker Walter Goodman in der ‘New York Times Book Review’ auf
den eigentümlichen Umstand aufmerksam gemacht, daß längere Bezeichnungen
sich irgendwie korrekter machen als kürzere.
Asian American
(‘Asienamerikaner’) statt
Orientale, jüdische Person
statt Jude, senior citizen
(‘Seniorbürger’) statt elderly
(‘Älterer’), person with
disabilities (‘Person mit Entfähigungen’) statt Invalide – keine der
alten Bezeichnungen war verletzend, und sowieso bedeuten die neuen genau
das gleiche. Aber sie sind länger. Vielleicht wird die schiere Länge als
Signal dafür aufgefaßt, daß der Sprecher oder Schreiber es sich etwas
kosten läßt, sprachliche Rücksichtnahme walten zu lassen:
Selbstkasteiung zum Zwecke scheinhafter sozialer Gerechtigkeit. Länger
ist korrekter – das scheint die eine Regel zu sein; die andere lautet
natürlich: Im Zweifelsfall nehme man das allgemeinere, abstraktere,
blassere Wort. An den
Verhältnissen selbst ändert der Austausch von Wörtern nichts. Und ob er
zumindest die Domäne der Sprache etwas freundlicher und gerechter
gestaltet, steht dahin – denn wo es emotionale Vorbehalte und
Abneigungen gegen bestimmte Gruppen gibt, haften sich diese alsbald auch
an neue Wörter, so daß ein ständiger Austausch nötig wird. Die
Entwicklungsreihe von negroes
zu Negroes zu
non-whites zu
colored (heute:
persons of color) zu
blacks zu
minority (group) zu dem heute
korrekten African Americans
ist ein Beispiel. Auf jeden
Fall aber machen die politisch korrekten Sprachregelungen das Sprechen
zu einem ständigen Eiertanz. Könnte das Wort, das mir auf der Zunge
liegt, eventuell jemanden verletzen? Habe ich jemanden, den ich nennen
sollte, weil auch er einer
Opfergruppe angehört, nicht ausdrücklich mitgenannt und damit
ausgegrenzt? Im Falle des
letzten Satzes also zum Beispiel die Frauen, indem ich ‘er’ gesagt habe?
Steckt in dem gewählten Wort etymologisch oder pseudoetymologisch eine
Anspielung auf eine nicht erwünschte Gruppe? Könnte es jemanden an das
erinnern, was er vielleicht gern wäre, aber nicht ist? Ist es geeignet,
irgendein Stereotyp zu befestigen, und sei es das Stereotyp, daß Alte
alt und Dicke dick sind? In den
Kämpfen und Krämpfen, die das Erlernen eines multikulturellen
Zusammenlebens notwendig begleiten, muß Amerika der ganzen Menschheit
vorangehen. Aber PC ist nicht
nur ein amerikanisches Phänomen. Aus Japan wird von einer ähnlichen
linguistischen Säuberung berichtet: daß in seinen Fernsehanstalten und
Nachrichtenagenturen Listen mit Unworten kursieren; daß die Wörter für
‘blind’, ‘taub’, ‘stumm’, ‘dumm’, ‘verrückt’ nicht mehr öffentlich
gebraucht werden dürfen, nicht einmal in unverfänglichen Redensarten wie
„die Uhr spielt verrückt“; daß ein Science-Fiction-Autor, in dessen
einem Roman Epileptikern Fahrverbot erteilt wird und der damit den
Epileptikerverband gegen sich aufbrachte, das Schreiben überhaupt
einstellte –„danpitsu“, eine Art von schriftstellerischem Harakiri. Hätte
Deutschland ähnliche soziale Konflikte wie die Vereinigten Staaten, es
ginge daran zugrunde. Es hat sie nicht. Ist somit auch das Phänomen
PC Deutschland erspart
geblieben? Ist es nichts als paranoide Einbildung, wenn auch hierzulande
einige über ein inquisitorisches geistiges Klima Klage führen? Zum
Beispiel der Historiker Christian Meier: „[Es] entsteht ein
bemerkenswerter Meinungsdruck. Wer die Probleme anders sieht, sehr viel
größer und schwieriger, wer fürchtet, daß die massierte Gutwilligkeit
dabei ist, sich angesichts einer ihr zunehmend weniger entsprechenden
Realität zu verschleißen, sieht sich zwar nicht geradezu Denkverboten,
aber doch allen möglichen Drohungen, wenn nicht gar Verleumdungen
preisgegeben, wie etwa Botho Strauß sie inzwischen so vielfältig hat
erfahren müssen, wie früher schon Martin Walser; zu allermindest ist man
der Verständnislosigkeit ausgesetzt. Man erscheint als Pessimist, als
Miesmacher, wenn nicht als Nationalist oder gar Faschist…“ Sieht Meier
Gespenster? Gibt es in Deutschland das Analogon zur amerikanischen
political correctness
überhaupt? Es gibt sie
nicht, wird dem Miesmacher entgegengehalten. Als 1993 ein Autor
(zufällig war ich es selber) in der Wochenzeitung ‘Die Zeit’ das
amerikanische PC-Phänomen
erstmals versuchsweise auf deutsche Zustände projizierte, wurde er
sogleich scharf zurechtgewiesen, sinngemäß: Erstens gebe es das hier gar
nicht, zweitens bestehe es völlig zu Recht. Die
Politische Korrektheit ist keine irgendwo kodifizierte Lehre. Es läßt
sich nirgendwo nachlesen, was in ihrem Sinn korrekt sein soll. Sie
enthält kein festes Repertoire an Thesen. Sie ist vielmehr ständig in
Fluß. Sie ist nicht festzunageln. Sie hinterläßt keine Signaturen,
sondern nur Folgen. Sie läßt sich darum auch kaum schwarz auf weiß
nachweisen. Sie läßt sich nur spüren. Wer, wie Konrad Adam in einem
Leitartikel der ‘Frankfurter Allgemeinen’, in Deutschland überall
dreiste „Sprachanweiser“ am Werk sieht, die definieren, was politisch
korrekt und was unkorrekt ist, um dann alles Unkorrekte „anzuprangern“,
verkennt das Phänomen völlig – er übertreibt es, und gerade darum
unterschätzt er es. Diese „Anweiser“ gibt es nicht. Niemand schreibt
anderen etwas vor. Die deutsche PK hat überhaupt kein Subjekt, an das
sich halten könnte, wer mit ihr nicht einverstanden ist. Sie ist etwas
viel Ätherischeres, das gerade darum eine solche Durchdringungskraft
besitzt: ein spontanes Einverständnis der Gutwilligen. Sie müssen gar
nichts definieren und erst recht nichts dekretieren. Welche neue Frage
auch immer auftaucht, sie wissen wunderbarerweise, was davon zu halten
ist, und müssen sich darüber gar nicht erst einig werden, sie wissen es
von vornherein. Diese untereinander Einigen weisen sich durch die
Verwendung einer Reihe von Begriffen aus, die sie ihrer Rede als
Erkennungsmarken anstecken. Man kann ihren Kreisen beitreten, man kann
es aber auch lassen, und meistens geschähe einem nichts – nur daß man
sich selber aus dem Kreis der Gutmenschen ausgeschlossen hätte, von
ihnen fortan scheel angesehen würde und irgendwann sein Fett bekäme. PK
ist nämlich so etwas wie eine kollektive Stimmung, ein starker, steter
Wind aus politischen und sozialen Grundsatzgefühlen, der ursprünglich
von links kam, aber längst die ganze Landschaft bestreicht und in das
alte Links-rechts-Schema überhaupt nicht mehr einzupassen ist. Daß eine
bestimmte Brise bläst, merkt natürlich nie, wer sich mit ihr bewegt. Ist
sie darum unfaßbar? Ich zähle
hier, mehr oder weniger aufs Geratewohl, ein Bäckerdutzend einzelner
dezidierter Meinungen auf, die heute in jedem Audimax, auf jedem
Kirchentag, bei jedem Treffen einer Bürgerinitiative tonangebend sind,
von jedem Teilnehmer erwartet werden und nicht erst begründet werden
müssen, also dort als selbstverständlich richtig gelten – und sage
prophylaktisch dazu, daß ich sie persönlich für legitim und ehrenwert
und auch nicht für durchweg falsch halte, nur keine von ihnen für
selbstverständlich gewiß.
Wenn es schon deutsche Soldaten
geben muß, sollen sie wenigstens nicht ins Ausland entsandt werden.
Keimbahntherapie darf unter keinen Umständen erlaubt werden. Schon das
Wort ‘Elite’ läßt einem die Haare zu Berge stehen. Nationalsozialismus
und Kommunismus dürfen niemals miteinander verglichen werden. Ausländer,
die in Deutschland Zuflucht suchen, sollen nicht abgewiesen und nicht
abgeschoben werden. Verkehr entsteht durch Verkehrsermöglichung; um den
Verkehr zu reduzieren, müßten nur Straßen und Pisten „zurückgebaut“,
jedenfalls nicht weiter ausgebaut werden. Alle Unterschiede zwischen den
Menschen sind kulturbedingt und könnten durch entsprechende Erziehung
eingeebnet werden. Naturheilmittel sind allemal besser als synthetische
Medikamente. Volkszählungen sind des Teufels. Ölplattformen dürfen nur
an Land und nicht auf See entsorgt werden. An allen Übeln der farbigen
Welt ist der weiße Norden schuld. Wenn es nur wenige Physikerinnen gibt,
dann allein darum, weil die Männer sie aus diesem Beruf ferngehalten
haben. Gentechnisch faulresistent gemachte Tomaten sind
gesundheitsschädlich und ekelhaft.
Auf den ersten Blick nimmt sich das als ein
chaotisches Sammelsurium aus. Die dreizehn Meinungen scheinen nicht das
geringste miteinander zu tun zu haben. Möglicherweise ist es so: daß der
Zufall – eine eindrucksvolle Fernsehsendung hier, eine eindrucksvolle
Rede auf einer Demo da – aus allen Richtungen einen Haufen Meinungen
zusammenweht, die vielen auf Anhieb einleuchten, weil überhaupt keine
Alternativen dazu denkbar sind, und die dann zusammenkleben und meist
gemeinsam vorkommen. Nun setze man aber das Gedankenexperiment fort und
stelle sich vor, auf einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung sei
irgendeine Auswahl aus diesen Meinungen vorgetragen worden, und jetzt
trete jemand ans Saalmikrofon und behauptete für jede das genaue
Gegenteil. Sollen sie die
Ölplattform doch versenken. Die Dritte Welt hat sich ihre
Schwierigkeiten selbst eingebrockt. Wir brauchen eine Elite. Der Zustrom
von Ausländern muß gedrosselt werden… und so weiter.
(Und noch einmal sage ich vorbeugend, daß das, jedenfalls in dieser
Form, nicht meine Meinungen wären.) Was würden die anderen von ihm
denken? Was würden sie ihm bald entrüstet ins Gesicht sagen? Genau:
Faschist! Viele jener
Meinungen haben, bald direkt, bald indirekt einen Fluchtpunkt. Er heißt
Faschismus.
Ins Ausland sollen keine
deutschen Soldaten entsandt werden, weil Hitlers Wehrmacht leider im
Ausland war. Keimbahntherapie darf nicht sein, weil sie auf einen
Züchtungsversuch hinausliefe, wie ihn sich schon die Nazis vorgenommen
hatten. Schon das Wort ‘Elite’ läßt einem die Haare zu Berge stehen,
weil es an die ‘Herrenrasse’ der Nazis erinnert. Die Politische
Korrektheit wacht also darüber, daß nicht faschistisches Gedankengut in
irgendeiner neuen Verkleidung wiederauflebt. Der antifaschistische
Impetus ist es, der die meisten jener dreizehn Meinungen verbindet.
Nicht oder nur auf Umwegen diesem Fluchtpunkt zuzuordnen sind jene
Meinungen, die aus der Ökologiedebatte stammen und deren Fluchtpunkt
etwa lautet: Natur ist gut, Menschenwerk ist schlecht. Damit ist aber
nicht nur ein gewisser innerer Zusammenhang jener Meinungen
demonstriert, sondern auch die Nähe zu dem amerikanischen
PC-Phänomen.
Sexist,
Rassist,
Faschist! – als das wird gebrandmarkt, wer sich nicht
politically correct verhält.
Allerdings, ‘Faschist’ klingt in Amerika etwas anders. Außer im
Gedächtnis der Juden ist hier der ‘Faschist’ ein mythischer Übeltäter,
der weit weg und in ferner Vergangenheit Monstrositäten begangen hat, so
etwas wie Dracula. In Deutschland hat das Wort aus offensichtlichen
Gründen eine unmittelbarere, drohendere Bedeutung, und die Brandmarkung
als Faschist oder
Nazi ist eine viel härtere
Sanktion. Soweit
scheint alles völlig in Ordnung. Faschistische Ideen haben sich auf die
denkbar schmerzhafteste Weise selber hinlänglich widerlegt. Sie fehlen
im dissonanten Konzert der Meinungen nicht. Sie sind nicht nötig, um
irgendeinen Erkenntnisprozeß voranzutreiben. Die Allgemeinheit kann auf
sie verzichten. Die Meinungsfreiheit deckt keine Aufforde-rungen zu
Verbrechen. Glückliches Land, das so viele argwöhnische Wächter hat!
Oder etwa nicht? Die
Faschismusprophylaxe ist ein guter und moralischer Zweck, aber auch die
besten Zwecke rechtfertigen keine Wiedergeburt der Inquisition. Dies
darum, weil auch „Faschismus“ kein zweifelsfrei erkennbares objektives
Merkmal ist. Wer bei einem anderen Faschismus diagnostiziert, kann sich
täuschen. Selbst wenn jemand von sich selber sagt, er sei Faschist, kann
er im Irrtum sein. Ein subjektiver Verdacht kann niemals auch schon das
endgültige Urteil darstellen. Wie es gegen den Pornographieverdacht
eines Zensors eine Berufung geben muß, so hätte es sie auch gegen den
Faschismusverdacht zu geben. Wenn es sie nicht gibt, werden unter den
leichthin als „faschistisch“ abgewürgten Ideen auch fruchtbare und
notwendige sein –oder schlicht richtige. Noch schärfer nämlich stellt sich das Problem, wenn die „Ideen“ keine bloßen Meinungen irgendwo im letztlich unnachprüfbaren Gewölle sozialer Werthaltungen sind, sondern wissenschaftliche Erkenntnisse, die nach den anerkannten Regeln der Kunst aus empirischen Beobachtungen abgeleitet wurden – wenn also ein begründeter Verdacht besteht, daß die „Ideen“ schlechthin richtig sind. Der Volksmund nennt bestätigte objektive Sachverhalte kurzerhand – und etwas voreilig – „Tatsachen“. Können derartige Tatsachen faschistisch sein? Das nicht, wird man sagen, aber es disqualifiziert eine solche Tatsache durchaus, wenn sie den Nazis möglicherweise willkommen gewesen wäre. Den Nazis vielleicht willkommen gewesen wären die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Erblichkeit der gemessenen Intelligenz, die sich Ende der sechziger Jahre angehäuft hatten; vielleicht auch nicht, aber es ist nicht auszuschließen. Prompt wurden die Psychologen, die diese Tatsachen eruiert und gemeldet hatten, als Faschisten beschimpft und auf vielfache Weise inquisitorisch schikaniert; der ganze Forschungszweig ist seitdem in Verruf, in Deutschland noch mehr als in Amerika, und kann nur unter vielfachen Behinderungen weiterverfolgt werden. [...] Eine
wissenschaftliche Erkenntnis aber verschwindet nicht durch
Zensurmaßnahmen, und seien diese noch so moralisch motiviert. Eine
wissenschaftliche Erkenntnis verschwindet nur, wenn sie widerlegt wird.
Was an ihr richtig ist, bleibt es auch, wenn es mit vernichtenden
Epitheta wie faschistisch
bedachte wurde. Wegzensierte wissen-schaftliche Erkenntnisse führen nur
zu einer Realitätsspaltung: Auf der einen Seite gibt es dann die
Erkenntnisse, die man laut aussprechen darf, auf der anderen die, die
sich die Informierten still denken, ein im Untergrund wucherndes und
dort nicht richtiger werdendes Geheimwissen. Und die Gesellschaft läuft
Gefahr, sich ein schimärisches Wirklichkeitsmodell zu eigen zu machen. Nach meinem
Geschmack tut die Frage, was wohl die Nazis zu dem oder jenem gesagt
hätten, diesen sowieso viel zuviel Ehre an. Daß die Nazis Schiller und
Schäferhunde mochten, kann kein Grund sein, Schiller und Schäferhunde zu
hassen. Wenn das Nazitum etwas gut und richtig fand, wird es allein
dadurch noch nicht schlecht und falsch; was das Nazitum schlecht fand,
wird allein darum noch nicht automatisch gut. Das Nazitum war ein
barbarisches Wahnsystem, das den Staat ursurpiert hatte. Es ist
konsequenterweise an seiner Wahnhaftigkeit zugrunde gegangen. Es
verdient nicht, nach seinem Untergang zum Schiedsrichter darüber
eingesetzt zu werden, was als richtig und als falsch gelten soll. Das politisch korrekte Denken ist ein grundsätzlich kämpferisches Denken und damit strikt dualistisch, ja eschatologisch: letztes Heil gegen letztes Unheil. Es sieht die Welt in einem krassen Schwarz-Weiß, nicht in verfließenden Farben. Das Zwar-Aber, das Teils-Teils, das Einerseits-Andererseits, die die Wissenschaft zum Prinzip erhoben haben, sind seine Sache nicht; es ist ihm zutiefst unsympathisch. Was nicht gut ist, ist schlecht und muß bekämpft werden. Dem relativistischen Gedanken, daß sich vieles unter verschiedenen, durchaus nicht von vornherein verwerflichen Aspekten sehen läßt und damit gut und schlecht zugleich sein könnte, mag es nicht nähertreten. Seine eschatologische Militanz ist ein Erbe aus den linksradikalen Oppositionsbewegungen der sechziger und siebziger Jahre: Hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Erkämpft das Menschenrecht! Demgemäß schätzt es Kritik, Nonkonformismus, Widerstand. Es nennt den und nur den einen bewußten Menschen, der in seinem Sinn kritisch ist – und relegiert alle, die die speziellen Inhalte dieser Kritik nicht teilen, auf die Stufe dumpfer Umnachteter. So vollführt es nach wie vor die Protestgesten von gestern – und hat nicht bemerkt, daß sich die Zeiten geändert haben. Kritik war einmal gefährlich. Der Nonkonformist, der das Bestehende, die Gesellschaft, die herrschenden Verhältnisse in Frage stellte (hinterfragte), nahm ein Risiko auf sich. Er schadete zumindest seiner Karriere; manchmal drohten ihm Berufsverbote oder das Gefängnis; in totalitären Verhältnissen setzte er sein Leben aufs Spiel. Er hatte etwas von einem Helden oder Märtyrer. Aber nun hat jenes kritische Bewußtsein längst auf breiter Front gesiegt, jedenfalls unter den „Sinnproduzenten“ der westlichen Gesellschaften, die deren öffentliche Meinung bestimmen. Aus dem Nonkonformismus von damals ist seinerseits Konformismus geworden, der sich indessen weiter für Nonkonformismus hält; aus dem Dissidententum eine neue Orthodoxie, die jedoch weiter den Heldennimbus von einst in Anspruch nimmt. Kritik stigmatisiert den nicht mehr, der sie übt; sie wurde zu einer Ehrenplakette. Ein Skandal war einmal, worüber sich die Gesellschaft mehr oder weniger unisono entrüstete. Heute ist Skandal ein beliebtes Werbeargument – dieser Film ist ein Skandal heißt, daß seine Verleiher sich Chancen ausrechnen, ihn zum Kassenschlager zu machen. Auch wo der Skandal in seinem einstigen negativen Sinn fortlebt, ist er blasser geworden; die Preiserhöhung ist ein Skandal heißt nicht mehr, daß sie ein die Allgemeinheit schockierendes Vorkommnis sei, sondern nur noch: Meiner Meinung nach ist sie mißbilligenswert. (Erst greift man, um den eigenen Worten Nachdruck zu verleihen, zum hyperbolischen Ausdruck – kurz, man übertreibt. Nach
einer Weile passiert das Unvermeidliche: Der hyperbolische Ausdruck
sinkt ab und eignet sich zu keiner Übertreibung mehr.) Aus dem
kritischen Intellektuellen
von einst, der Nachteile gewärtigen mußte und das in Kauf nahm, ist die
heutige Figur des Querdenkers
geworden, dem sein Querdenken vielfältig honoriert wird. „… während sich
das kritische Denken in allen Schichten und Lebensbereichen als
intellektuelle Norm etablierte, geriet es zum ‘Querdenkertum’ unserer
Tage. Was sich bis heute durchgesetzt hat, ist nicht so sehr die
Fähigkeit des einzelnen zur Kritik, sondern vor allem deren äußerer
Gestus – eine unverbindliche Attitüde, deren Wert heute vornehmlich
darin besteht, die Rangordnung der kritischen Geister festzulegen“
(Martin Hecht). Kein Querdenker
zu sein, ist geradezu karriereschädlich geworden. In diesem Sinn hat
sich das kritische Bewußtsein
zu Tode gesiegt, ist politische Korrektheit ein Paradox, zur Norm
geronnene Normverletzung, zum Mainstream gewordenes Außenseitertum, in
der Heldenpose erstarrte Durchschnittlichkeit. Was wahrscheinlich keiner
revolutionären Bewegung erspart bleibt, ist auch hier eingetreten: eine
gewisse Verspießerung. Die
Steigerungsreihe für das, wogegen die
Pießie sich richtet, lautet
derzeit: Stammtisch,
menschenverachtend,
faschistisch. Alle besagen:
Du solltest dich schämen! Hinter dem Wort
Stammtisch steckt die
Hypothese, eine Meinung – zum Beispiel etliche der in diesem Kapitel
vertretenen Meinungen zur Sprache der
Pießie – könnte den Beifall
der falschen, nämlich der mehr oder weniger
faschistisch denkenden Leute
finden. Die nun sind allerdings kein bloßes polemisches Phantom, sondern
existieren wirklich, sind möglicherweise sogar zahlreich – in der
pluralistischen Gesellschaft gibt es ja immer gegenläufige Tendenzen und
Stimmungen –, aber sie bestimmen die öffentliche Meinung keineswegs.
Insofern sind alle drei Wörter tautologisch. Die
Stammtisch-Genossen sind
jedenfalls anonymes Volk,
nicht die hochgeschätzte Basis
also, sondern der verachtete
Bodensatz. Die Basis
verkehrt in anderen Gaststätten. Ihre Stammtische heißen nicht
Stammtische, es fließt dort
auch mehr Chianti als Bier, und es sitzen daran die richtigen Leute und
äußern die richtigen Meinungen in den richtigen Worten. Und an welchen
Tischen will man nun mitreden und gelobt werden: an diesen? an jenen? an
allen? an keinem? (Was mich selber angeht, würde ich sagen: am liebsten
natürlich an allen, aber wenn an keinem, wäre auch das recht – der
hypothetische Applaus aus dieser oder jener Richtung kann nicht zum
Oberzensor des Denkens gemacht werden, und auch zwischen den Tischen
gibt es Sitzplätze.) Wer daran
zweifelt, daß es einen bis zu Tätlichkeiten gehenden Gesinnungsdruck
gegen inkorrekte Ideen auch in Deutschland gibt, brauchte sich nur für
die Verfemung der das Dogma der totalen Kulturdeterminiertheit in Frage
stellenden „Biologisten“ an den deutschen Hochschulen zu interessieren
oder für die rabiate Verfolgung, der hierzulande ausgesetzt ist, wer die
Meinung zu vertreten wagt, der inzestuöse sexuelle Mißbrauch kleiner
Mädchen durch ihren Vater oder Onkel sei nicht so häufig, wie von
einigen extremistischen Frauen-gruppen behauptet, und die Erinnerung
daran immer nur ein unverläßliches Beweismittel, da Erinnerungen ihrem
Wesen nach Konstrukte sind. Er wäre schnell eines Besseren belehrt. Es gibt die
Sache, und es gibt ihre Sprache. Sie ist hierzulande nicht omnipräsent
und in der gleichen Weise zwingend wie in Amerika; vor allem gibt es
keine expliziten Sprachregelungen. Wer aber meint, jeder könnte alles
sagen, braucht sich nur vorzustellen, in irgendeinem Hörsaal verwendete
jemand das Wort Neger, in der
schließlich nicht falschen, wenn auch lebensfernen Meinung, es selbst
sei keineswegs pejorativ und bedeute nur, was auch die meisten
korrekteren Wörter bedeuten,
Schwarzer, so wie Bundespräsident Lübke es verwendete, als er eine
Gästegruppe mit „Meine Damen und Herren, liebe Neger“ begrüßte. Nicht
umsonst wurden sogar die
Negerküsse abgeschafft, die die Schwarzen bei den Kindern früherer
Zeiten so beliebt gemacht hatten wie der Sarotti-Mohr. Beim heutigen
Schokoladenschaumkuß können
sie sich nur noch schütteln, schon das Wort schmeckt wie Mäusespeck. Das sei
alles nur reaktionäre Paranoia? 1995 veröffentlichte ein Hamburger
Richter, Günter Bertram, in der ‘Neuen Juristischen Wochenschrift’ einen
kurzen Artikel über die schwierigen Probleme, die sich ergeben, wenn
Ausländer Straftaten an Ausländern begehen, also wenn die Gerichte Fälle
verhandeln müssen, in denen Opfer wie Täter Ausländer sind. Es sind
Fälle, in denen die Komplexität des Lebens die bequeme, vereinfachende
manichäische Formel „Ausländer gleich Opfer“ in Frage stellt. Zitiert
wurde der Fall eines Ghanaers, der in Deutschland eine Türkenfamilie mit
einer Baseballkeule zusammengeschlagen hatte. Vor Gericht beschwerte
sich der Ghanaer, er werde schon wieder wegen seiner Hautfarbe
diskriminiert. Auch die türkische Seite beschwerte sich: Das Gericht
gewährleiste ihr aus türkenfeindlichen Motiven nur unzureichenden Schutz
gegen den „Terror eines Negers“. Prompt kam
auf den Aufsatz der „energische Einspruch“ eines anderen Juristen: Er
sei ein fremdenfeindlicher Akt, der den deutschen
Stammtisch aufwiegele. Nach
„Freisler“ klinge er zwar nicht ganz, aber doch nach „Deckert“. Die
Wortwahl jedenfalls passe genau „in das Menschenbild eines Richters, der
im gleichen Aufsatz einen Schwarzafrikaner als ‘Neger’ bezeichnet und
dem die Rede von ‘ausländischen Mitbürgern’ gegen den Strich geht. Hier
soll gegen Ausländer, gegen die multikulturelle Gesellschaft
(‘Multikultur’) bewußt Stimmung gemacht werden.“ Die
sprachliche Etikette muß also peinlich genau beachtet werden. Du sollst
das Wort Viktimisierung nie
in Anführungszeichen setzen, wie Bertram es einmal getan hatte. Du
sollst ausländische Mitbürger
nie einfach Ausländer nennen
(Bertram hatte die Formel
ausländische Mitbürger als zwar sympathisch, aber eigentlich paradox
bezeichnet). Du sollst die
multikulturelle Gesellschaft nie zu
Multikultur abkürzen, sonst
schürst du Ressentiments gegen sie. Du sollst unter keinen Umständen das
Wort Neger gebrauchen, selbst
wenn du einen Türken zitierst. Und wenn du dich nicht daran hältst,
wirst du an den Pranger gestellt, und zwar als ein Mittelding zwischen
Freisler und Deckert. Nun kann man
sagen: Da hat ein Jurist einen Artikel geschrieben, ein anderer einen
Leserbrief – und was weiter? Dem Richter ist ja nichts weiter passiert.
Er wurde nicht versetzt, mußte sich vor keiner Disziplinarkammer
verantworten, mußte sich nicht öffentlich entschuldigen, mußte keinen
Sensibilisierungslehrgang absolvieren. Die Sache hatte keinerlei Folgen.
Anders als in anderen gesellschaftlichen Bereichen, dem Journalismus zum
Beispiel, kam ihm sogar eine Reihe weiterer Leserbriefe zu Hilfe. In der
Tat, die deutsche PK ist bisher weniger rigoros als die amerikanische
PC. Trotzdem manövriert sie
hart an der Grenze. Man muß sich nur vorstellen, die Entlarvung hätte
nicht in einem Leserbrief an die Berufszeitschrift stattgefunden,
sondern in einem Groschenblatt oder
frontal! vor einem
Fernsehtribunal – den „Freisler“ oder „Deckert“ dort wäre der Richter
nicht wieder losgeworden.
Insgesamt
ahmt Deutsch die sprachlichen Renovierungen des politisch korrekten
amerikanischen Englisch getreulich nach. Es handelt sich auch nicht bloß
um den Import einiger Worte. Importiert wurde die Denkweise, die jene
Worte hervorgebracht hat und hier nun neue des gleichen Schlags
hervorbringt. Wie in Amerika sind die Neuerungen auch in Deutschland
nicht durchweg unbegründet und an einigen Stellen sogar willkommen. Wenn
man sie vernünftigerweise daran mißt, ob sie die Ausdrucksgenauigkeit
des Deutschen erhöhen oder senken, werden einige als Zuwachs, andere als
Einbuße eingestuft werden müssen und viele als weder–noch. Einzuräumen
ist auch, daß die deutsche Sprache (sofern man sie als ein handelndes
Subjekt betrachten darf) bei der Übernahme nicht mit dem gleichen
sophistischen Puritanismus vorgeht wie die amerikanische. So hat sie
sich bisher mit dem Wort
Behinderte begnügt, und auch
arm darf in Deutschland noch gesagt werden,
blond oder
weißhäutig oder
matronenhaft oder
Siesta oder
Mädchen und vieles andere
ebenfalls.
Dennoch wurden viele Benennungen politisch korrekt
umfrisiert. Deutsch gibt sich dafür um so williger her, als die
beschönigende Umschreibung – der Euphemismus – hierzulande eine lange
Tradition hat. Man denke nur an das Wort der Nazis für den
staatlich-industriellen Massenmord,
Endlösung. In diesem
Verschönerungsstreben sind sich alle politischen Lager einig. Auf der
einen Seite verbreiten der
Verteidigungs-fall, die
Verschlankung, die
Freisetzung, der
Kompressionsgriff oder der
finale Rettungsschuß ihren harmlos-sachlichen Nimbus. Auf der
anderen Seite nennen sich politisch radikale Chemiker
kritische Chemiker (und
degradieren so nebenbei die politisch weniger radikalen Kollegen zu
unkritischen Subjekten), wenden sich Ausstellungen an
bewußte und lesbische Frauen
(denn bewußt bedeutet etwas
anderes, als es zu bedeuten vorgibt). Auch die
Autonomen laufen in
sprachlicher Tarnkleidung herum. Was tun sie manchmal? Sie
gehen auf die Straße.
„Selbständige betreten die Straße“ – unverfänglicher geht es kaum. Das
werden sie ja wohl noch dürfen! Das Milieu, in dessen Namen sie dieses
Recht in Anspruch nehmen, heißt dann
Gegenkultur. Überhaupt
möbelt jeder seine kleine Welt oder irgendeine ihm liebe oder unliebe
Verhaltensweise gern zu einer ganzen eigenen
Kultur auf, bis hin zu Horst
Eberhard Richters
Rivalitätskultur, in der vermutlich statt
Versöhnungsarbeit oder
Weltgebetstagsarbeit
Rivalitätsarbeit geleistet wird (denn wo man an den Adel durch Arbeit
glaubt, mußte Freuds Traumarbeit,
gefolgt von Mitscherlichs
Trauerarbeit und irgend jemandes
Stolzarbeit und vieler
anderer hochabstrakter Arbeit,
auf fruchtbaren Boden fallen). Es ist nicht leicht, zu erkennen,
welche Bedeutung das Wort Kultur
in solchen Verbindungen noch hat. Der
Kulturbegriff wurde dermaßen
erweitert, daß sich sein Inhalt dabei erst verdünnte und dann völlig
verdünnisierte. Eine Streitkultur
ist allenfalls noch eine kultivierte Art des Streitens, die
Wohnkultur eine
geschmackvolle und teure Möblierung, die
Eßkultur ein zivilisierter
Umgang mit der Serviette – aber was wäre die
Bierkultur? Worin gar besteht
die Kultur der
Verleumdungskultur?
Kultur ist hier überhaupt
kein Wort mit einer bestimmten Bedeutung, es ist eine bloße Markierung,
die Beliebiges als ‘irgendwie gut’ ausweist oder, wenn nichts
Bestimmtes, so doch zumindest das Sprachgebaren des Kulturfreunds. In dieser
schönen neuen Welt haben erst die
Minderbemittelten, dann die
Sozialschwachen die Armen abgedrängt. Sozialarbeiter sprechen auch
nicht mehr von Bedürftigen,
sondern von Kunden oder
Klienten. Die Alten und erst
recht die Greise wurden durch
Senioren ersetzt. Selbst-verständlich tragen diese
Senioren keine Perücke,
sondern höchstens eine
Zweitfrisur, ein Gebiß heißt
die dritten Zähne, und
Runzeln oder Falten, für
die ein Ersatz nicht leicht zu finden ist, wurden wenigstens zu
Fältchen verharmlost (wie
wäre es mit *Lächelspur?).
Aus dem Eigenheim wurde die
Residenz, aus dem Altersheim die
Seniorenresidenz, aus dem
Gewerbegebiet der Technologiepark,
aus dem Rummelplatz der
Vergnügungs- oder
Freizeitpark, aus der Müllhalde der
Entsorgungspark, und da
offenbar nahezu alles zu einem Park umgewidmet werden kann, war das
Schild Park und Reitplatz
unausbleiblich. Der Bahnhof wird zum
Mobilitätszentrum gemacht,
und wenn die Toilette im Kasseler
Kulturbahnhof
renoviert wird, wird sie unter dem Namen
ReiseFrische wiedereröffnet.
„Im Kulturmobilitätszentrum muß mal schnell auf die Reisefrische!“
Irre,
Wahnsinnige,
Verrückte gibt es nicht mehr;
das Deutlichste heute sind
Geistesgestörte, aber korrekter ist
psychisch Kranker oder
Psychiatriepatient, und ganz
korrekt ist Person mit
Psychiatrieerfahrung – womit erfolgreich kaschiert wäre, ob es sich
um Psychiater oder ihre Patienten handelt. Die Reform der
Krankenbehandlung (oder vielmehr ihrer Finanzierung) heißt
Gesundheitsreform, als sollte
die Gesundheit der Bevölkerung umgeschichtet werden. Daß es noch
Krankenhäuser gibt, ist ein Wunder – aber
Heilanstalt klänge
wahrscheinlich zu psychiatrisch; anläßlich irgendeiner Gebühren-erhöhung
oder Leistungs-einschränkung werden sie sich aber sicher noch in
Gesundheitszentren
umbenennen. Die Umbenennung des Leichenackers in
Friedhof reicht weit zurück,
bis ins Mittelalter, war damals aber nicht euphemistisch gemeint,
sondern bedeutete schlicht ‘eingefriedeter, eingezäunter Raum’ – der
‘Friede’ darin war erst eine spätere (irrige) Volksetymologie. Kaum ein
Wort hat im Laufe der Zeiten wohl so viele beschönigende Umschreibungen
erfahren wie das Verb ‘sterben’. Im Zuge
sprachlicher Umgestaltung der Welt haben ersetzt:
Sonderschulen die
Hilfsschulen,
(Justiz-)Vollzugsanstalten die Gefängnisse,
Vollzugsbeamte die
Gefängniswärter, Straftäter
die Verbrecher (kein Wunder, daß soviel Zurückhaltung auf der anderen
Seite einem besonders drastischen Wort zur Verbreitung verhilft,
Knast),
Rettungsmehrzweckstöcke die
Gummiknüppel, Prozeßkostenhilfe
das Armenrecht, Entsorger
die Müllmänner und Straßenfeger (so wie im Englischen
refuse collectors,
‘Abfallsammler’, die dustmen,
‘Staubmänner’), Alkoholkranke
die Alkoholiker und Säufer,
Drogenabhängige oder
Suchtkranke die Rauschgiftsüchtigen,
Berater die Verkäufer,
Repräsentanten oder
Referenten die Vertreter,
Außendienstler die Reisenden,
Gebäudereiniger die Fensterputzer,
Restaurantfachleute die
Kellner. Da mag auch die Wahrsagerin nicht zurückstehen und firmiert als
AstroForce, und allerlei
Partner machen sich
anheischig, einem
Rundum-Sorglos-Pakete anzudienen. Die
amerikanische pc-Sprache
hatte es hier auch darum so leicht, weil sie sich nahtlos in die
deutsche Betroffenheitssprache fügte – jenen schwammigen und vage wunden
Stil, bei dem einige sprachliche Leuchtbojen auf einem Ozean
stereotypisierter Gutwilligkeit schwimmen. Dort herrschen chronisch
Betroffenheit alias
Wut und Trauer alias
(wenn gerade kein Schuldiger auszumachen ist)
Bestürzung und Trauer,
Steigerungsform fassungslose
Betroffenheit. Dort bleibt man
sensibel und
verletzbar, was aber beileibe
nicht dasselbe ist wie ‘leicht gekränkt’.
Verletzlich wurde zu einem
Kompliment; stolz erklärte sich eine Illustrierte selber zu
Deutschlands verletzlichster
(und erwies sich ein paar Wochen später als auf ganz unmetaphorische
Weise verletzlich, als sie nämlich ihr Erscheinen einstellen mußte). In diesen
Zielgruppen läßt man
sich ein auf alles, was
wichtig ist und – Tribut an
die aktuelle Fun-Kultur
– erfreulicherweise manchmal sogar
spannend. Dort
geht man
aufeinander zu, bringt sich
ein in diverse Diskurse
und Projekte (zum Beispiel
ein Projektcafé mit Rollstuhltanz),
sucht keine billige Wohnung, sondern
bezahlbaren Wohnraum in einer
bewohnbaren Stadt, lebt
nicht, sondern überlebt
grundsätzlich nur, als sei man unausgesetzt in Lebensgefahr (vielmehr:
als werde einem von… ja, von wem?… von „der Gesellschaft“
böswilligerweise eine Existenz am Rande des Todes zugemutet), hat keinen
Lebenslauf, sondern grundsätzlich eine
Biographie, ohne daß irgend
jemand je auch nur ein Wort davon aufschreiben muß. In dieser wehen
Sprache hat man gewohnheitsmäßig
Träume oder eine Utopie;
wer psychotherapeutische Erfahrung sein eigen nennt, hat nicht etwa
Phantasie, sondern
eine Phantasie.
Ich habe so eine Utopie, daß die
Bäume immer grün bleiben. Denn die
Utopie ist heute kein mehr
oder weniger kompletter, jedenfalls mit System erdachter
Gesellschaftsentwurf mehr, sondern irgendein Wunsch, der einem zufällig
gerade durch den Kopf fährt. Der Vorteil dieser Wörter gegenüber anderen
möglichen wie ‘Überlegungen’, ‘Wünsche’, ‘Forderungen’, ‘Hoffnung’,
‘Gesellschaftstheorie’ besteht darin, daß sie gleich das zartbittere
Gefühl ausdrücken, aus dem Erwünschten werde sowieso nie etwas. Alle
naselang findet im Radio und überhaupt bei jeder öffentlichen Äußerung
etwas statt, das Umgang
heißt. Man geht mit seinem
Schicksal um, seiner
Vergangenheit, seiner
Sensibilität, seinen Ängsten
(die nur noch im Plural vorkommen), gar
mit sich selbst als Person.
Der Künstler geht mit Wahrnehmung
um. Wie gehen Sie mit Ihrem
Alter um? Mit einer solchen
Katastrophe können sie noch nicht umgehen. Opfer sollten geschickter mit
den Tätern umgehen. Wo
alle mit etwas umgehen,
dürfen die Seelsorger nicht fehlen, und so
gehen die Kleriker offensiv mit
dem Mitgliederschwund um. Schwer zu sagen, was dieses
umgehen bedeutet, also welche
Sinnstelle es in den Sätzen einnimmt, die es ziert. Man könnte sagen:
keine – es sei das reine Nichts, eine Art und Weise, die Verbalphrase
etwas länger und darum scheinbar gewichtiger zu gestalten, so wie in der
Amtssprache zur Durchführung
bringen die wichtigtuerisch aufgeplusterte Form von
durchführen ist. Das trifft
es fast, aber nicht ganz. Denn eine Restbedeutung haftet dem
umgehen meist durchaus an:
eine gewisse Distanzierung von der eigenen Person.
Ich gehe mit meinen Ängsten um
heißt nicht nur ‘ich habe Angst’, sondern ‘zwar habe ich Angst, aber
gleichzeitig bin ich auch ein anderer, der den, der da Angst hat, kalt
von außen betrachtet’. Umgehen
heißt: sich wie einen Fremden managen; sich selber überlegen sein.
Die Vorzugsbeschäftigung des Betroffenheitskünders
ist die Zeichensetzung, und wogegen er seine
Zeichen (auch:
Signale)
setzt, ist unausweichlich irgendeine
menschenverachtende Praxis.
Menschenverachtend ist zu
einer Art Kennwort geworden, einer gemeinschaftstiftenden
Allzweckbeschimpfung dort, wo es zu
faschistisch trotz aller
Ausweitung dieses Begriffs nicht ganz langt, und dabei ist jede
bestimmte Bedeutung verdunstet. Das stärkere Wort
Misanthrop, ‘Menschenfeind’,
ist dagegen nach wie vor eher ehrend; ein
misanthropischer Spielplan
steht einem Theater gut an, ein
menschen-verachtender machte seinem Intendanten den Garaus. Überhaupt
wächst dem bloßen Wort Mensch
zuweilen ein eigenartig tränenfeuchtes Tremolo zu:
in diesem von Menschen bewohnten
Haus, das von Menschen
mit leicht erhöhter weher Stimme gesprochen – die ganze Menschheit als
wehleidige Opfergruppe. Die
Legierung dieser Sprache mit den Pendants etlicher amerikanischer
pc-Wörter hat vielleicht auch
in Deutschland dem öffentlichen Reden einen etwas freundlicheren
Anstrich gegeben. Wie in Amerika hat sie aber auch eine Unsicherheit
erzeugt, die jedenfalls den vermeintlich geschützten Gruppen wenig
nützt: Darf man einen Türken noch einen Türken nennen? Darf man die
ausländische Herkunft überhaupt noch erwähnen? Daß etwas
getürkt sei, darf man
jedenfalls nicht mehr sagen; der Journalist, der das Wort verwendet,
wird prompt abgestraft – auch wenn bisher nicht einmal erwiesen ist, daß
türken als neuere Kurzform
von einen Türken bauen irgend
etwas mit der Türkei zu tun hat. Daß Böhmen sich von
böhmischen Dörfern und
Bohemiens gekränkt fühlen,
wurde bisher nicht kolportiert; aber sie könnten ja noch. Also sollen
die Leute ruhig auch von
polnischer Wirtschaft sprechen? Nein, das sollen sie nicht. Genau
dazwischen liegt die Demarkationslinie.
Polnische Wirtschaft ist eine
despektierliche Meinungsäußerung über die Polen, besagend, daß bei denen
alles drunter und drüber gehe. Die Redensart gehört in das Repertoire
nationaler Stereotype, so wie
spanischer Stolz oder
schottischer Geiz oder
gallischer Esprit. Das Verb
türken hingegen bedeutet nicht, daß Türken getürkt seien oder sich
besonders gut aufs Türken verstehen. Die
böhmischen Dörfer stehen mit
keinem realen Böhmen in erkennbarem Zusammenhang; man muß nachschlagen,
was sie einmal besagen sollten („Die Wendung meinte ursprünglich die
slawischen Namen vieler Dörfer in Böhmen, die den Deutschen in Böhmen
fremdartig klangen und unverständlich waren“). Hatte das
Wort ‘Moslem’ etwas Beleidigendes? Wie angeblich ‘Mohammedaner’
beleidigend war, weil es den Glauben am Propheten und nicht an Gott
festmachte? Oder warum drängt heute alles auf
Muslim? Nein, ‘Moslem’ war
keineswegs beleidigend, sondern eine leicht eingedeutschte Fassung
desselben arabischen Wortes, das ‘der sich Gott Unterwerfende’ bedeutet
und mit dem auch Islam,
‘Unterwerfung’, zusammenhängt. Aber ungewollt beleidigend ist nun der,
der vor lauter Korrektheitsehrgeiz das ‘s’ in
Muslim weich ausspricht –
dann nämlich bedeutet das Wort ‘umnachtet’, ‘grausam’. Auch lädt
das politisch korrekte Sprechen zur Verlogenheit ein. Wer, wie von
höchster Stelle empfohlen, nur noch
Mitbürger türkischer Herkunft
sagt (Mitbürgerin und Mitbürger
natürlich), denkt doch weiter
Türke, denn im laufenden inneren Monolog macht man normalerweise
keine Umstände, und alle wissen, daß er es weiter denkt, und er weiß,
daß alle es wissen. Wie das
politically correct Englisch
erkauft das politisch korrekte Deutsch die relative Verfreundlichung des
Alltags mit einem starken Verlust an Konkretheit, an Deutlichkeit. Es
ist eine diplomatische, bläßliche, verwaschene Sprache. Wenn einem
jemand mit bedeutungsvollem Augenaufschlag anvertraut,
ich habe endlich
gelernt, mit mir selber als
Person umzugehen, wird man sich vergeblich fragen, was er denn
konkret gelernt hat, denkt sich aber natürlich sein Teil.
Wer mit seiner Betroffenheit
umgeht, indem er
ein Zeichen
setzt und
etwas bewegt – was tut der
eigentlich? Jeder darf sich alles darunter vorstellen, oder auch nichts.
Wörter und Wendungen, die einmal starke Gefühlsbewegungen ausdrücken
sollten, erstarren zu Formeln, die oft nur noch dem Ausweis der
richtigen Gesinnung dienen und die Gefühlsbewegung selber Lügen strafen.
Denn floskelhafter Gefühlsausdruck weckt den Verdacht, daß dahinter auch
nur floskelhafte Gefühle stehen. Die ganze Verlegenheit des Vorhabens zeigt sich an der Ersetzung von primitiv durch einfach strukturiert. Ursprünglich einmal war primitiv ein unschuldiges Wort: eine adjektivische Ableitung von lateinisch primus, ‘erster’, über das Französische mit der Bedeutung ‘ursprungsnah’ ins Deutsche gelangt. So sprach man von ‘primitiven Kulturen’ und meinte schlicht Kulturen vor der Überwältigung durch die westliche Zivilisation. Aber anders als vielen anderen Wörtern, die dennoch politisch korrigiert wurden, wuchs dem Adjektiv primitiv unübersehbar eine eindeutig schmähende Bedeutung zu: ‘roh’, ‘geistig unterentwickelt’. Schon vor Jahrzehnten empfahl der ‘Duden’ darum, statt von primitiven Völkern lieber von Naturvölkern zu sprechen. Diese Bezeichnung, die einen Gegensatz zwischen Natur- und Kulturvölkern zu postulieren und damit den sogenannten Naturvölkern ungerechterweise jede Kultur abzusprechen scheint, geriet wohl nur darum nicht auch ihrerseits in Verruf, weil man sich schließlich nicht jede Bezeichnung des Unterschieds rücksichtsvoll verbieten kann. Aber auch einzelnen möchte man natürlich gern ersparen, primitiv genannt zu werden. Das Dumme ist nur, daß intellektuell und emotional relativ unter-entwickelte Menschen keine bloße Erfindung jener sind, denen daran gelegen ist, sie sprachlich oder sonstwie zu stigmatisieren. Unerfreulicherweise gibt es sie tatsächlich, und die Beseitigung der hergebrachten Bezeichnung ändert daran nichts. Die schlichte Denkungsart läßt sich nicht einmal immer ignorieren. Vor Gerichten und Sozialgerichten kann es notwendig werden, sie ins Spiel zu bringen, nicht um die betreffenden Menschen zu diffamieren und zu diskriminieren, sondern im Gegenteil, um sie zu entlasten. Früher hätten sich Gutachter nicht geniert, solche Menschen primitiv zu nennen. Da das zum Schimpfwort wurde, kann es in einem amtlichen Schriftstück selbstverständlich nicht mehr erscheinen. Aber wie läßt sich der gleiche Sachverhalt anders ausdrücken? Wie kann man etwas sagen, ohne es zu sagen? Heute ist der Euphemismus einfach strukturiert im Schwange: A., der seine Frau täglich verprügelte, ist ein einfach strukturierter Mensch. So wäre das anstößige Wort erfolgreich umgangen, und die Umschreibenden können sich ihres sozialen Zartgefühls erfreuen. Dennoch
weiß natürlich jeder auf der Stelle, was gemeint ist: daß A. ein dummer,
roher, brutaler, kurz ein primitiver Kerl ist. Es ist nur eine Frage der
Zeit, und einfach strukturiert
hat primitiv in jeder
Beziehung beerbt; höchstens, daß seine Umständlichkeit seine
Verwendbarkeit einschränkt. Was also ist gewonnen? Der unerfreuliche
Tatbestand besteht unverändert weiter, er wird auch unverändert beim
Namen genannt, nur einem anderen. Sollte das Wort
primitiv den Primitivling
gekränkt haben, so kränkt das Wort
einfach strukturiert den
Einfachstrukturierten ebenso. Die Hoffnung, die den Wortaustausch
inspirierte, scheint lediglich die zu sein, daß er nun nicht mehr genau
versteht, was da so höflich verklausuliert über ihn gesagt wird. Während
politische Korrektheit im Fall
Afroamerikaner einen begrüßenswerten Zuwachs an sprachlicher
Genauigkeit brachte, hat die Tabuisierung des Worts
Zigeuner die betreffende
Bevölkerungsgruppe praktisch der Nennbarkeit entzogen, zumindest im
Singular. Seit 1979 bestehen einige ihrer Vertreter – nur in Deutschland
– darauf, daß Zigeuner durch
Roma und Sinti ersetzt werden
müßte. Ein Einzelner aber kann nicht Roma ‘und’ Sinti sein, nur ‘oder’.
Wie aber soll ein Außenstehender wissen, ob er es mit einem aus der
Gruppe der (seit Generationen in Deutschland ansässigen und auch Cinti
geschriebenen) Sinti oder aus der der (meist in diesem Jahrhundert aus
dem Balkan zugewanderten) Roma zu tun hat? Er weiß es in der Regel
nicht. Zudem weiß fast niemand, ob die beiden Namen Plural oder Singular
sind, also ob man „ein Sinti“ überhaupt sagen kann. (Man kann es nicht,
es heißt „ein Sinto“ und „ein Rom“.) Und sind es auch Feminina? (Sie
sind es nicht; die weiblichen Formen lauten „Romni“ und „Sintiza“.)
Schließlich fühlen sich andere Gruppen des gleichen Volkes, die weder
Roma noch Sinti sind, von der scheinkorrekten Bezeichnung
ausgegrenzt – und die Furcht
vor bewußten oder unbewußten
Ausgrenzungen ist doch gerade eine der Triebkräfte hinter der
politisch korrekten Sprachrevision. Was aber
sprach denn gegen Zigeuner?
Angeblich, daß das Wort „jahrhundertelang zur Stigmatisierung gebraucht
wurde“. Nur zu wahr, daß die, die früher
Zigeuner hießen,
jahrhundertelang geringgeachtet und dann in Deutschland nicht nur
stigmatisiert, sondern in
unbekannt großer Zahl ermordet wurden. Aber das Wort als solches war
nicht pejorativ. Es bedeutet keinesfalls „Ziehgauner“ und wurde auch
nicht so verstanden. Die Volksetymologien, die das Grimmsche Wörterbuch
verzeichnet, besagen alle nur soviel wie „Zieh einher“, in Anspielung
auf die fahrende Lebensweise. Auch die Ableitung
zigeunern bedeutet nur
‘unstet umherwandern’. Daß manchen Seßhaften die unstete Lebensweise
selbst unsympathisch ist, liegt nicht an den Worten für sie, kann also
auch nicht durch einen Wortaustausch behoben werden. Auch die
Volksetymologien, die Zigeuner
von ‘umherziehen’ ableiten, sind wie so viele andere natürlich
falsch. Secanen nannten sich
selber die Nachkommen jener nordwestindischen Volksgruppe, die, seit
sechshundert Jahren auf der Flucht, um 1500 in Mitteleuropa eintrafen.
Andere bezeichneten sie irrtümlich als
Egypter – ein Name, der
schließlich das englische gypsy,
das spanische gitano, das
französische gitan ergab. Den
Namen Secanen hatten sie vom
Balkan mitgebracht. Das gleiche Wort (phonetisch ‘tsigan’) bürgerte sich
in vielen osteuropäischen Sprachen ein, aber auch im Französischen (tzigane)
und Portugiesischen (cigano).
Jedesmal paßte es sich dabei den Laut- und Schreibregeln der
Landessprache an; im Deutschen gab es schon sehr bald
Zigeuner her. Woher ‘tsigan’
stammte und was es bedeutete, ist dunkel. Die gängigste Erklärung leitet
es aus dem byzantinischen Griechisch ab:
athínganoi oder dann
tsínganoi wurden die
unberührbaren Anhänger einer phrygischen Ketzersekte genannt, und
mutmaßlich wurde das Wort von ihr auf die rätselhaften Islam-Flüchtlinge
aus Kleinasien übertragen. Es war jedenfalls kein Schmähwort. Seine
Abschaffung macht frühere Schmähungen nicht ungeschehen und verhindert
keine für die Zukunft. Da manchen
ehemaligen Zigeunern das Wort
aber einfach nicht mehr zu gefallen scheint, spräche natürlich nichts
gegen eine Umbenennung. Es müßten nur zwei Bedingungen erfüllt sein.
Erstens müßte es sich um eine Bezeichnung handeln, die alle Angehörigen
für sich akzeptierten, also eine echte und umfassende Eigenbezeichnung,
egal ob sie aus der Geschichte geschöpft oder künstlich neu gebildet
wird. Zweitens müßte es ein Wort sein, dessen grammatischer Status –
Genus, Numerus – durchsichtig ist, so daß es sich in verschiedenen
Zielsprachen frei verwenden ließe. Solange ein solches Wort aussteht,
kann auf Zigeuner und seine
Entsprechungen in den anderen europäischen Sprachen nicht verzichtet
werden. Es ist ein
großes Glück, daß die Juden das Selbstbewußtsein hatten, keine politisch
korrekte Umbenennung zu wünschen, die in ihrem Fall nur in einer
akkuraten und erschöpfenden Definition hätte bestehen können. Deren
Länge hätte wahrscheinlich auch sie zu Unnennbaren gemacht. Statt dessen
wollten sie einfach weiter Juden
sein – obwohl sie viel mehr noch als die
Zigeuner mit dem Wort
stigmatisiert worden waren.
Aber offenbar war ihnen klar, daß das nicht im mindesten die Schuld des
Wortes, sondern die der Antisemiten war und sie unter jeder beliebigen
anderen Bezeichnung ebenso
stigmatisiert worden wären. Es besteht
die Tendenz, die Fremd- den Eigenbezeichnungen anzugleichen. Wer das
richtig findet, erklärt sie zu einem Prinzip aller Sprachmodernisierung.
Ich selber finde sie richtig, meine aber, daß sie wie jedes für die
Praxis bestimmte Prinzip nicht verabsolutiert werden darf. Ein Katalane
nennt sich selber nicht Spanier, sondern Katalane; ein Baske Baske; jede
Gruppe, die mehr oder weniger widerwillig einem größeren Ganzen
angehört, wird sich nicht gern von dem Namen für dieses größere Ganze
mitmeinen lassen. Trotzdem ist eine Bezeichnung für den Angehörigen des
größeren ganzen unverzichtbar, in diesem Fall eine mit der Bedeutung
„Bürger des Staates Spanien“. Es wäre unpraktikabel, in solchen Fällen
die Fremd- der Eigenbezeichnung anzugleichen. Im Falle
Moslem/Muslim geht die
Forderung im Grunde noch weiter: die Fremdbezeichnung sollte auch genau
ausgesprochen werden wie die Eigenbezeichnung. Das muß an den Grenzen
der Sprachkenntnisse und der menschlichen Zungenfertigkeit so jämmerlich
scheitern, daß es besser gar nicht versucht wird. Wer weiß, wie
Breslauer oder Mailänder oder Puertoricaner in ihren Landessprachen
heißen? Wer wüßte sie auch richtig auszusprechen? Und was gar, wenn die
betreffende Gruppe sich gar nicht einig ist, wie ihre Eigenbezeichnung
lauten sollte, wie im Fall der
Roma und Sinti? So wird das „Prinzip“ nie mehr sein können als eine
Daumenregel, manchmal anwendbar, manchmal nicht. Es gibt
erste Anzeichen dafür, daß das politisch korrekte Sprechen auch auf
Tiere ausgedehnt werden soll. Schon war in einer Rundfunk-sendung von
der sogenannten Aggressivität der
Eisbären die Rede. Die Implikation war natürlich, daß Eisbären nicht
wirklich aggressiv sind, daß nur der Mensch sie mit einem solchen
Attribut belegt, stigmatisiert.
So fängt es an. Ein harmloses, aber unliebsames Wort wird in
ironisierende Anführungszeichen gesteckt oder mit einem distanzierenden
„sogenannt“ versehen. Der nächste Schritt ist dann der, es durch ein
anderes zu ersetzen, das der unerwünschten Bedeutung angestrengt
entgegenwirkt: *Friedbär böte
sich an, oder bei der deutschen Vorliebe für internationale Wortstummel
auf -i und -o vielleicht *PaziTeddy.
Sollte das Schule machen, werden wir irgendwann den Esel in ein
andersbefähigtes Grautier und
das Schwein in ein
sauberkeitsmäßig herausgefordertes Borstentier umgetauft
wiederfinden.
Feministischer Druck hat dem Deutschen eine Reihe von Änderungen
beschert, einige willkommen, andere schwer zu verkraften. Es sind die
Änderungen, hinter denen die artikuliertesten Interessen stehen und die
die weitaus tiefsten Eingriffe in die Sprache mit sich bringen – nicht
nur den Austausch einzelner Wörter, sondern die Abänderung einiger
sprachlicher Regeln. Pauschale Beifallsbekundungen oder Verdammungen
helfen hier überhaupt nicht weiter. Die einzelnen Neuerungen wollen
differenziert betrachtet sein. Bei der
Anrede muß heute erfreulicherweise nicht mehr zwischen
Frau und
Fräulein gewählt werden –
Frau ist immer richtig, sogar
offiziell. Es mußte der Sprache damit keine Gewalt angetan werden; es
reichte, aus der Bedeutung des Wortes
Frau stillschweigend den
Hinweis auf den Zivilstand zu streichen. Das
Fräulein war schon darum ein
Beleg für sexistische Asymmetrie, weil das Gegenstück dazu fehlte, das
Männlein, anders als zum
Beispiel im Spanischen, wo es neben der
señorita den
señorito gibt.
Begrüßenswert und gänzlich unproblematisch ist auch, daß – zum Beispiel
in der Sportberichterstattung – immer öfter der nackte Nachname
gebraucht wird, wenn von Frauen die Rede ist:
Huber wie
Becker,
Graf wie
Stich. Nicht nur, daß Frauen
auf diese Weise genau wie Männer behandelt werden. Vor allem
verschwindet damit die zudringliche und verkindlichende Vertraulichkeit
des Vornamens, und es verschwindet das gräßliche
die der Diven (die
Duse, die Callas), das so
vornehm wie ordinär war, ließ es doch immer auch an den Klatsch auf
Berliner Hinterhöfen denken („die Schlatzke hat doch heute den Müll
danebengekippt“). Wo weibliche
Titel und Berufsbezeichnungen fehlten, mußten solche kreiert werden.
Meist war das problemlos möglich; eine große Zahl maskuliner Substantive
ließ die Movierung schon immer zu (Bauer/Bäuerin
und analog Ingenieur /Ingenieurin,
obwohl Ingenieuse auch
denkbar gewesen wäre). In anderen Fällen reichte ein einfacher Tausch
von ‘-mann’ gegen ‘-frau’ (Kauffrau).
Allerdings hatte schon Luther ‘Mann’ selbst moviert: „Das ist doch Bein
von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin
heißen, darum daß sie vom Manne genommen ist.“ Auf diese Weise wurde
früh zum Landsmann eine
Landsmännin, zum
Schiedsmann eine
Schiedsmännin gebildet.
Solche Movierungen auch dort vorzunehmen, wo sie aus irgendeinem Grunde
fehlten, war nur recht und billig. Es gibt keinen Grund, warum sich eine
Notarin als Notar anreden
lassen sollte. Wenn ein Schulleiter heute eine Lehrerin immer noch als
Kollege oder
Lehrer tituliert, ist er
wahrscheinlich wirklich Sexist. Dennoch
gerät man schon bei den Titeln in eine sprachliche Problemzone. Die
Einführung femininer Formen dort, wo es vorher nur das Maskulin gab,
macht Frauen in der Tat so sichtbar, wie es die feministischen
Sprachreformerinnen fordern. Es schafft aber sozusagen auch einen
Überschuß an Sichtbarkeit, der geradezu frauenfeindlich wirken kann:
Dieses Amt wird von einer Frau ausgeübt, seht her und wundert euch!
Obwohl sie eine Frau ist, hat sie die Doktorprüfung bestanden! Darum ist
auch nach Jahrzehnten des Zweifels nicht entschieden, ob es nun
Frau Präsidentin,
Frau Ministerin,
Frau Staatssekretärin,
Frau Professorin,
Frau Doktorin heißen soll.
Auch viele Trägerinnen dieser Titel sind nicht dafür zu haben. Es könnte
ja so wirken, als beanspruchten sie in ihrer Tätigkeit, was sie
keineswegs wollen, einen Weiblichkeitsbonus. Unter den
wenigen, die die Sprache nicht nur benutzen, sondern gelegentlich über
sie nachdenken, ist nicht selten die Meinung anzutreffen, man komme über
die Etymologie an die wahrere Bedeutung der Wörter heran. Dann schreibt
man bedeutungsschwer ‘Ver-zweiflung’ oder ‘Zwei-fel’, im Glauben, so im
Rückblick auf die Wortgeschichte bewiesen zu haben, daß das wahre Wesen
der Verzweiflung im Zweifeln bestehe und das wahre Wesen des Zweifels in
der Ungewißheit angesichts einer zweifachen Möglichkeit – so daß
Verzweiflung letztlich nichts anderes als Gespaltenheit sei (was sie
natürlich nicht ist). Es ist prätentiöser Nonsens. Wer die Bedeutung
eines abstrakten Wortes lernt, lernt sie nicht aus der Wortgeschichte;
er lernt, in welchen Zusammenhängen das Wort aktuell gebraucht wird und
welche Sinnstelle dieses Zusammenhangs es vertritt. Die Wortgeschichte
ist aus dem Bewußtsein der Sprecher meist völlig verschwunden, und wo
sie noch durchschimmert, versieht sie die aktuelle Bedeutung höchstens
mit einem gewissen Assoziationshof, nicht aber mit ihrem wahren Kern.
Überhaupt stehen die Wörter in keinem tieferen inneren Zusammenhang mit
den Sachen, die sie meinen, abgesehen von den wenigen lautmalerischen,
von ‘Kikeriki’ bis ‘Donnergrollen’. Sie sind willkürliche Marken, die
den Begriffen nach rein linguistischen Regeln angeheftet werden. Es fügt
der aktuellen Bedeutung eines Worts wie ‘Bereitschaft’ nichts hinzu und
nimmt ihr nichts weg, daß darin ‘reiten’ (im Sinne von ‘sich fortwegen’)
steckt und ‘bereit’ irgendwann einmal die Reisefertigkeit ausdrückte.
Wer aus einem Wort wie ‘fertig’ seinen Ursprung heraushört, nämlich
‘fährtig’ im Sinne von fahrbereit, kommt seinem aktuellen Sinn kein
Stück näher. Und daß ‘bereit’ und ‘fertig’ etymologisch einmal
bedeutungsgleich waren, ändert nichts daran, daß sie es heute nicht mehr
sind; es demonstriert nur, daß die Wege der Sprache krumm und
unberechenbar sind. Ein ‘Patient’ ist jemand, der von einem Arzt
behandelt wird; daß das Wort ursprünglich ‘Dulder’ bedeutete, ist nicht
mehr als eine hübsche sprachgeschichtliche Arabeske. Ein
Standardargument für die Richtigkeit einer ‘radikalen’ Gesinnung lautet:
‘radikal’, das komme von radix,
Wurzel – und daraus ersehe man ja, daß eine radikale Gesinnung eine sei,
die nicht nur am Symptom kuriere, sondern an die Wurzel des Übels gehe.
Die Etymologie scheint das Wort zu adeln. Aber natürlich garantiert sie
nicht im geringsten, daß die betreffende Gesinnung irgendeine Wurzel
richtig identifiziert hat. Hier und da
hat sich auch die feministische Sprachkorrektur auf die Etymologie
verlegt. Sie horcht die Wörter darauf ab, ob in ihnen nicht ein
historischer Rest mitklingt, der den Frauen einmal abträglich war. Von
hier ist es nur ein Schritt zu den unsinnigen Bemühungen, gegen
unsinnige Etymologien einzuschreiten. Amerikanische Feministinnen
wollten den man aus
woman (etymologisch soviel
wie ‘Weibmensch’) vertreiben, indem sie sie zu
womyn machten – als bedeutete
woman seiner Herkunft wegen
heute irgendetwas anderes als ‘Frau’. Wenn sie sich an dem
his (‘sein’) in
history störten und statt
dessen herstory (‘ihre
Story’) vorschlugen, so hatten sie überdies eine völlig falsche
Etymologie am Wickel. In Deutschland führte die gleiche naive
Androphobie zu Vorschlägen wie
Efrauzipation oder
verschwestern (für versöhnen,
das aber nicht von ‘Sohn’, sondern von ‘Sühne’ kommt). Man könnte
meinen, solche Korrekturvorschläge seien von
männlichen Chauvinisten
erfunden worden, um den Feminismus lächerlich zu machen. Sie sind es
aber nicht. Seine Lächerlichkeit tötet ein neues Wort auch nicht.
Verschwesterung und
Efrauzipation zwar haben sich
bisher nicht durchgesetzt. Aber nicht irgend jemand, sondern eine
Staatsministerin (von Rheinland-Pfalz in diesem Fall) übernimmt
offiziell und feierlich die
Schirmfrauschaft über eine Ausstellung. Die Logik dahinter kann nur
gelautet haben: Jede Silbe, die irgendwie, zu Recht oder zu Unrecht, an
Männer erinnern könnte, ist anstößig, wird ausgemerzt und durch ‘Frau’
ersetzt. Sie ist nicht einmal bis zur Analyse des ganzen Wortes
vorgedrungen und schon gar nicht zu dessen Etymologie. Das Wort heißt
‘Herrschaft’ (übrigens ‘die’), und eine Herrschaft ist keine
Herrenriege, nicht das Pendant zur ‘Frauenschaft’ der Nazis, sondern der
Akt des Herrschens. Auch Frauen können und konnten herrschen; sie können
sich auch beherrschen oder andere anherrschen. Nach der Logik der
Ministerin müßte damit Schluß sein: Das Verbum ‘herrschen’ dürfte nur
noch gebraucht werden, wenn das dazugehörige Subjekt maskulin ist; ist
es feminin, so wäre… nun ja, *‘frauschen’ oder *‘damschen’ zu verwenden.
Das wäre dann der kuriose einzige Fall, in dem ein und derselben
Tätigkeit zwei verschiedene geschlechtsspezifische Tätigkeitswörter
zuzuordnen wären. ‘Herrschen’ bedeutete und bedeutet mitnichten so
etwas wie ‘dem Mann unterwerfen’. Etymologisch hängt die Wurzel von
‘herrschen’ vielmehr mit ‘hehr’ zusammen. Beides geht auf eine
altgermanische Form zurück, die soviel wie ‘grau(haarig), alt,
ehrwürdig’ bedeutete. ‘Herr’ und ‘Herrin’ sind ‘verehrte Ältere’. Die
Verwandlung der Schirmherrschaft in eine
Schirmfrauschaft war eine
Exorzierung der Grauhaarigkeit.
Hält man sie
unter die etymologische Lupe, so entdeckt man allerdings in vielen
Wörtern männliche Formen, sogar und gerade in manchen Funktionswörtern,
die mit ihrer Bedeutung kaum nach außen verweisen, sondern nur die
syntaktischen Beziehungen zwischen den Inhaltswörtern eines Satzes
klarstellen und damit so tief im Gefüge der Sprache verankert sind, daß
sie sich praktisch jeder Reformierbarkeit entziehen. Sie lassen sich,
anders als Inhaltswörter, kaum austauschen; an ihnen etwas zu verändern
wäre so schwer wie ein Umschreiben der Grammatik. Das
Fragepronomen wer fragt nach
Männern wie Frauen, obwohl ‘er’ in ihm steckt; die analoge weibliche
Form müßte etwa ‘wihr’ lauten, existiert aber nicht. Obwohl in
jemand wie in
niemand etymologisch ein
‘Mann’ steckt, meinen sie immer auch Frauen; das noch durchsichtigere
jedermann tut es ebenfalls.
Sogar Mensch wäre unter
etymologischem Gesichtswinkel zu beanstanden, denn das Wort bedeutete
einmal nichts anderes als ‘der Männische’. Gleichwohl meint es längst
jedes Wesen der Gattung Homo, und dem allgemeinen Sprachbewußtsein ist
die Etymologie völlig entfallen. Sollte feministischer Reformsinn sie
ausgraben, müßte ihm eigentlich eine ‘Weibsche’ an die Seite gestellt
werden. Wohlweislich ist es bisher unterblieben – nicht nur, weil es die
Frauen lächerlich machte, sondern weil ein Wort, das ohne Rücksicht auf
das Geschlecht die gesamte Gattung meint, unentbehrlich ist. Als ein
Relikt patriarchalischer Verhältnisse sind in vielen Sprachen die Wörter
für ‘Mann’ und ‘Mensch’ identisch.
Rom in der Sprache der einst
Zigeuner genannten
Volksgruppen ist solch ein Fall, das französische
homme ist es wie die anderen
Abkömmlinge des lateinischen homo.
Auch Englisch hat für beides nur ein Wort,
man, und muß sich heute mit
human abmühen, um ihm eine
politisch korrekte geschlechtsindifferente Sammelbezeichnung
gegenüberstellen zu können. (Wer auch in
human einen Mann entdeckte,
läge indessen falsch, denn das Wort ist eine Adjektivbildung zu
lateinisch humus, Erdboden.)
Mit zwei verschiedenen Wörtern für das Gattungswesen und die
Angehörigen des männlichen Geschlechts ist Deutsch also sogar eine
ungewöhnlich unsexistische Sprache. Dennoch
wurde auch ein deutsches Funktionswort zum Ziel feministischer
Sprachkritik: das Pronomen man.
Aus einer Zeit stammend, als bei Menschen zuerst an Männer gedacht
wurde, ist es, wie sein französisches Gegenstück
on (von
homme), tatsächlich
sexistischen Ursprungs. Jedoch bedeutete es von Anfang an nicht
‘Männer’, sondern ‘irgendein Mensch’ oder ‘Leute’. Der Sprachgebrauch
überschrieb sozusagen die Etymologie und setzte eine Konvention eigener
Kraft an ihre Stelle. Als aber Mißtrauen wach wurde und befand, es
grenze die Frauen
aus, wurde dem
man ein
frau beigesellt. Eigentlich
ist nichts dagegen zu sagen. Es ist nicht besonders lang und
umständlich, es vergewaltigt die Regeln der Wortbildung und Orthographie
nicht, und es stellt sprachlich Gerechtigkeit her. Dennoch ist es in den
etwa zwanzig Jahren seiner Existenz, also in nahezu einer Generation
nicht durchgedrungen, und wahrscheinlich wird es das nie. Wenn es ihm
nicht gelingt, über die Sondersprache der Feministinnen hinauszudringen
und Bestandteil der Allgemeinsprache zu werden, so dürfte das weniger an
der Renitenz der Männer als daran liegen, daß
frau, um wirklich notwendig
zu erscheinen, den Bedeutungsumfang von
man reduzieren müßte:
Man dürfte dann nur noch
‘Männer’ bedeuten. Wenn aber man
nur noch ‘Männer’ bedeutete, gäbe es kein geschlechtsneutrales
Kollektivpronomen mehr. Das aber wäre nur dann entbehrlich, wenn das
Gruppendenken auf ganzer Linie triumphierte und es keine Menschen mehr,
sondern nur noch Frauen und Männer ohne verbindende Gemeinsamkeiten
gäbe. In diesem Fall freilich wäre kein Halten mehr. Dann würden
frau und
man beim Buchstaben genommen,
und man sähe, daß die Paarformel Kinder
ausgrenzt. Und sobald die
Dreierformel man,
frau und
kind diese Ungerechtigkeit
behoben hätte, kämen die Senioren
und fühlten sich ausgegrenzt.
Und dann könnte jede Gruppe verlangen, ausdrücklich mit aufgeführt zu
werden. Es heißt, in Amerika verliefen manche gemeinsamen Aktionen der
Opfergruppen auch darum
mühsam, weil die Logik, nach der eine nicht ausdrücklich mitgenannte
Gruppe ausgegrenzt ist,
erschöpfende Aufzählungen nötig macht und immer die Gefahr besteht, daß
jemand vergessen wurde.
Der naive Etymologietest zusammen mit dem anderen,
folgenreichen sprachreformerischen Aberglauben, daß Gruppen, die in
einem Sammelbegriff nicht ausdrücklich genannt werden, damit
ausgegrenzt,
marginalisiert,
stigmatisiert,
unsichtbar gemacht werden,
führte unter anderem zur Ersetzung der
Brüderlichkeit durch die
Geschwisterlichkeit.
(Konfrontiert mit dem Vorschlag,
Brüderlichkeit durch
Menschlichkeit zu ersetzen, die schließlich bereits etwas ganz
anderes bedeutet, hatte ich die
Geschwisterlichkeit in meinem Buch
Redens Arten 1986 selber
erfunden, nicht ahnend, daß jemand einen ironischen Vorschlag beim Wort
nehmen würde.) Brüderlichkeit,
von J. H. Campe zur Verdeutschung von
fraternité geprägt: das war
indessen eine Eigenschaft, die niemals nur Brüdern und damit Männern
vorbehalten war. Sie war etwas durchaus Geschlechtsunspezifisches, das
gleiche wie die (jüngere)
Solidarität (die wörtlich etwa soviel wie ‘Gesamtheitlichkeit’
bedeutet). Etymologisch war sie eine bloße Metapher: Geht miteinander um
wie Brüder – nicht wie nur Brüder miteinander umgehen oder wie alle
Brüder miteinander umgehen, sondern wie zum Beispiel Brüder im seltenen
Idealfall miteinander umgehen, fürsorglich. Daß Frauen zu diesem
Verhalten unfähig seien, sagte das Wort so wenig, wie es Väter und Söhne
und sonstige Verwandtschaftsgrade und alle anderen Nicht-Brüder
ausgrenzte. Die Abschaffung
dieser Metapher ist also die pure Androphobie: Männliches Verhalten soll
nie etwas Vorbildliches haben können. Mit ähnlicher Logik wären das
Vaterhaus und das
Vaterland, aber auch die
Muttersprache und der
Mutterboden oder die
Tochterfirma zu kassieren.
Und jetzt? Wird geselligen Zechern die
Verschwisterung abverlangt?
Soll die Sprachkorrektur, um dem falschen Bewußtsein kein Einfallstor zu
bieten, auch rückwirkend gelten?
Geschwister, zur Sonne, zur Freiheit?
Alle Menschen werden Geschwister?
Solches aber sind Bagatellen, verglichen mit dem
einen großen Problemfall, den die feministischen Wünsche nach
Sichtbarmachung der Frauen der Sprache beschert haben: den generisch –
das heißt als Gattungsbezeichnungen – gebrauchten Substantiven.
Mitbürger – grammatisch ist
das ein Maskulinum. Kann und soll es Frauen „mitmeinen“?
Grenzt es sie
aus? Das Problem
besteht nur im Plural. Wenn von individuellen Frauen die Rede ist,
versteht es sich von selbst, daß grammatisch feminine Formen benutzt
werden, wo immer sie vorhanden sind oder ohne Krampf gebildet werden
können. Alles andere wäre tatsächlich beleidigend. Eine einzelne Frau
muß sich nicht als lieber
Mitbürger anreden lassen. In einigen Fällen allerdings gibt es keine
geschlechtsspezifischen Formen.
Mitglied oder Kind als
Neutra machen beide Geschlechter gleich unsichtbar und scheinen darum
wahrscheinlich allseits akzeptabel.
Gast dagegen gibt es bisher
nur als Maskulinum. Wer sich daran stieße, brauchte es nur zu movieren;
sollte die Gästin einem
allgemeinen Bedürfnis entgegenkommen, wird sie sich ohne weitere Folgen
für das Sprachsystem, also ohne die Änderung irgendeiner Regel
durchsetzen. Nicht alle
Plurale sind problematisch. Wo von Gruppen die Rede ist, zu denen Frauen
und Männer gehören, müssen natürlich beide Geschlechter genannt werden,
sofern die Geschlechtszugehörigkeit von irgendeinem Interesse ist:
Seit dem Beginn der Koedukation
hat diese Schule Schülerinnen und Schüler – kein Geschlecht kann in
solchen Sätzen das andere mitmeinen, und wer eines wegließe, hätte nicht
so sehr gegen die sprachliche Gleichstellung der Geschlechter verstoßen
als einen mißverständlichen und darum schlechten Satz gebildet. Aber was,
wenn sich der Plural auf eine Menschengruppe bezieht, deren
Geschlechtszugehörigkeit in diesem Zusammenhang völlig gleichgültig ist?
Für Sammelbezeichnungen einzelner Personengruppen, bei denen die
Geschlechtszugehörigkeit so wenig interessiert wie andere Merkmale
(Alter, Größe, Haarfarbe, Gesundheitszustand und so weiter), galt von
altersher eine einfache linguistische Regel. Sie lautete: Man nehme die
Grundform. Aus sprachhistorischen Gründen ist diese Form meist von
maskulinem grammatischem Geschlecht; weibliche Formen wurden aus ihr
abgeleitet und sind daher die längeren. Die
allgemeine Übereinkunft lautete also: generisch gebrauchte Substantive
meinen beide Geschlechter, unabhängig von ihrem grammatischen
Geschlecht. Niemals war in der Sprachgemeinschaft irgendein Zweifel
daran aufgekommen, daß der
Bürgersteig auch für Frauen da ist, daß ein
Personenzug auch Männer
befördert, daß ein Führerschein
auch für Frauen gilt, daß ein
Geiselnehmer auch Männer als Geiseln nimmt, daß
Kundenwünsche auch zählen,
wenn sie von Frauen vorgetragen werden, daß in einem
Nichtraucherabteil auch
Frauen nicht rauchen sollen. Es war selbstverständlich, daß zwischen
natürlichem und grammatischem Geschlecht nur ein lockerer und oft gar
kein erkennbarer Zusammenhang besteht. Auch Hündinnen sind
selbstverständlich Hunde, so
wie auch Kater Katzen sind;
in beiden Fällen ist das jeweils andere Geschlecht im Sammelbegriff
stillschweigend mitgemeint. Die
Sonne ist so wenig eine Frau, wie der
Mond ein Mann ist, auch wenn
Mythologisierungen bisweilen von dem zufälligen grammatischen Geschlecht
in der jeweiligen Sprache ausgingen; in den romanischen Sprachen war das
Verhältnis genau umgekehrt, der Sonn und die Mondin.
Die Frau ist Femininum, das
Weib und das Mädchen aber
nicht, und ihrer Weiblichkeit tut es keinen Abbruch. Auch eine männliche
Führungskraft mußte sich mit
dem Femininum abfinden, denn zwar sind die meisten Grundformen maskulin,
aber keineswegs alle: Geiseln,
Seelen,
Personen, Persönlichkeiten,
Koryphäen,
Autoritäten,
Kapazitäten,
Fach-,
Führungs- und Servicekräfte
sind Feminina, von denen sich gleichwohl nie ein Mann
ausgegrenzt gefühlt hat. Es
handelt sich um linguistische Zufälle, die nichts Herabsetzendes hatten. Das
Problem kam erst auf, als sich eine naive Gleichsetzung von
natürlichem und grammatischem Geschlecht mit einer geschärften
Ausgrenzungsfurcht kreuzte. In dem Augenblick, als Sprachrefor-merinnen
zu dem Schluß kamen, die grammatisch maskulinen Formen schlössen
böswillig oder gedankenlos die Frauen aus, war die alte Übereinkunft
aufgekündigt. Von der Stunde an schossen die Paarformeln ins Kraut:
Bürgerinnen und Bürger,
Studentinnen und Studenten…
Keine Politikerin und kein
Politiker kann heute auf sie
verzichten. Er und sie stünden sofort als SexistIn da. Die
universalistische Geschlechts-neutralität der alten generischen
Substantive befriedigt das Denken in
Opfergruppen nicht mehr. Daß die
männliche Form die Grundform ist und die weibliche aus ihr abgeleitet
wird wie nach biblischer Überlieferung Eva aus Adam, ist zweifellos ein
Souvenir aus Zeiten, in denen Männer sich für das primäre Geschlecht
hielten, ein sexistisches Relikt. Auch ist zwar das grammatische
Geschlecht im allgemeinen Bewußtsein nicht mit dem natürlichen
identisch, aber schwach schlägt es dennoch durch: Zu Sätzen wie
Diese Universität hat zehntausend
Studenten assoziieren viele wahrscheinlich zunächst männliche
Studierende. Es ist also nicht abzustreiten, daß die alte Übereinkunft
Männer bevorzugte. Solche Ungerechtigkeiten lassen sich jedoch nur sehr
schwer rückgängig zu machen. Jede gewachsene Sprache trägt ihre
Geschichte mit sich herum und konserviert
in vieler Hinsicht das Denken vergangener Zeiten – man denke nur
an die allgegenwärtige feudale und militärische Metaphorik (unbotmäßig,
eine Lanze einlegen).
Abschiede von der Sprachgeschichte sind schwer durchzusetzen. Sie haben
auch ihren Preis. In diesem
Fall ist der Preis die Einbuße an Ökonomie, die der Sprache auferlegt
wird. Überall stößt und schleift die Sprache Längen ab, überflüssige und
sogar weniger überflüssige. Längen wirken umständlich, redundant,
pedantisch, zeitverschwenderisch, unelegant, unschön. Es kann der
Sprache sonst gar nichts kurz genug sein. Die Qualifikation macht sie
zur Quali, den
Solidaritätszuschlag zum Soli,
den Professor zum Prof,
die Toilette zur To. Inmitten
dieser allgemeinen Entwicklung zum hastigen Telegrammstil stehen nun
fremd die endlosen Paarformeln:
Professorinnen und Professoren,
Rundfunkhörerinnen und
Rundfunkhörer,
Existenzgründerinnen und Existenzgründer,
Clowninnen und Clowns, und
weil das inzwischen schon automatisch hervorsprudelt, seit einiger Zeit
sogar Mitglieder und
Mitgliederinnen, Reisende und
Reisendinnen. Nur noch in einem Fall darf auf sie verzichtet werden:
wenn die fragliche Bezeichnung für etwas negativ Bewertetes steht. Da
bleibt es durchaus den Männern überlassen, Frauen mitzumeinen. Niemand
jedenfalls hat bisher darauf bestanden, daß es paritätisch
Alkoholikerinnen und Alkoholiker,
Trickbetrügerinnen und
Trickbetrüger, Mörderinnen
und Mörder, Strohfrauen und
Strohmänner heißen müßte. Also hat auch noch niemand Schillers Lied
von der Glocke „gleichstellungsgerecht“ umgedichtet: „Freiheit und
Gleichheit! hört man schallen, Die ruhge Bürgerin und der ruhge Bürger
greift zur Wehr, Die Straßen füllen sich, die Hallen, und Würgerinnen-
und Würgerbanden ziehn umher. Da werden Weiber…“ Nein, pejorativ, zumal
es auch noch ein Neutrum ist: „Da werden Damen zu Hyänen…“ Auch typisch,
daß „die Hyäne“, dieses unsympathische Tier, nun gerade feminin ist.
Vielleicht ebenfalls zu korrigieren: „Da wird die Dame zum Hyänen…“ Es handelt
sich also um den Konflikt zweier konkurrierender Werte: Sichtbarmachung
der Frauen auf der einen, Sprachökonomie auf der anderen Seite. Die
politische Korrektheit hat sich mit einer Emphase für die
Sichtbarmachung der Frauen entschieden, als wäre sie ganz umsonst zu
haben. Immer mehr Rechtsvorschriften ordnen die Paarformeln für den gesamten staatlichen Bereich zwingend an. Das Land Rheinland-Pfalz hat 1995 eine Verwaltungsvorschrift zur „Geschlechtsgerechten Amts- und Rechtssprache“ erlassen, die immer dann, wenn man sich nicht mit einer geschlechtsneutralen Formulierung um das Problem herumdrücken kann, Paarformeln vorschreibt, allerdings nur homöopathisch dosiert, nämlich dann, wenn in einem Satz nicht mehr als zwei davon vorkommen müssen – die Verwaltungsvorschrift für Sätze mit mehr als zwei generischen Substantiven steht noch aus. (Die neutralen Formulierungen, etwa Passivkonstruktionen, machen das Amtsdeutsch meist noch amtsdeutscher.) Von
einer solchen weisen Mengenbeschränkung hat das Land Nordrhein-Westfalen
Abstand genommen. Dort ist das Dienstverhältnis an den Universitäten
folgendermaßen geregelt: „Dienstvorgesetzter der Rektorin oder des
Rektors, der Kanzlerin oder des Kanzlers und der Professorinnen und
Professoren ist das Ministerium. Dienstvorgesetzte oder
Dienstvorgesetzter der Hochschuldozentinnen und Hochschuldozenten, der
wissenschaftlichen Assistentinnen und Assistenten…“ Genug? Nein, meine
Damen, meine Herren, das haben wir uns eingebrockt, da müssen wir nun
durch. „… der Oberassistentinnen und Assistenten, der Oberingenieurinnen
und Oberingenieure, der wissenschaftlichen und künstlerischen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter… ist die Rektorin oder der Rektor.
Dienstvorgesetzte oder Dienstvorgesetzter anderer Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter ist die Kanzlerin oder der Kanzler.“ Und das ist nur erst
der Paragraph 63. Erstellt wurden er und seine Gesellinnen und Gesellen
gemäß den Weisungen einer interministeriellen Arbeitsgruppe unter dem
Motto: „Eine gleichstellungsgerechte Gesellschaft erfordert auch eine
gleichstellungsgerechte Rechtssprache.“ Und was auf dem Weg zu diesem
hehren sprachlichen Ziel ist am „erfolgversprechendsten“ und mithin am
Gleichstellung bewirkendsten? Die „Verwendung von geschlechtsneutralen
Umformulierungen; Paarformeln“ (mit den Frauen grundsätzlich voran, alte
Kavaliersschule). Das Land
Nordrhein-Westfalen begründet seine Sprachregelung psychologisch, wenn
auch nur in Form einer vagen psychologischen Spekulation: „Eine
psychologisch wirksame Benachteiligung von Frauen durch Verwendung des
generischen Maskulinums kann nicht ausgeschlossen werden.“ Nicht: „ist
nachgewiesen worden“, nicht einmal: „ist wahrscheinlich“, nur „kann
nicht ausgeschlossen werden“. Welche Folge kann jemals ganz
ausgeschlossen werden? Mit der dünnsten aller möglichen Begründungen hat
sich der Staat hier also auf das allerschlüpfrigste Terrain begeben: Er
hat ein einklagbares Recht auf seelische Unversehrtheit anerkannt. Um das zwar
einem guten Zweck dienende, aber redundant Weitschweifige zu kürzen und
Papier und Druckerschwärze zu sparen, verfiel ‘die tageszeitung’,
zunächst scherzeshalber, Anfang der achtziger Jahre auf die Binnen-Innen:
SchülerInnen,
KäuferInnen und so fort.
Obwohl dieses Binnen-I
Karriere machte und sich inzwischen sogar in Texten findet, denen jede
Ironie fernliegt, hat es sich in über einem Dutzend Jahre nicht wirklich
Akzeptanz verschaffen können. Der Grund dürfte weniger der Großbuchstabe
im Wortinnern sein, den die offizielle deutsche Orthographie bisher
nicht zuläßt, als vielmehr der Verstoß gegen eine noch elementarere
Sprachregel: daß sich Geschriebenes und Gesprochenes eins zu eins
entsprechen sollen. Jeder gesprochene Laut soll in der Schrift
abgebildet werden, besagt das allgemeine Sprachverständnis, und jeder in
der Schrift abgebildete Laut soll gesprochen werden. Bei Bildungen vom
Typ LehrerInnen ist aber
nicht zu sprechen, was dasteht – dabei kämen nur
Lehrerinnen heraus.
LehrerInnen steht vielmehr
für Lehrer und Lehrerinnen,
ist also eine Abkürzung: Sie erspart die schriftliche Wiederholung
des maskulinen Grundworts, aus dem das Femininum durch Motion entstanden
ist. Abkürzungen sind natürlich erlaubt; nur müssen sie eindeutig
auflösbar sein. Wäre die Abkürzungsregel (XInnen = X + Xinnen; I = +X)
immer anwendbar, so hätten sich die Binnen-Innen
möglicherweise durchsetzen können. Sie ist es jedoch nicht. Bei
Bildungen wie StudentInnen
ist etwas ganz unter den Tisch gefallen, das Plural -en der männlichen
Studierenden. Ein Satz wie Die
SekretärInnen machen Überstunden läßt sich auf Anhieb nicht mehr
vorlesen; man müßte sich vorher auf die Auflösung der Abkürzung
vorbereiten. Die Einfachheit täuscht also. Die Rückverwandlung der
Abkürzungsform in Rede bringt den Sprecher notwendigerweise ins Stocken. Paarformeln
sind natürlich in hohem Grade
politically correct; nur eben immer ein bißchen lang. Das
Stadtparlament im schweizerischen Wädenswil ging vor einigen Jahren den
kürzeren Weg. Es beschloß, daß in der örtlichen Verfassung
ausschließlich grammatische Feminina Gattungsbegriffe sein dürften. Also
hätte es in Wädenswil nur noch
Einwohnerinnen unter der Ägide einer männlichen
Stadtpräsidentin gegeben;
sollten die Männer ruhig einmal sehen, wie „psychologisch wirksam“ es
ist, wenn sich ein Geschlecht vom anderen mitmeinen lassen muß. Hätte…
denn irgendwie funktionierte es nicht. Die neue Regel, daß fortan als
geschlechtsneutrale Sammelbegriffe die längeren, abgeleiteten,
grammatisch femininen Formen verwendet werden sollen, war nämlich
außerhalb Wädenswils unbekannt geblieben. Also verstand man die
Wädenswiler Sprache dort einfach falsch. So schaffte die Gemeinde ihre
Neuerung schon ein paar Monate später kleinlaut lieber wieder ab. Die
Paarformeln werden nicht so bald wieder abgeschafft werden. In voller
Länge und gleichstellungsgerechter Paarigkeit wird es weiter heißen und
heißen müssen: „Die Grundordnung kann vorsehen, daß die Dekanin oder der
Dekan nach Ablauf ihrer oder seiner Amtszeit Prodekanin oder Prodekan
wird…“ Womit nebenbei auch festgestellt ist, daß auf dem Umweg über
Dekanatsamt Geschlechtsumwandlungen möglich sind. Denn der scheinbare
Zuwachs an Genauigkeit wird sofort wieder aufgefressen: Wo die Sprache
umständlicher wird, wird sie auch mißverständlicher, und um
Mißverständnissen vorzubeugen, müßte sie wiederum noch umständlicher
werden. Allerdings,
den bewußten Frauen würde ein
Opfer zugemutet, wenn sie sich von grammatisch maskulinen Formen
mitmeinen lassen sollen. Es wäre sogar ein doppeltes Opfer. Nicht nur,
daß sie für die kürzere Grundform optieren müßten, auch wenn diese meist
grammatisch maskulin ist – sie müßten erst einmal anerkennen, daß die
Geschlechtszugehörigkeit nicht alles ist und auch nicht unentwegt betont
werden muß; also letztlich, daß das, was Frauen und Männern gemeinsam
ist, ihre Unterschiede und Konflikte überwiegt. Diesem Doppelopfer
gegenüber steht das Opfer an Sprachökonomie, das die gesamte
Sprachgemeinschaft zu bringen hätte, Frauen eingeschlossen, wenn
niefrau den Paarformeln
Einhalt gebietet.
Niemand erzwingt die politische Berichtigung der
Sprache. Keine Instanz schreibt sie vor. Der ‘Duden’ empfiehlt sie noch
nicht einmal. Was sie bewirkt, ist jener Wind der stereotypisierten
Gutwilligkeit, der durch die Gesellschaft weht. Wer ihn ignorierte,
bezeugte damit, daß er entweder einfach nicht auf dem laufenden ist
(also von gestern) oder keine
Sensibilität besitzt für die Kränkungen, die mit Sprache zugefügt
werden können. Als unsensibel
möchte niemand dastehen. Es wäre ja
stammtischhaft, beinahe
menschenverachtend,
vielleicht sogar faschistisch. Die
Befürchtung, als unsensibel
zu gelten, ist hochwirksam. Unwillkürlich zuckt zusammen, wer auf den
Mauern eines verfallenen alten Gebäudes die verwaschene Aufschrift
‘Greisenasyl’ erblickt, in Fraktur. Das Lied von den ‘Zehn kleinen
Negerlein’ soll man seinen Kindern auf keinen Fall mehr vorsingen; aber
kann man ihnen noch die Nikolas-Episode aus dem ‘Struwwelpeter’
vorlesen? Zwar ist sie unmißverständlich antirassistisch – aber
„kohlpechrabenschwarzer Mohr“? Schwärzt das die Afroafrikaner nicht an?
Hätte der Autor es nicht anders ausdrücken müssen? Und was soll ein
Übersetzer tun, wenn er einen älteren Text vor sich hat, in dem noch
völlig ungeniert die unberichtigte Sprache verwendet wird? Soll er ihn
auf den aktuellen Stand bringen? Mark Twain schreibt ohne Skrupel
„Mohammedaner“ und „Neger“ – soll man daraus
Muslim und
Afroamerikaner machen? Wäre
es nicht geradezu falsch, solche Wörter zu aktualisieren, da in der
Entstehungszeit des Textes die aktuellen Bezeichnungen ja noch gar nicht
da waren? Wäre eine solche Aktualisierung nicht eine zu Recht verrufene
„Kulturübersetzung“, so als würde Goethe zeitlich angepaßt: „Es schlug
mein Herz, geschwind aufs Moped…“? Aber werden gerade die besten, die
aufmerksamsten Leser nicht doch zusammenzucken, wenn ihr Blick auf
‘Mohammedaner’ und ‘Neger’ fällt? Werden sie bereit sein, die
historische Rechtfertigung gelten zu lassen? Darf man lebende Menschen
mit solchen Wörtern kränken, nur weil Frühere nichts Kränkendes in ihnen
sahen? Bei Mark Twain, der doch so wenig Rassist war, wie ein Mensch nur
zu werden hoffen kann, kommt sogar öfter das Wort ‘Nigger’
vor, einfach weil seine Figuren es manchmal gebrauchen, wie ihre
Entsprechungen in der Realität es gebraucht hätten. Darf das stehen
bleiben? Obwohl es eindeutig ein grobes Schmähwort ist? Müssen nicht
wenigstens solche rassistischen Beschimpfungen heute wegzensiert werden?
In Amerika war man hier und da dieser Meinung und strich Mark Twain von
der Leseliste; wahrscheinlich wird es irgendwann bereinigte Ausgaben
geben. Aus Amerika
ist aber auch die Reaktion eines schwarzen Harvard-Studenten
überliefert, als ein weißer Kommilitone forderte, Schwarze müßten durch
Sprachregelungen vor „Haßsprache“ geschützt werden, da sie sonst von den
Universitäten vertrieben würden: Solche Schutzmaßnahmen seien geradezu
anmaßend. Er sei in seinem Leben vielen Formen des Rassismus ausgesetzt
gewesen und nie davongelaufen. Ob gemeint sei, daß er seine Bücher
packen und nach Hause gehen würde, weil jemand in seiner Gegenwart
rassistische Sprache gebraucht? „Diese Annahme ist rassistischer und
beleidigender, als mich Nigger zu nennen.“
Wenn die
politische Korrektur der Sprache auf der irrigen Meinung beruht, durch
bloße Namensgebung ließen sich die Verhältnisse und sogar die Gefühle
der Menschen reformieren, so ist sie vermutlich Teil eines noch
größeren, eines säkularen Aberglaubens: der Mensch, das Bewußtsein des
Menschen sei Sprache und sonst nichts. „Sprache, wie die Liebe und der
Tod, ändert und bestätigt uns, haftet an uns und erforscht uns… und
macht uns zu denen, die wir sind“, wie kürzlich ein
Literaturwissenschaftler schrieb. Von woher ist diese Idee in das
zeitgenössische Denken eingedrungen, um sich dort zu einem Standardtopos
aufzublähen? Vielleicht aus der hermeneutischen Umdeutung der
Psychoanalyse, die aus dieser, als sie als Unterabteilung der Medizin
keinen Erfolg und keine Zukunft hatte, eine Geisteswissenschaft zu
machen trachtete, welche der normalen naturwissenschaftlichen Art der
Bestätigung und Widerlegung enthoben wäre. Allen Ernstes haben
psychoanalytische Hermeneutiker behauptet, daß der Mensch seine erzählte
Lebensgeschichte „sei“, daß der Therapeut ihn also nur dazu bringen
müsse, seine Lebensgeschichte anders zu erzählen, und daß eine
psychische Störung dann geheilt wäre, wenn der Patient sein Leben
umformuliert habe. Wenn man eine Krankheit für das „Symbol“ eines
seelischen Konflikts hält, ist es nur folgerichtig, Heilung auf der rein
symbolisch-sprachlichen Ebene zu suchen. Vermutlich waren es tiefe
anthropologische Mißverständnisse dieser Art, die der Psychoanalyse zu
dem Ruf verholfen haben, eine tiefe Anthropologie zu haben oder zu sein. Wer den
Menschen für ein durch und durch versprachlichtes Wesen hält, muß sich
von Korrekturen an der Sprache wahre Wunder versprechen. Scheinbar nimmt
er sie überaus ernst. In Wahrheit verkennt er sie. Eine blinde Liebe ist
ihrem Gegenstand selten förderlich. Die
politische Berichtigung der Sprache wird von der Hoffnung befeuert, eine
korrigierte Sprache würde irgendwie auch das Bewußtsein der Menschen
korrigieren: Die Alten, die
nicht mehr Alte heißen,
würden dadurch zwar nicht verjüngt, aber es blieben ihnen all die
abträglichen Vorstellungen erspart, die sich bisher an das Wort
alt geheftet hatten. Mit dem
unbeschriebenen Blatt eines neuen Wortes erhielten sie sozusagen eine
neue Chance. Und da die alten Vorstellungen das Wort einbüßten, um das
sie sich kristallisiert hatten, wären sie sozusagen ihres Trägermediums
beraubt und müßten verkümmern und schließlich verschwinden. Vielleicht
ist es ja so – vielleicht bestimmt nicht nur das Bewußtsein die Sprache,
vielleicht wirkt, zumindest ein wenig, auch die Sprache ins Bewußtsein
zurück. Es ist nicht sicher, es ist aber auch nicht ganz ausgeschlossen.
Das Aufkommen der Bezeichnung pc
hat vielleicht nicht gerade das Bewußtsein der Menschen verändert, aber
doch auf beiden Seiten schärfer eingestellt. Wer seine Sprache politisch
berichtigt, gibt nicht nur zu erkennen, daß er sich ein neues Bewußtsein
zu eigen gemacht hat, er hat möglicherweise wirklich einen
Bewußtseinswandel hinter sich. Indessen war dieser nicht die Folge
seines Sprachwandels, sondern ging diesem voraus; war nicht sein
Ergebnis, sondern seine Ursache. Die
wirkliche Testfrage wäre darum, ob Menschen, die in die berichtigte
Sprache hineinwachsen und ihre Ausdrücke von vornherein für die einzig
richtigen halten, damit auch genau jenes Bewußtsein erwerben, das den
Initiatoren der Sprachberichtigung einmal vorgeschwebt hatte – ein
Bewußtsein, das niemanden mehr
stigmatisiert und
diskriminiert und so fort. Das Fatale ist, daß sich das überhaupt nicht mehr erkennen ließe. Wenn die politische Korrektur der Sprache ihr Ziel erreichte, alle irgendwie kränkenden Wörter aus dem Verkehr zu ziehen, und wenn sich die ganze Sprechergemeinschaft unisono an die neue Etikette hielte, könnte der berühmte Beobachter vom andern Stern nur noch jubeln: Tadelloses Bewußtsein in diesem Land! Allerdings hätte er keinerlei Gewähr dafür, daß die Leute nun wirklich keine anstößigen Gedanken mehr hegen. Was sie wirklich meinen, wäre jeder sprachlichen Sichtbarkeit entzogen. Und der Preis der Verfreundlichung des Alltags wäre die Große Allgemeine Verschleierung.
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