Übersetzen als darstellende Kunst Über eine missverstandene Berufstätigkeit
Eine Berufsgruppe, die sonst im Verborgenen wirkt, hatte Ende 1992 so etwas wie einen Eklat: die literarischen Übersetzer. Elf von ihnen, darunter hervorragende, entschlossen sich zu einem beispiellos unkollegialen Schritt. Sie schrieben einen Offenen Brief an die Medien, in dem sie die Arbeit eines Kollegen gnadenlos verrissen und den Verlag aufforderten, das betreffende Buch (Lawrence Norfolks Roman Lemprière's Wörterbuch) neu übersetzen zu lassen. Der Verlag beantwortete das Ansinnen zunächst mit einer Schadensersatzdrohung, die er jedoch nicht wahrmachte. Trat dann ein, was man für das Normale halten möchte: dass sich Literaturkritiker über Original und Übersetzung beugten und selber zu entscheiden suchten, ob der ungewöhnliche Protest begründet war? Aber nicht doch. In einem seltsamen Missverhältnis zu dem Schreck, den jener Brief in der Szene ausgelöst hatte, stand schon die Spärlichkeit der Kommentare. Was aber an Stimmen laut wurde, enthielt sich weitgehend jedes Urteils in der Sache und erörterte lieber die moralische Frage, ob es sich gehöre, einen Kollegen anzuschwärzen. Ein Verleger verewigte sich im Börsenblatt mit folgender Zuschrift: "Es geht nicht um irgendeinen Streit, sondern um eine unfassliche, ebenso skandalöse wie ekelhafte, mafiose Verleumdung, die über den Angegriffenen hinaus die Freiheit der Literatur und damit – soweit vorhanden – die Freiheitlichkeit in unserer Gesellschaft schlechthin bedroht. Wenn wir es hinnehmen, dass die Zusammenrottung von Intriganten ungehindert über einen missliebigen Einzelgänger herfällt, so können wir alles vergessen, was zum Funktionieren eines halbwegs gesitteten gesellschaftlichen Organismus im Laufe der Geschichte entstanden ist. Dann sind wir wieder im Dschungel gelandet. Graduell gewiss von anderem Gewicht, ist dieser Vorgang sittlich doch von gleicher Kriminalität wie die Verfolgung Rushdies …" Ohne Urteil in der Sache aber gibt es hier wenig zu verhandeln. Ein rational begründeter Protest sozusagen aus Notwehr wäre keine mutwillige kriminelle Intrigantenattacke auf einen "missliebigen Einzelgänger". Jene Elf hatte ihrem Brief eine seitenlange Liste mit Beispielen beigelegt. Alle zusammen deuteten sie in eine Richtung: dass diese Übersetzung gar keine war, sondern allenfalls die Vorarbeit dazu; dass der Übersetzer einem Prinzip der Wortwörtlichkeit anhing, dessen Produkt zuweilen klang wie ein umgekehrter Filser-Brief; dass man stellenweise auf ein Übersetzungsprogramm der schlichteren Art getippt hätte, wären da nicht gelegentliche Fehler von der Art gewesen, die ein Computer nicht macht, etwa neck mit 'Nacken' wiederzugeben. Wer den Protest der Elf für grundlos und darum empörend hielt, hätte also schon erklären müssen, dass to cut short mit 'kurz abschneiden' durchaus treffend übersetzt ist, dass center of gravity auf deutsch zu Recht 'Mittelpunkt des Schwergewichtes' heißt, dass und warum 'Bei der Nennung des Schweins explodiert der Platz' auch nur eine mögliche Übersetzung ist für At the mention of pork the place [eine Schenke] erupts oder 'Sie ging an ihm vorüber' für It [ein Segelschiff] passed him; und so fort. Zumindest hätte er geltend machen müssen, dass dies nur gelegentliche, von anderen Qualitäten aufgewogene Ausrutscher waren. Niemand tat es. Ein Übersetzer mag, aus Zeitnot oder Unvermögen oder gar aus Prinzip, manches Fragwürdige hinschreiben. Die Verantwortung für das, was gedruckt in die Öffentlichkeit entlassen wird, trägt der Verlag. Wenn der Standard heute alles in allem gar nicht übel ist, so ist das nicht zuletzt jenen sachverständigen Lektoren zu verdanken, die da in anonymer Fron Reparaturarbeit leisten. In diesem Fall aber tat der zuständige Lektor m Börsenblatt Folgendes kund und zu wissen (und menschlich war es natürlich ein schöner Zug, dass er seinen Mitarbeiter nicht im Regen stehen ließ, auch wenn der Regenschirm ihn selber mitbeschirmte): Die angeblichen Fehler und Stilblüten seien gar keine. Vielmehr handele es sich um wohlüberlegte und gewollte sprachliche Abweichungen vom platten Normaldeutsch, die eine Ahnung von der Fremdheit des Originals vermittelten: "… [der Übersetzer gab], eng angelehnt an das Original, einer entlegeneren, eigenwilligeren Form gegenüber der umgangssprachlich geläufigen den Vorzug." Niemand widersprach. Einige sekundierten. Der Kritiker Rolf Vollmann war schon vorher zu dem Schluss gekommen, "dass die Übersetzung … ganz erstaunlich gut ist, sie gehört zu jenen wenigen Übersetzungen, durch die die eigene Sprache um das reicher gemacht wird, was der Autor in seiner Sprache schon vorgefunden oder auf seine Art auch erneuert hat“. Auch die Literaturwissenschaft stimmte zu, jedenfalls in der Person von Friedmar Apel, Professor in Paderborn und Autor eines vortrefflichen kleinen Standardwerks über die Literarische Übersetzung. Er bot in der Süddeutschen Zeitung eine ganze Seite abgehobener Theorie und historischer Reminiszenzen von Gottsched bis George Steiner auf, um dem Leser klarzumachen, dass es beim Übersetzen keinerlei "effektive Prozedur“ gebe und geben könne und dass eine verfremdende Übersetzung, die die Distanz zwischen Quell- zur Zielsprache offensichtlich mache, unter diesen Umständen noch die ehrlichste und beste sei. Sie liege hier vor: "[Der Übersetzer] knüpft mit seiner Aufmerksamkeit für das Fremdartige und Verschiedene an die Tradition der sprachbewegenden Übersetzung an. So hebt er die 'Eigentümlichkeit' und 'Eigenwilligkeit' von Norfolks Wahrnehmung des Geschichtlichen hervor, die sich in der Sprachgestalt auspräge … [Er] hat seine Aufgabe nicht im 'Dienst am schönen Deutsch' gesehen, sondern in der Nachbildung der Differenzstrukturen der von Norfolk entworfenen Welt …“ Auffälligerweise enthielt dieses sozusagen übersetzungswissenschaftliche Gutachten – ein Beispiel für die Blindheit gegenüber dem Offensichtlichsten, in die sich Experten manchmal verlieren – kein einziges konkretes Beispiel aus dem fraglichen Roman. Es hätte das ganze Kartenhaus sofort zum Einsturz gebracht. Jedenfalls hätte sich der Leser fragen können, worin eigentlich die "Differenzstruktur“ der Romanphrase and set sail for England besteht, die die Übersetzung "und setzten Segel für England "gerechtfertigt hätte. Offenbar hatte doch Norfolk nicht eine gewollt oder ungewollt differente, sondern eine durch und durch konventionelle Wendung verwendet. Sollte es also die Aufgabe des Übersetzers sein, nicht nur das in seiner Heimatsprache fremd Wirkende befremdend wiederzugeben, sondern alles – um mit jedem Wort klarzumachen, dass der Leser leider nicht das Original, sondern nur eine Übersetzung vor sich habe? Wäre die allerwörtlichste Übersetzung also die allerbeste? Nach einer Reihe solcher Interventionen standen die elf Briefschreiber nicht nur als üble Intriganten da, die aus niederem Konkurrenzneid einen missliebigen, wackeren Einzelgänger denunziert hatten, sondern auch als Beckmesser, die einer grundfalschen Übersetzungstheorie das Wort zu reden versuchten, einer Theorie, die nur zur Ödnis eines platten Deutsch führen konnte. Die angeblich hanebüchene Übersetzung hingegen war aus der Debatte als sprachlich innovatives Meisterwerk hervorgegangen. Und das Publikum, das den Streit verfolgt hatte, schloss wahrscheinlich aus der Uneinigkeit der Fachleute wieder einmal, dass Übersetzungen eben einfach nicht zu beurteilen seien – der eine sage so, der andere so, und irgendwie habe bestimmt jeder ein wenig recht. "Alle haben mal wieder recht“, schrieb ein Buchhändler zusammenfassend an das Börsenblatt.
Ich selber hatte das Scharmützel mit wachsender Beklemmung verfolgt. Hätte es auch mich treffen können?, fragte ich mich zunächst, als jemand, der seit über dreißig Jahren ebenfalls übersetzt. Aber bald sah ich meine Arbeit durch den Disput auf eine ganz andere und viel beunruhigendere Art in Frage gestellt. Le Mara's steps sound dully as steady thuds at his back – wenn das mit Le Maras Schritte dröhnen dumpf als stetige Bumser in seinem Rücken nicht nur richtig, sondern sogar vorbildlich übersetzt ist, dann hätte es allerdings immer viel schneller gehen können, und obendrein würde ich jetzt noch als Sprachinnovator gefeiert, der nicht frevlerisch dem Fremden die Distanz genommen hat. Der Zufall wollte, dass ich kurz vorher, als Herausgeber der Nabokov-Gesamtausgabe des Rowohlt Verlags, eine Übersetzung desselben Kollegen redigieren musste. Was die Intrigantenclique angeprangert hatte, kam mir alles nur zu bekannt vor – Gleichartiges hatte ich in monatelanger Strafarbeit gerade selber mühsam wegredigiert. Hatte ich unwillkürlich ein übersetzerisches Meisterwerk plattgemacht? Was berechtigte mich zu der Annahme, dass meine Art des Übersetzens richtiger sei als seine, oder auch nur so akzeptabel wie seine? Zu der Zeit musste ich gerade mit einem anderen Übersetzer über die Änderungen diskutieren, die ich in seinem Manuskript vorzunehmen für nötig befunden hatte. Ich verfremde den Fall hier so, dass sich niemand in ihm wiedererkennen kann, und da sich der Diskurs über Übersetzungen gerne in den Nebeln des Allgemeinen verliert, in denen dann in der Tat alle Katzen grau sind, will ich den springenden Punkt an einem Beispiel abhandeln, einem einfachen englischen Satz, der so gelautet haben könnte: As the debate progressed, he blew his top. Der Übersetzer hatte ihn folgendermaßen übersetzt: Als die Debatte fortschritt, blies er seinen Deckel. Ich hatte daraus gemacht: Im Fortgang der Debatte platzte ihm der Kragen. Und ich hatte gemeint, es sei das ein klarer Fall, Verkennung einer Redensart, allzu wörtliche Übersetzung, und der Übersetzer müsste mir nun eigentlich dankbar sein, dass ich ihn davor bewahrt hatte, sich mit einem geblasenen Deckel zu blamieren. Aber nein, der Übersetzer war nicht dankbar. Er bestand auf seiner Übersetzung. Er habe die Redensart keineswegs verkannt. Wenn ich "platzte der Kragen" sagen möchte, das Übliche eben, so sei das meine Sache, seine aber nicht. Er jedenfalls sage "blies seinen Deckel", Punkt. Womit ich nun vor einer Frage stand. Praktisch hieß sie: Setze ich meine Änderung auch gegen seinen Willen durch? Dahinter aber stand die andere: Was ermächtigt mich, das, "was ich sage“, für die angemessenere Übersetzung zu halten? Mir gehört die Sprache so wenig wie ihm. Gibt es auch nichtsubjektive Gründe dafür, dass meine Übersetzung die richtigere ist? So begann das Argumentieren. – Ich bestünde gar nicht auf dem platzenden Kragen, sagte ich; er könne wählen, was er wolle, schließlich sei er ja der Übersetzer und als solcher mit dem Buch vermutlich intimer vertraut als ich – nur müsste der Satz die Bedeutung 'wütend werden', 'die Geduld verlieren' enthalten, denn genau das sei im Englischen seine Bedeutung, und es sollte möglichst eine stehende deutsche Redensart dieses Sinnes sein, denn eine stehende Redensart sei auch blew his top im Englischen. Außer ihrem übertragenen Sinn habe sie einen wörtlichen, der jedem, der sie benutzt oder hört, durchaus bewusst werde ('seine Schädeldecke absprengen'); wenn das Deutsche keine entsprechende Redensart besitze, müsste der Übersetzer eben eine andere ähnlicher Bedeutung wählen. Seinen Deckel blasen sei hingegen keine stehende deutsche Redensart. Es sei schlicht unsinnig, und man könne allenfalls aus dem Zusammenhang ahnen, was es hier bedeuten soll. – Er: Mag sein, aber ein ordinäres platzte ihm der Kragen klammere sich zu eng an die deutsche Umgangssprache. Es sei sprachlich nullachtfünfzehn. – Ich: Genau das solle es sein, denn der Autor, der blew his top hinschrieb, habe auch keine Distanz zur englischen Standardsprache markiert, sondern sich distanzlos einer englischen Standardformel bedient. Indem er die Redensart wörtlich übersetzte, habe er ein Element der Verfremdung eingeführt, das dem Original durchaus abging, und in dieser Hinsicht also ungenau übersetzt. – Er: Das könne schon sein, aber er nehme es hin, denn seinen Deckel blasen führe vor, wie die fremde Sprache denke. – Ich: Aber die fremde Sprache denke gar nicht 'Deckel', sondern 'Schädeldecke', 'Scheitel', und sie denke auch nicht, was Deutsch mit dem Verb 'blasen' wiedergibt! – Er: Möglich, aber diese Bedeutungen schwängen in der fremden Sprache durchaus mit, und indem er aus ihnen eine artifizielle deutsche Redensart bilde, mache er dem Leser klar, dass er eine Übersetzung und nicht das Original vor sich habe. – Ich: Angenommen, das sei richtig, der Leser sei über diesen Umstand nicht schon durch die Titelseite ausreichend informiert, und es komme vor allem darauf an, ihm das Übersetztsein Satz für Satz aufs neue ins Bewusstsein zu rufen – woran wäre dann eine bessere von einer schlechteren Übersetzung zu unterscheiden, eine gute von der bloßen Stümperei? – Er: Die gute Übersetzung bereichere die deutsche Sprache. – Ich: Seine Übersetzung aber sei keine Bereicherung, sondern Unsinn – keine Kombination von Wörtern würde nur dadurch geadelt, dass noch niemand sie benutzt habe und je benutzen werde. Wenn es das vordringliche Ziel sei, den Leser mit Sätzen zu konfrontieren, die noch nie da waren und ohne seinen Einsatz wahrscheinlich nie da sein würden, so dürfe er es auf eigene Rechnung gerne tun, nur solle er es bitte nicht als Übersetzung verkaufen. Es schien ein hoffnungsloser Wortwechsel, nur durch ein Machtwort zu beenden. Immerhin, es hatte zwar keiner den anderen überzeugt, aber es waren auf beiden Seiten Argumente benutzt worden. Jedes von ihnen hatte eine bestimmte Erwartung an die Übersetzung enthalten. Auch wenn aus diesen Argumenten keine überall und ein für allemal gültige "Prozedur“ zu gewinnen war, hatte sich doch gezeigt, dass sich das Urteil über Übersetzungen nicht im Zwielicht eines grenzenlosen Relativismus verlieren muss. Erwartungen lassen sich explizit machen, und auf explizite Erwartungen lassen sich rational begründbare Übersetzungsmethoden bauen. Der Stand der Debatte in Sachen Lemprière's Wörterbuch schien diese Zuversicht Lügen zu strafen. Der gewöhnlichste und trivialste aller Übersetzungsfehler, eine unreflektierte Wortwörtlichkeit, stand als große übersetzerische Tat da; und jene, die Anstoß an ihr genommen hatten, als Banausen. Es war wie in der verkehrten Welt, wo Krummes gerade und Gerades krumm ist.
Die Literaturkritik beurteilt Übersetzungen nur noch ganz selten. Der Übersetzer hierzulande bewegt sich in einem zunehmend schalltoten Raum. Überhaupt beschäftigt sich die Literaturkritik mit dem eigentlichen Element der sogenannten Schönen Literatur, der Sprache, nur ungern; viel lieber hält sie sich an Thema oder Botschaft eines Buches oder gar an den Lebenslauf und die Gruppenzugehörigkeit seines Autors. Ihre seltenen Urteile teilt sie häufig zufällig und leichthin aus. Auch Hingestümpertes bemerkt sie kaum je, rühmt es vielleicht sogar noch ob seiner Sprachkraft. Wenn aber schon die professionelle Literaturkritik diesen Eindruck entstehen lässt, wie muss es dann erst um das allgemeine Publikum bestellt sein? Die Folge ist, dass literarische Übersetzer heute nicht nur gegen die Widerspenstigkeit eines Textes und die Zahlungsunwilligkeit eines Verlags anarbeiten müssen, sondern auch noch gegen eine ständige depressive Verstimmung, die sich auf die Formel bringen lässt: Wozu bloß all das Kopfzerbrechen? Es bemerkt den Unterschied ja doch niemand mehr. Werden Übersetzungen rezensiert? Wie oft werden sie mitrezensiert? Wie gründlich und verständig werden sie rezensiert? Als normaler Leser der Rezensionsteile hat man seine Eindrücke und weiß: meistens nein, manchmal ja, in einigen Zeitungen etwas häufiger, in anderen so gut wie nie. Durch Zufall bin ich in der Lage, auf die Frage eine Antwort zu geben, die nicht bloß aus gelegentlichen Eindrücken stammt und darum auch nicht nur eine Mutmaßung ist. Manche Verlage haben tüchtige Presseabteilungen und schicken allen, die am Zustandekommen eines Buches beteiligt waren – Autoren, Herausgebern, Redakteuren und auch Übersetzern – Kopien von sämtlichen Rezensionen zu, die irgendwo erschienen sind, selbst in den kleinsten und entlegensten Blättern. Und da jede Redaktion dem Verlag prompt jeden erschienenen Artikel zuschickt, um auch weiterhin in den Genuss kostenloser Rezensionsexemplare zu kommen, kann man sagen, dass man in diesen Fällen so gut wie alle Rezensionen zu sehen bekommt. Als Mitübersetzer eines Buches, das sofort auf die Bestsellerliste geriet und darum ungewöhnlich häufig besprochen wurde (nicht etwa umgekehrt), war ich Adressat solcher Zusendungen. In den drei Monaten nach dem Erscheinen erschienen über hundert Besprechungen, ungewöhnlich viele – lange Abhandlungen, kurze Hinweise, das ganze Spektrum. Von diesen über hundert Rezensionen kamen im Text selber vier auf die Übersetzung zu sprechen. Zwei von ihnen beschränkten sich auf die karge Aussage, Soundso habe dieses Buch ins Deutsche übersetzt. Zwei meldeten darüber hinaus eine Art Urteil an, indem sie irgendein Adverb wie "gut übersetzt“, "kompetent übersetzt“ dazusetzten. Wenn man diesen Fall schnöde verallgemeinern will, kann man also rundheraus sagen: Übersetzungskritik gibt es in weniger als einem Prozent aller Rezensionen. Eine argumentierende Übersetzungskritik findet überhaupt nicht statt. Sie findet noch nicht einmal dort statt, wo die Kritiker, wie in diesem Fall, durchaus gelegentlich ein Auge auf die Sprachgestalt des betreffenden Buches haben, sich jedenfalls dazu äußern; und wo in Erinnerung sein könnte, dass frühere deutsche Übersetzungen desselben Autors einmal so heftig umstritten waren, dass der Verlag eine davon zurückziehen musste. So ist die Lage. Ist sie zu beanstanden? Als Übersetzer, meine ich, kann man damit schon leben. Das Schweigen im Walde bedeutet indirekt ja, dass den Kritikern überhaupt nicht aufgefallen zu sein scheint, dass die Texte übersetzt waren, und wer will, kann das sogar für ein Kompliment halten. Allemal ist Schweigen besser, als wenn die Kritik sich bemüßigt fühlte, jedes Mal rasch irgendeinen beliebigen Eindruck aus dem Ärmel zu schütteln und zu einem gravitätischen Urteil einzufrieren. Aber um das persönliche Wohlbefinden der Übersetzer geht es überhaupt nicht – Literaturkritik ist keine Psychotherapie. Es geht darum, dass dieses Schweigen auf Dauer das Niveau der Übersetzungen in Frage stellt. Wenn in der Leseröffentlichkeit, die die Rezensenten vertreten, niemand mehr auf die Übersetzungen achtet, so wird diese Missachtung über kurz oder lang auf die Qualität durchschlagen. Warum soll ein Verlag dann noch Geld ausgeben, um eine nicht so gelungene Übersetzung instandsetzen zu lassen? Warum soll er überhaupt einen der aus seiner Sicht schrecklich teuren erfahrenen Übersetzer unter Vertrag nehmen, wenn der Hospitant Soundso die Sache auch für die Hälfte macht, nur um der Ehre willen oder weil er sonst nichts zu tun hat? Ein Echo, wenigstens gelegentlich, würde einen gewissen Ehrgeiz wachhalten.
Dabei lässt sich über Übersetzungen und ihre Qualität sehr wohl rational reden. Zwar gibt es kein Urmeter, keinen objektiven, allgemeingültigen Qualitätsmaßstab, aber es gibt eine Reihe von vernünftigen Fragen, die man an jede Übersetzung richten kann. Zum Beispiel: Ist sie "richtig“, gibt sie das Original auf der Bedeutungsebene vollständig und zutreffend wieder? Immer? Oft? Selten? Und wenn sie das nicht tut: Warum tut sie es nicht? Weil der Übersetzer den Text missverstanden hat, oder weil er aus anderen Rücksichten auf semantische Genauigkeit verzichtet hat? Waren sie es wert? Obwohl auch der Übersetzer immer wieder auf eine Inspiration angewiesen ist, die sich weder herbeikalkulieren noch herbeikonstruieren lässt, ist seine Arbeit ein Handwerk, wie die des Architekten, der ebenfalls aufgrund fremder Vorgaben und Normen eine Gestalt bis in ihr letztes Detail zu schaffen hat. Das Rathaus von Schilda war gewiss ein innovativer Bau, der brillant die Problematik allen Bauens offenbarte und jedem, der es betrat, seine Gebautheit ins Bewusstsein rief. Trotzdem, in seinem Urteil darüber schwankte niemand. Haben die Übersetzer so viel Aufmerksamkeit verdient? Sie haben doch nun schon durchgesetzt, dass ihr Name meist mit auf der Titelseite genannt wird, nur wenig kleiner gedruckt als der des Autors. Reicht das nicht? Sind sie größenwahnsinnig geworden? Ist es nicht die Kunst des Autors, die alle Aufmerksamkeit verdient? Ist Übersetzen denn eine Kunst, nicht nur ein dienendes Handwerk? Übersetzen ist eine andere Kunst als Schreiben, aber eine Kunst ist es: eine der darstellenden Künste, und zwar in einem recht wörtlichen Sinn. Der Übersetzer stellt mit seinen sprachlichen Mitteln dar, was ein anderer gestaltet hat, so wie der Sänger eine von einem anderen komponierte Arie, der Schauspieler eine von jemand anders geschaffene Figur darstellt. Seine Darstellung soll richtig sein, aber da es auf diesem Gebiet keine absolute Richtigkeit gibt, sondern nur Annäherungen an sie, ist die Übersetzung nichts Mechanisches, bleibt ihm dennoch eine große Freiheit, genau wie dem Sänger, der auch nicht falsch singen sollte und selbst dann, wenn er richtig singt, besser oder schlechter singen kann. Im Deutschen wird der Musiker, insbesondere der Sänger, auch 'Interpret' genannt. Er interpretiert die Musik eines anderen. Interpreter ist das englische Wort für 'Dolmetscher'. Übersetzen ist eine Interpretationskunst. So wie wir eine Arie niemals an sich hören können, sondern immer nur in bestimmten Interpretationen, können wir auch dem fremdsprachigen Text nicht anders als in bestimmten Interpretationen begegnen. Die Interpretation ist keine Zutat. Ohne sie bliebe der Text für uns nichtexistent.
Urteile sind nötig, und sie sind möglich – allerdings nur unter bestimmten Bedingungen. Erstens setzt Übersetzungskritik voraus, dass der Kritiker die Übersetzung mit dem Original verglichen hat. Wohl kann ein erfahrener Leser einer Übersetzung gewisse typische Fehler und auch gewisse idiosynkratische Stärken ohne einen solchen Vergleich ansehen. Bei den meisten jedoch springt nichts dieser Art ins Auge, und wo es das tut, kann man sich auch täuschen, sodass man selbst in solchen Fällen auf den Vergleich nicht verzichten sollte. Sagen wir, wenigstens fünf ganze Seiten in einem Roman, und dabei weder die erste noch die letzte, bei denen erfahrungsgemäß oft eine größere Mühe gewaltet hat als weiter drinnen. Dazu ist es natürlich nötig, dass man beide Sprachen beherrscht, dass man sich das Original beschafft, dass man Wort für Wort, Satz für Satz im Zusammenhang vergleicht. Das sei aber viel verlangt? So schikanös ist das Leben. Nichts gibt es umsonst, auch ein Urteil nicht. Die Frage, ob man nicht vielleicht doch, zumindest hier und da, ausnahmsweise einmal… – sie kommt mir vor wie die Frage, ob man es nicht doch einmal Umstände gäbe, die erlaubten, ein Buch zu besprechen, das man nicht gelesen hat. Nein, darf man nicht. Das bedeutet, dass man Übersetzungen aus Sprachen, die man selber nicht spricht, grundsätzlich nicht beurteilen kann; und dass Übersetzungen aus seltenen Sprachen praktisch nie ein kritisches Echo finden werden. Natürlich machen sie einem einen Eindruck, begründen sie einen Verdacht, der auch durchaus zutreffend sein kann. Trotzdem ist es nur ein Verdacht. Wer ihm nicht nachgehen, ihn nicht begründen kann, sollte ihn anstandshalber für sich behalten. Zweitens sollte der Kritiker wenigstens einmal in seinem Leben einen anspruchsvolleren Text selber übersetzt haben. Zwar muss man, mit Karl May zu sprechen, kein Kunstschütze sein um zu merken, ob jemand ins Schwarze getroffen hat. Aber anders lässt sich eine Grunderfahrung kaum erwerben, die haben muss, wer eine Übersetzung beurteilen will: die Erfahrung, dass sich alles Gedachte auf vielerlei Weisen ausdrücken lässt, von denen keine eindeutig falsch oder richtig ist. Anders gesagt, handelt es sich um die Einsicht in den approximativen Charakter jeder Übersetzung. Übersetzungen kann nur kritisieren, wer nicht selber bei jedem Satz von vornherein ganz genau zu wissen meint, dass der nur so oder so lauten könne. Der Fremdsprachunterricht in den Schulen vermittelt die Einsicht in die approximative Natur des Übersetzens nicht unbedingt. Früher lagen dort auf dem Tisch der durch und durch rätselhafte fremde Text, darunter die Klatsche mit der richtigen Übersetzung, und die Übung bestand darin, mithilfe von Wörterbuch und Grammatik das Rätsel auf die einzig richtige Art zu lösen. Der Kritiker sollte sich drittens einige Gedanken darüber gemacht haben, was von einer Übersetzung im allgemeinen und was von ihr im besonderen Fall zu verlangen ist. Dass ihm eine Stelle einfach nicht gefällt, mag eine unerschütterliche Tatsache sein. Mitteilensreif wird sie erst, wenn er zur Not auch erklären kann, warum. Es kann sogar vorkommen, dass ihm eine Übersetzung mehr gefällt als das Original, dass ihm die Diskrepanzen gerechtfertigt scheinen. Aber auch dann wäre es schön, wenn er sagen könnte warum.
Jeder weiß, was Übersetzen ist. Weiß es jeder? Beim Übersetzen wird ein Text von einer Sprache in eine andere überführt – eine triviale Definition, völlig richtig und völlig leer zugleich. Aber welche Aspekte eines Textes werden überführt? Und was tut der Übersetzer, wenn er einen Text übersetzt? Werden die Wörter, die Satzteile, die Sätze, die Absätze oder das Ganze übersetzt? Man geniert sich, es eigens hinzuschreiben, aber selbst Übersetzer scheinen es manchmal nicht zu wissen: Übersetzt werden Sätze, und übersetzen lassen sie sich nur im Zusammenhang des ganzen Textes. Es gibt Fehler, die verraten, dass der Übersetzer den Satz nicht zu Ende gelesen hatte, als er mit dessen Übersetzung. Es gibt andere Fehler, die daraus entstehen, dass er eine Stelle weiter hinten im Buch nicht kannte, die die vorige Stelle in ein anderes Licht rückt, und auch beim Überarbeiten die Verbindung nicht hergestellt hat. Was tut der Übersetzer, wenn er einen Satz in seinem Kopf aus einer Sprache in die andere transformiert? Meist wüsste er es nicht zu sagen, so wie niemand sagen kann, was er tut, wenn er Sprache bildet. Immerhin neigen Übersetzer weniger als andere Menschen zu dem Missverständnis, dass Gedanken und Sprache ein und dasselbe seien. Ein Satz ist das Vehikel für einen Gedanken, aber nicht dieser Gedanke selbst. Ein Gedanke vollendet sich, indem er zu einem Satz wird, aber er ist in einer nichtverbalen Form schon vor dem Satz da. Der Wortlaut des gehörten oder gelesenen Satzes wird in der Regel schon nach wenigen Sekunden vergessen – aber wenn der Gedanke, den er ausdrückte, eindrucksvoll genug war, lebt dieser lange fort. Die sprachliche Gestalt eines Gedankens ist nur seine flüchtige Form, dazu bestimmt, ihn an andere weiterzureichen. Ein und derselbe Gedanke kann verschiedene sprachliche Formen annehmen, die ihn alle gleichermaßen ausdrücken. Er kann auch in verschiedenen Sprachen realisiert werden. Nur darum ist Übersetzen möglich. Hätte der Gedanke keine Existenz hinter seiner sprachlichen Form, so zerfiele er mit dieser. Wie hätte man sich den vor- und nachsprachlichen Gedanken vorzustellen? Das Geistorgan, das Gehirn, hat sich Begriffe gebildet, und wenn es denkt, operiert es mit diesen Begriffen. Die einfachste Operation jenseits der bloßen Vergegenwärtigung eines Begriffs, die es vornehmen kann, ist die Bildung einer sogenannten Proposition. In der Proposition treten zwei Begriffe zusammen. Sie besteht darin, dass dem Begriff für ein Objekt oder ein Geschehen ein zweiter Begriff für eine Eigenschaft oder eine (aktive oder passive) Handlung zugewiesen wird: Buch/dicksein, Frau/lesen, Buch/gelesenwerden, lesen/ Zeitistfrüher – "Die Frau las das dicke Buch". Jeder Satz lässt sich in eine Reihe solcher elementaren Propositionen auflösen; zusammen bilden sie seinen propositionalen Gehalt. Die Versprachlichung eines propositionalen Gehalts besteht in der Wahl von Wörtern für die Begriffe und der grammatikalischen Konstruktion eines Satzes, in dem alle Propositionen untergebracht sind. Sobald sie Sprache wird, ist jede Proposition eine Prädikation: Von irgendetwas wird irgendetwas ausgesagt. Der einfachste Satz ist der, der eine einzige Proposition ausdrückt; er enthält ein Subjekt und ein Prädikat. Der gleiche propositionale Gehalt lässt sich in verschiedenen Sätzen zum Ausdruck bringen: Heute liest die Frau das dicke Buch – Das dicke Buch wird heute von der Frau gelesen – Liest die Frau heute das dicke Buch? – Die Frau liest am heutigen Tag ein Buch, das dick ist – Die Tussi schmökert heute in dem Wälzer… Vermutlich sind es solche Propositionen, mit denen das Gehirn operiert, ehe es sie in Sätze verwandelt und nachdem es sie aus gehörten oder gelesenen Sätzen entnommen hat. Was also tut der Übersetzer, wenn er einen Satz übersetzt? Er "versteht“ ihn, das heißt, er nimmt seine Sprachgestalt in sich auf und erzeugt in seinem Kopf den propositionalen Gehalt. In dieser Phase existiert der Gedanke sozusagen an sich, sprachfrei. Und dann konstruiert er für den propositionalen Gehalt eine neue Sprachgestalt in der Zielsprache. Dass das Gehirn es so und nicht anders macht, weiß der Übersetzer genauer als jeder andere. Immer wieder kann er an sich beobachten, wie er einen Gedanken denkt, den er eben einem Satz entnommen hat, der sich also offensichtlich in Sprache ausdrücken lässt, dessen neue Sprachgestalt aber noch nicht da ist – er weiß, es wird sie geben, sie liegt ihm fast schon auf der Zunge, heißt es nicht… nein, so heißt es nicht, er muss weitersuchen. Dieser quälende Moment, in dem ein Gedanke kurz vor seiner Versprachlichung steht, ist der Moment, in dem das Gehirn sich einen reinen, sprachfreien propositionalen Gehalt mit größtmöglicher Schärfe vergegenwärtigt und nach dem Ausdruck sucht, der ihn decken würde. Linguisten sprechen vom "Zungenspitzenphänomen". Man kann es in sich selber erzeugen, indem man sich Definitionen bekannter, aber nicht allzu bekannter Dinge vorlesen lässt. Wie nennt sich ein Instrument zum Freihandmessen von Winkeln für die Bestimmung von Ort und Zeit auf See? Wer die Definition hört, vergegenwärtigt sich die Bedeutung; dann sucht er sein inneres Lexikon nach dem Wort dafür ab: Sixtant! Der Übersetzer tut das gleiche, aber nicht nur für einzelne Begriffe, sondern für ganze Sätze. He wanted by all means to be part of the gang. 'Er', 'wünschte', 'durch', 'alle', 'Mittel', 'zu', 'sein', 'Teil', 'von', 'der', 'Bande'. Leicht geglättet und angepasst, ergibt das: "Er wollte mit allen Mitteln Teil der Bande sein". Wörtlich ist es richtig, und viele eilige Übersetzer gäben sich damit zufrieden und ließen es so stehen. Die weitere Frage aber hätte zu lauten: Mit welchen sprachlichen Mitteln drückt die Zielsprache, Deutsch in diesem Fall, das aus? Dazu muss man sich dieser Mittel sicher sein. Man darf sich nicht sagen, es gebe solche speziell deutschen Mittel gar nicht; die englischen seien von vornherein genauso richtig. Gebraucht wird eine "Folie sprachlicher Richtigkeit“, und sei es, um bewusst einen Abstand von ihr erzeugen zu können (der in diesem Fall allerdings nicht gefragt wäre). Am wichtigsten ist die Verbalphrase to be part. 'Teil sein'? 'Mitglied sein'? 'Angehören'? Nein, der reguläre Ausdruck ist 'dazugehören'. 'Mit allen Mitteln' kann man schlecht dazugehören, es wäre "unidiomatisch“; also 'unbedingt'. Und gang? Das lässt sich anhand dieses einen Satzes nicht entscheiden, sondern nur im Zusammenhang; vielleicht muss dann sogar Gang stehen bleiben, aber erst, wenn die anderen Möglichkeiten durchprobiert sind. So gelangt man etwa zu "Er wollte unbedingt zu der Bande gehören." Das ist vielleicht flach; aber tiefer war auch der englische Satz nicht. Daraus nun folgen zwei Binsenwahrheiten, die indessen sogar manchen Übersetzern unbekannt zu sein scheinen. Erstens: Man kann nichts übersetzen, was man nicht verstanden hat. Wie kann ein Übersetzer sich von einer solchen Selbstverständlichkeit je dispensiert glauben? Es geschieht immer dann, wenn er sich mit verfrühten Tiefenvermutungen trägt. Dann verzichtet er von vornherein darauf, sich den propositionalen Gehalt jedes Satzes bis in seinen letzten Winkel klarzumachen. Aus der Tatsache, dass er ihn nicht sofort verstanden hat, schließt er voreilig, dass er sich profaner Verstehbarkeit entzieht. Dann übersetzt er ihn nicht, denn das kann er unter diesen Umständen gar nicht, sondern produziert aufs Geratewohl etwas, das nur eines ist und sein soll: ebenfalls unverständlich. So gerät der Leser denn in einem Roman von Gabriel García Márquez etwa an Sprachgebilde wie dieses: "… er fragte sich entsetzt, wo könntest du wohnen in diesem Knotenknäuel aus teuflisch gereckten Stachelblicken blutrünstiger Hauer einer Zeterspur flüchtigen Gebells mit eingezogenem Schwanz des Gemetzels von Hunden, die sich in den Schlammpfützen zähnefletschend zerfleischen …" Tief? Wer sich die Mühe macht, die Stelle im Original nachzuschlagen, findet einen Satz vor, der wegen der fehlenden Satzzeichen in der Tat nicht leicht zu verstehen, aber doch durch und durch verstehbar ist: "… wo wohnst du wohl inmitten dieser wilden Hatz aus Knäueln gesträubter Wirbelsäulen aus teuflischen Blicken aus blutgierigen Reißzähnen aus der Spur fliehenden schwanzeingekniffenen Gekläffs aus dem Gemetzel von Hunden, die sich in den Schlammpfützen zerfleischen …" Die "Tiefe“, die Poesie eines solchen Satzes beruht jedenfalls nicht auf seiner Wirrnis und Undurchdringlichkeit. Zweitens: Beim Übersetzen ist es niemals damit getan, sich die Bedeutung der Wörter und Wortgruppen eines Satzes zu vergegenwärtigen. Ständig muss die zweite Frage lauten: Welche konventionellen Mittel besitzt die Zielsprache, diesen Gedanken auszudrücken? Die Frage ist auch dann unerlässlich, wenn sich der Übersetzer zu einer "sprachbewegenden“ Übersetzung (Apel) entschlossen hat, sich also der Standardsprache fernhalten will. Dann muss er sich diese Frage erst recht vorlegen. Er muss nämlich erkennen, in welchem Abstand zur Standardsprache das Original formuliert ist, um in seiner Übersetzung dann einen ähnlichen Abstand nachbilden zu können. In beiden Sprachen braucht er also den Standard als Folie für etwaige Verfremdungen. Ein Wert an sich ist Verfremdung nicht – sonst wäre jedes beliebige Gestammel eine legitime Übersetzung. Die wörtliche Übersetzung macht es in der Regel dem Übersetzer leichter und dem Leser schwerer. Wer ahnte auch nur, was eine mentale Reservation sein soll, wenn ihm das Wort zum ersten Mal begegnete und er nicht wüsste, dass sie eine wörtliche Übersetzung aus dem Englischen ist? Eine bloß eingebildete Buchung? Ein erfundenes Indianerwohngebiet? Der Anlass für den vermutlich häufigsten aller Übersetzungsfehler ist ein plebejischer Verwandter der vornehmen Tiefenvermutung, die Originalitätsvermutung: Der Übersetzer versteht zwar und sogar richtig, verkennt jedoch die Konventionalität eines Ausdrucks und hält ihn für eine originelle Schöpfung. Also sucht er nicht erst nach einer konventionellen Entsprechung in der Zielsprache, sondern übersetzt wörtlich. So entstehen dann Sätze wie "setzten Segel für England" (set sail for England) oder "Sein Gegenspieler ging ungesehen und ungehört" (his adversary went unseen and unheard). Oder der Übersetzer fällt auf die sogenannten "faux amis“ herein, die falschen Freunde, die im Englischen besonders häufig sind: ein Wort der Quellsprache, das einem in der Zielsprache äußerlich ähnlich sieht, aber etwas anderes bedeutet. Dann treten in Romanen lauter 'Charaktere' auf und nicht 'Figuren' oder 'Protagonisten' oder 'Helden'. Der falsche Freund hier ist das englische Wort character – der deutsche 'Charakter' wäre im Englischen unter anderem personality, das prompt wieder ein falscher Freund und mit 'Persönlichkeit' oft falsch übersetzt ist. Das ist eine 'konservative Schätzung'? Ein weiterer falscher Freund: conservative heißt hier nicht, was es zu heißen scheint, sondern etwa 'vorsichtig'. Was ist the eventual abolition of psychotherapy? Jedenfalls nicht die 'etwaige Abschaffung der Psychotherapie'. Der falsche Freund ist das englische Wort eventual, das hier eben nicht 'eventuell' bedeutet, sondern 'schließlich'. Manchmal werden akrobatische Sinnverrenkungen nötig, um einen nicht erkannten falschen Freund recht und schlecht in einem Satz unterzubringen: "Er ging zu einem Mann, Physiker von Beruf, der bereit war, sich seine Leiden anzuhören" statt "Er ging zu einem Arzt, der ihn abhorchte "– und der ganze Umstand nur, weil der Übersetzer physician ('Arzt') und physicist ('Physiker') verwechselt hat. Es gibt indessen Fälle, in denen zumindest eine gewisse Wörtlichkeit angebracht ist. Auch lassen sich die zugrunde liegenden Gedanken einer wörtlichen Übersetzung meist durchaus entnehmen. Die Regel allerdings kann sie nicht sein; nicht die "normale“ Übersetzung hat sich zu rechtfertigen, sondern die wörtliche. Sie erfordert eine größere Lesemühe, als sie das Original seinen Lesern zumutete, und dieser erhöhte Verständniswiderstand, den sie notwendigerweise mit sich bringt, stellt eine Verfälschung dar. Obwohl wörtlich richtig, ist die wörtliche Übersetzung darum in anderer Hinsicht falsch. Was an einem Text übersetzt wird, sind also zunächst die ihm zugrunde liegenden Gedanken, der propositionale Gehalt seiner Sätze: seine Bedeutung. Eine Übersetzung, die sie nicht möglichst vollständig erfassen und wiedergeben will, verdient den Namen nicht. Alle Tests, die die Sprachwissenschaft für die Qualität von Übersetzungen entwickelt hat, prüfen die semantische Ebene. Zum Beispiel wird ein Text in eine andere Sprache und dann aus dieser wieder zurückübersetzt. Ist etwas von seiner Bedeutung verloren gegangen? Etwas hinzugekommen? Hat er seine Bedeutung verändert? Jede Bedeutung lässt sich in jeder Sprache formulieren, nur nicht notwendig mit den gleichen sprachlichen Mitteln. Wo eine Sprache eine Bedeutung in ein einziges Wort fasst wie die deutsche den Begriff 'Schadenfreude' oder die englische den Begriff 'serendipity', werden andere mehrere Wörter brauchen, um das gleiche auszudrücken. Wofür eine Sprache Partizipialkonstruktionen verwendet, werden andere Relativsätze brauchen, und so fort. Je verwandter die Sprachen, desto ähnlicher werden normalerweise auch die sprachlichen Mittel sein dürfen. Die Frage, ob denn Übersetzen überhaupt möglich sei, ist auf dieser Ebene eindeutig zu beantworten: ja. Bedeutungen lassen sich aus jeder Sprache in jede andere übersetzen, aber nur, wenn man sich wo immer nötig von den sprachlichen Mitteln der Quellsprache – ihren zu Wörtern geronnenen Begriffen, ihrer Syntax – trennt. Bei Texten, die ganz in ihrer Funktion aufgehen, kann es mit dieser semantischen Ebene sein Bewenden haben. In einer Gebrauchsanleitung oder der Dokumentation einer technischen Anlage braucht nichts anderes übersetzt zu werden als die reine Bedeutung. Mehr gäbe möglicherweise Anlass zu Missverständnissen und würde darum sogar stören. Die Kunst der technischen Übersetzung besteht in der Wahrung einer eindeutigen und einheitlichen Terminologie und der Fähigkeit, gerade, übersichtliche Sätze zu konstruieren, und auch das kann eine durchaus kreative Aufgabe sein. Bei literarischen Texten jedoch hat der Übersetzer vielen anderen Dimensionen Rechnung zu tragen: dem Satzbau, dem Klang (auch wo nicht gerade Metrum, Reim oder Alliteration vorliegen, kann es dennoch auf die Lautwerte ankommen), dem Hof von Assoziationen, welchen viele Wörter um sich tragen, ihren historischen, regionalen oder sozialen Obertönen, der Stilhöhe irgendwo zwischen Kanzel und Gosse und allen Wechseln des Registers, die dem Text innere sprachliche Spannung verleihen. Alles dies zusammen gibt jedem Text, was man sein Air, seine Anmutung, auch seinen spezifischen Widerstandswert nennen könnte: die Verständnisanstrengungen, die er seinen Lesern zumutet. Wer zum Beispiel lange Perioden zu einem Stakkato zerlegt oder Null-acht-fünfzehn-Wörter verwendet, wo der Autor seltene und erlesene gebraucht hat, ändert die Anmutung und den Widerstand. Allen diesen Dimensionen gleichermaßen kann eine literarische Übersetzung kaum je gerecht werden. Vor allem kann eine semantisch genaue Übersetzung höchstens durch glücklichen Zufall auch klanglich genau sein. Jede solche Übersetzung ist notwendig ein Kompromiss, und ihr Kritiker hätte zu prüfen, ob es ein fauler war. Der Übersetzer (und sein Kritiker) muss abwägen, welcher Aspekt eines Textes am vollständigsten erhalten werden sollte und bei welchen Aspekten Einbußen am ehesten in Kauf zu nehmen sind. Grundsätzlich und ein für allemal ist es nicht entscheidbar – jeder Text verlangt eine neue Abwägung. Wer Odgen Nashs Vierzeiler "Candy/ is dandy/ but liquor/ is quicker" ins Deutsche übersetzen wollte, hätte vor allem die vier extrem kurzen, einhebigen Zeilen und ihr Reimschema zu rekonstruieren. Auf der semantischen Ebene brauchte er nicht mehr als ein allgemeines Lob des Alkohols zu erhalten. Wenn es bei literarischen Übersetzungen zuweilen zwingende Gründe gibt, auf der semantischen Ebene Kompromisse zu schließen, bleibt sie dennoch die Basis, die nicht ohne Not preisgegeben werden darf. Eine semantisch unnötig falsche Übersetzung mag sogar schön sein, falsch bleibt sie dennoch. Wenn der Autor 'Sonnenaufgang' geschrieben hat, gibt es keinen Grund auf der Welt, der den Übersetzer ermächtigte, daraus 'Sonnenuntergang' zu machen, und wenn er tausendmal meinen sollte, das klinge in diesem Fall besser oder Sonnenuntergänge wirkten poetischer. Wo der Fehler vorkommt, und er kommt vor, hat der Übersetzer wahrscheinlich nur dawn und dusk verwechselt. Wer eine freie Paraphrase für wünschenswert oder nötig hält, sollte sie nicht Übersetzung nennen, sondern wie in der Musik Improvisation über ein Thema von … Aber kann es semantische Richtigkeit überhaupt geben? Decken sich zwei Sätze, in zwei Sprachen für einen Gedanken formuliert, jemals vollständig? Woran ließe sich erkennen, dass sie sich vollständig decken? Man kann zwar ohne Wenn und Aber sagen, dass eine bestimmte Stelle falsch übersetzt ist. Aber nie kann man ohne Wenn und Aber sagen, eine Stelle sei richtig übersetzt. Das liegt nicht am Übersetzer, sondern an der Unschärfe aller Sprache. Die Mehrdeutigkeiten, die Computerlinguisten so zu schaffen machen, sind dabei die äußerlichsten Fälle von Unschärfe. (Die eine dieser Mehrdeutigkeiten ist die Homonymie: Dass das Wort 'Ton' zum einen 'Klang', zum andern 'Lehm' bedeutet, geht darauf zurück, dass es sich ursprünglich um zwei verschiedene Wörter handelte, die sich zufällig konvergent entwickelt haben. Die andere ist die Polysemie: Das Wort 'Muschel' hat mit der Zeit auch die übertragene Bedeutung 'Telefonmikrofon' angenommen.) Sprache jedoch ist auf eine noch viel radikalere und unreduzierbarere Weise unscharf. Der Mensch bildet Begriffe meistens eben nicht so, wie der Computerlinguist es gerne hätte: aus einer bestimmten Zahl von sowohl ausreichenden wie notwendigen Merkmalen. Der Computer könnte einen Begriff wie 'Buch' am leichtesten und sichersten gebrauchen, wenn er durch eine Liste von Merkmalen ausreichend und vollständig definiert, das heißt gegen Nachbarbegriffe abgegrenzt wäre: Papier/ Stapel gleichgroßer Blätter/ geleimt oder gebunden/ bedruckt, und so fort. Bleibt ein so definiertes Buch ein Buch, wenn es nicht aus Papier, sondern aus Pergament besteht? Wir könnten sagen: ja, wir nehmen Pergament auf in die Definition. Auch Baumrinde, auf die die Maya ihre Texte schrieben? Wir könnten auch die Baumrinde noch aufnehmen. Also wäre ein Stapel von gleichgroßen beschriebenen und verleimten Eichenborkestücken ein Buch? Offenbar hört die Sache für unser Gefühl irgendwann auf, ein Buch zu sein. Es gibt eine Zwischenzone, in der man etwas vielleicht noch 'Buch' nennen möchte, vielleicht aber auch schon anders. Zwischen einem 'Buch' und einer 'Broschüre' etwa gibt es keine objektive Grenze; wo für statistische Zwecke eine erforderlich wird, muss sie willkürlich festgelegt werden (48 Seiten). Man möchte denken: Die richtigste Bedeutung eines Begriffs ist die, die im Wörterbuch steht. Aber immer und immer wieder liefert einem das Wörterbuch mehrere Wörter als Übersetzungen eines fremdsprachigen Worts, und dass es mehrere sind, besagt schon: Keines von ihnen kann vollkommen richtig sein. Manche englischen Adjektive wie bland oder prim oder blatant sind für den Übersetzer geradezu beklemmend vieldeutig. Um nur bland zu nehmen: 'fade', 'langweilig', 'ausdruckslos', 'weich', 'mild', 'höflich', 'sanft', 'schmeichelnd', 'gefühllos', 'umgänglich' … Der Übersetzer muss aus der Situation erraten, welches deutsche Adjektiv im konkreten Fall am ehesten angebracht wäre. Niemand und nichts bestätigt ihm, dass er richtig geraten hat. Begriffe überlappen teilweise. Sie sind nicht scharf gegeneinander abgrenzbar. Sie haben eine Kernbedeutung, um die sich ein nicht genau bestimmbarer Hof von Nebenbedeutungen lagert, viele sehr emotional und subjektiv. Jedes Wort, heißt das, umgibt eine ganze Wolke von Bedeutungen. Und in zwei verschiedenen Sprachen gibt es kaum jemals eine genaue Entsprechung zwischen zwei solchen Wolken. Was Wörterbücher als Entsprechungen anbieten, hat seine semantische Mitte meist nicht an den nämlichen Stellen im Bedeutungskontinuum und um sich einen anderen Hof von Nebenbedeutungen und Assoziationen. Science ist 'Wissenschaft' und ist es doch nicht, und 'Naturwissenschaft' ist zwar science, hat aber im deutschen Kontext dennoch auf eine schwer fassbare Weise einen anderen semantischen Wert. Darum eben kann es im Grunde gar keine Eins-zu-eins-Übersetzung geben. Darum lässt sich auch nicht sicher sagen, ob eine Übersetzung ganz und gar richtig ist. Schon darum ist jede Übersetzung in gewisser Weise eine Interpretation. Das ist nicht akademisch, sondern für den Übersetzer alltäglichster Alltag. At that time, everybody was reading a certain cloyingly rhetorical anti-war novel – ein ganz leichter Satz, sollte man meinen, aber manchmal haben es auch leichte Sätze in sich. Die Schwierigkeit bereiten in diesem Fall zwei semantisch schillernde Wörter, das Adverb und das Adjektiv, cloyingly und rhetorical. To cloy heißt unter anderem 'bis obenhin vollstopfen', 'eine eigentlich nicht unangenehme Eigenschaft (wie Süße) bis zum Überdruss entwickeln' – seinen vollen Sinn kann nicht erfassen, wer es nur im Lexikon nachschlägt; man müsste es in vielen Zusammenhängen gehört und gelesen haben. Cloyingly ließe sich mit 'unangenehm', 'unmäßig', 'widerlich', 'ekelhaft', 'abstoßend' übersetzen – genau das ist es, was einem die Wörterbücher vorschlagen. Rhetorical heißt natürlich 'rhetorisch', aber auch 'schönrednerisch', 'phrasenhaft', 'schwülstig' und so weiter. Wie also wäre a cloyingly rhetorical novel zu übersetzen? Falsch wäre "ein abstoßend schwülstiger Roman"nicht; "ein widerlich euphemistischer Roman" wäre es auch nicht; und "ein unangenehm phrasenhafter Roman" ließe sich aus den beiden kleinen Bedeutungswolken auch noch ableiten. Es sind aber drei ganz verschiedene Dinge. Die übersetzerische Schwierigkeit besteht darin, dass es überhaupt keine Möglichkeit gibt, aus dem bloßen Sprachtatbestand abzuleiten, was der Autor gemeint hat. Solche Fragen hat der Übersetzer auf Schritt und Tritt zu lösen. In der Computerlinguistik heißt das "desambiguieren“. Wir alle müssen, wenn wir Sprache hören oder lesen, ständig desambiguieren. Der Übersetzer kann es nicht dabei belassen, dass er, wie jeder normale Mensch, sich ein paar Hypothesen bildet und sie, wenn er verstanden hat, gleich wieder vergisst. Er muss sich für eine entscheiden und sie auf Dauer festschreiben. Ehe er so weit ist, kann er es nur machen wie wir alle: Er muss jedes Indiz auswerten, dessen er habhaft werden kann. Dass der Übersetzer sein ganzes Wissen über einen Autor zu Rate ziehen muss, um dessen Sätze überhaupt erst übersetzbar zu machen, erklärt im übrigen, warum es keine übersetzenden Wunderkinder gibt. Niemand kann sich hinsetzen, ein Buch aufschlagen und ohne weitere Vorbereitung mit seiner Übersetzung beginnen. Zwar wird es immer wieder so gemacht, aber man merkt es dem Ergebnis sofort an. Übersetzen setzt Erfahrung voraus. Dank dieser Erfahrung kann sich der Übersetzer vielleicht am Ende sehr wohl entscheiden. Aber er hat niemals eine Gewähr dafür, dass er sich richtig entschieden, dass er diesen einfachen Satz richtig übersetzt hat. Andererseits ist er gar nicht leicht zu erschüttern. Wenn ein Kritiker käme, der sich seine Gedanken nicht gemacht hat, und behauptete, er fände hier ekelerregend bombastisch die richtigere Übersetzung, so wird er nur die Achseln zucken können. Auf dieser Ebene ist Übersetzungskritik etwas Schwieriges, so schwierig, dass ein normaler Rezensent damit wohl wirklich überfordert wäre.
Bei manchen Übersetzungen allerdings erübrigt sich derlei höhere Mathematik. Übersetzer untereinander benutzen das unzarte Wort 'Klops'. Ein Klops ist ein Schnitzer, ein Patzer, ein eindeutiger Fehler ohne Wenn und Aber, sagen wir mit Norfolks Übersetzer: ein Bumser. Wenn in den Fernsehnachrichten davon die Rede ist, dass auf einem englischen Flughafen Granaten in einem 'Warenhaus' explodiert sind, so meldet sich bei dem aufmerksamen Zuhörer sofort Klopsverdacht, und der bestätigt sich, wenn er zur BBC umschaltet und dort die gleiche Meldung auf englisch hört. Der Übersetzer wusste einfach nicht, dass ein warehouse mitnichten ein 'Warenhaus' ist, sondern ein 'Lagerhaus'. Er ist einem falschen Freund aufgesessen. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Und wenn im folgenden Spielfilm der Gangster auf die Frage, ob die Kasse heute unbewacht bleibt, die Antwort 'ich denke, sie wird' bekommt, so ist das ebenfalls einer, denn nicht nur der Irrtum über eine Wortbedeutung führt zu einem Klops, sondern auch die Verkennung einer idiomatischen Wendung. Wer konventionelle Redensarten wörtlich übersetzt, als wären es kostbare originale Prägungen, verunklärt den Text in seiner semantischen Dimension und verschiebt gleichzeitig Tonlage und Widerstandswert. Echte Sprachschöpfungen des Autors sind vor lauter Bizarrerien dann gar nicht mehr erkennbar. Nun ist keine Übersetzung je ganz frei von solchen Schnitzern, auch die beste nicht. Natürlich unterblieben sie besser; aber einer hin und wieder schadet einem Text weniger als ein fortgesetzt falsches Gehör für seine Tonlage oder eine chronische Schwierigkeit beim Umgang mit dem Konjunktiv. Darum reicht es auch nicht, wenn der Kritiker dem Übersetzer zwei oder drei solche Schnitzer um die Ohren schlägt. Ein Fall wird daraus erst, wenn die Schnitzerquote ein erträgliches Maß überschreitet. Wie viele dürfen sein? Theoretisch lässt es sich nicht sagen, praktisch aber stellt sich die Frage kaum. Denn die Schnitzer, die sich dem momentanen Blackout eines ansonsten guten Übersetzers verdanken, sind jedenfalls selten. Jene aber, die auf Unvermögen beruhen, kommen niemals allein. Der Text strotzt von ihnen, und der Kritiker braucht nicht lange zu suchen.
Was hier provisorisch "Widerstandswert“ eines Textes genannt wurde, läuft auf das gleiche hinaus wie jene Qualität, die die Übersetzungstheorie manchmal "Wirkungsäquivalenz“ nennt. Der Text soll auf den Leser in der neuen Sprache annähernd so wirken, wie er mutmaßlich auf die Leser in seiner Sprachheimat gewirkt hat: Er soll ähnliche Gedanken und Gefühle in ihnen evozieren. So lautet das Grundpostulat. Dass es nicht trivial ist, zeigt sich an dem, was es ausschließt, nämlich zwei Typen von Übersetzungen, die durchaus vorkommen und Fürsprecher finden. Am einen Extrem ist es die versimpelnde Übersetzung, die einen spröden Text "flüssig“ macht; am anderen der Typ, der unter Berufung auf eine Theorie Schleiermachers den fremden Text fremdartiger wirken lassen will als in seiner Herkunftssprache, und zwar durch Wortwörtlichkeit, eventuell sogar durch die weitgehende Übernahme seiner syntaktischen Konstruktion – die "sprachbewegende“ Übersetzung. Ein Postulat ist kein Naturgesetz. Es kann außer Kraft gesetzt werden, wenn Gründe dafür sprechen. Es mag Texte geben, die versimpelt, normalisiert, in die Schule der Geläufigkeit genommen werden dürfen; und andere, die am interessantesten als ethnographisches Dokument sind, an dem sich vorführen lässt, wie eine andere Sprache verfährt. Beim Gros aller Übersetzungen aber – mehr oder weniger zeitgenössischen Texten aus verwandten Sprachen und nahen Kulturen – gibt es keinerlei Sondergründe, die das Postulat der Wirkungsäquivalenz außer Kraft setzen könnten. Es ist kein Postulat, das notwendig zu einem platten Deutsch führen muss. Es besagt vielmehr, dass das Deutsch der Übersetzung genau so platt oder nicht platt sein sollte, wie es die Sprache des Originals in ihrem eigenen Bezugssystem war. Das Postulat der Wirkungsäquivalenz hat eine Zone, in die es nicht hineinreicht: Sprachtatsachen werden übersetzt, Kulturtatsachen aber nicht, und die fremden Kulturtatsachen wirken in ihrer neuen sprachlichen Umgebung notwendig anders als in ihrer sprachlichen Heimat. Dass Kulturtatsachen nicht übersetzt werden sollten, folgt nicht aus sprachlichen Rücksichten, sondern aus dem Respekt vor der Unterschiedlichkeit menschlicher Lebenswelten, die der Dolmetsch zwischen ihnen am wenigsten verwischen darf. Wer damit anfängt, aus fish'n chips 'Bockwurst und Pommes' zu machen, machte bald auch aus football 'Fußball' und aus der Moschee eine Kirche, und am Ende wäre die ganze Welt ein deutscher Kiez. Auf den ersten Blick scheint die Abgrenzung von Sprach- und Kulturtatsachen eindeutig. Sie ist es jedoch nicht. Viele Sprachtatsachen sind nämlich gleichzeitig Kulturtatsachen. Dass Israelis wie Araber mit ihren Wörtern für 'Frieden' grüßen; dass das Russische und einige romanische Sprachen eine Vorliebe für Diminutivendungen haben; dass das Englische vorwiegend mit Sexualbegriffen flucht, das Deutsche dagegen mit Fäkalbegriffen; dass eine Sprache ein reicheres und genaueres Vokabular für jene Dinge hat, die in ihrer Kultur im Vordergrund stehen – das alles sind Sprachtatsachen, aber es sind ebenfalls Kulturtatsachen, und als solche sollten sie auch in der Übersetzung aufscheinen. Damit sie aufscheinen, muss die Zielsprache bewegt werden. Dem Übersetzer bleibt also ein großer Ermessensspielraum. Er kann im Großen und Ganzen Wirkungsäquivalenz anstreben und im Kleinen dennoch viel überlegte sprachliche Fremdheit hereinlassen.
Vladimir Nabokov, der als Übersetzer und Übersetzter zwischen drei Sprachen lebte und Gelegenheit hatte, viel über das Übersetzen nachzudenken, hat die Klasse der Schnitzer – er nannte sie howlers – von allen anderen Fragwürdigkeiten des heiklen Geschäfts abgesondert und wiederholt dem Spott preisgegeben. Oder wenigstens meinte er, sie ihm preisgegeben zu haben; dass manche partout nicht lachen wollten, verstörte ihn. In der Rezension einer englischen Nachdichtung des Eugen Onegin stellte er einmal einen systematischen Katalog haarsträubender howlers zusammen. Als es im Jahr darauf zu dem legendären Zusammenstoß mit seinem ehemaligen Freund, dem Kritiker und Schriftsteller Edmund Wilson, über seine eigene Puschkin-Übersetzung kam, hielt dieser ihm vor, er habe jener früheren Übersetzung kleinlich nur ein paar Germanismen und Ungeschicklichkeiten angekreidet. Von Germanismen aber hatte Nabokov kein Wort gesagt. Und was er aufgelistet hatte, waren keine lässlichen Ungeschicklichkeiten, sondern unbestreitbare, grobe, lächerliche, haarsträubende Fehler. Wilson hatte sich offensichtlich nicht an ihnen gestoßen; er schien sie als solche nicht einmal wahrgenommen zu haben. Kann aber jemand Literaturkritiker sein, ohne solche Fehler zu erkennen? Kann jemand behaupten, einen Text zu schätzen, zu bewundern, zu lieben, wenn ihm nicht auffällt, dass der von howlers entstellt ist, und wenn diese ihn selbst dann nicht irritieren, nachdem ein anderer sie ihm vorgewiesen hat? Was liebt er denn dann eigentlich? Genau dieses würgende Gefühl, in einer verkehrten Welt zu leben, wo niemand sich mehr daran stößt, dass krumm und gerade für das gleiche gehalten werden, wo sich gar ein Chor von Gratulanten aufstellt und vergnügt "fair is foul and foul is fair" anstimmt – genau dieses Gefühl war es, das Nabokov damals beschlich. In Deutschland ließ der Fall Lemprière's Wörterbuch es nicht nur bei mir aufkommen. Weil es viele andere Übersetzer beschlich, blieb die Debatte denn auch nicht an dem Punkt stehen, auf den sie in den ersten Wochen so zielstrebig zugesteuert war. Sie hat schließlich einiges gerade gerückt und einige Vorstellungen geschärft. Am Ende war sogar die Unkollegialität ganz an ihrem Anfang legitimiert. Ein vor sich hindümpelnder Betrieb braucht gelegentlich einen großen Schreck, damit viele sich fragen, was sie da eigentlich tun. Der Schreck, der durch jenen Protestbrief in den Literaturbetrieb fuhr, wird einige Zeit vorhalten und der Literatur und ihren Lesern einige Übersetzungskatastrophen ersparen. Möchte man hoffen.
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