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DIE ZEIT/Feuilleton, Nr. 49, 6. Dezember 1968, Seite 18

(c) 1968 DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer

 

Die große Liquidierung

Von Dieter E. Zimmer

 

Vorbemerkung 2008:   Die Revolution erreichte das Feuilleton der ZEIT, die sich trotz aller revolutionären Umtriebe ringsumher nach wie vor als bürgerlich-linksliberal verstand, Ende 1968 in Form eines Manifests des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds. Es trug den Titel "Kunst als Ware der Bewusstseinsindustrie" und machte aller bürgerlichen (im Sinne von nichtsozialistischen) Kunst den kurzen Prozess: Weg mit ihr. Kein ZEIT- Redakteur hätte seine schneidenden Thesen unterschrieben; andernfalls hätten wir ja auch unseren Laden gleich dichtmachen können. Aber wir hatten auch unser bürgerliches schlechtes Gewissen und meinten es unserer Liberalität schuldig zu sein, dem SDS die erbetene Plattform nicht zu verweigern. Also druckten wir "Kunst als Ware" (Nr.48/1968) - in der Hoffnung, das Propagandastück würde eine Diskussion anregen, in deren Verlauf die Kunst ihr Lebensrecht verteidigte und sich die Dinge schließlich wieder zurechtrückten. Die Diskussion bekamen wir in der Tat, und zwar in einem Umfang, den niemand vorausgesehen hatte. Über viele, viele Ausgaben schleppten sich die Stellungnahmen zu der SDS-Kampfschrift, und jede machte die Lage verworrener. Erst als die Formel "Kunst als Ware" allen gründlichst zum Hals heraushing, hörte es auf. Der Erste, der Widerspruch einlegte, war Peter Handke. Er fand, der SDS hätte nichts als "totgeborene Sätze" abgeliefert, ließ sich aber auf keine inhaltliche Diskussion mit diesen ein. Das schien uns zu dünn, und da wir nicht voraussahen, was von selbst kommen würde, und Handkes ausweichende Antwort nicht als einzige Reaktion in den Raum stellen wollten, setzte ich selber mich an die Schreibmaschine und improvisierte eine erklärtermaßen bürgerliche Gegenposition, gleichsam dem Zeitgeist ins Gesicht. Dass der Fall damit erledigt war, scheint aber niemand gefunden zu haben. Als nächster meldete sich Peter Hamm, dann kam eine Antwort des SDS. Es folgten Bazon Brock, Dieter Wellershoff, Uwe Nettelbeck, Erich Fried, Helmut Reichel, Gert Schäfer und gleich zwei flehentliche Schlussworte von Rudolf Walter Leonhardt und Michael Buselmeier: Lasst gut sein! Am Ende wusste niemand mehr, wer hier wem widersprochen hatte - anscheinend alle allen, aber das Palaver an sich schien irgendwie einen Nerv der Zeit getroffen zu haben. Das war die nachmals berühmte Aktion "Kunst als Ware" des ZEIT-Feuilletons.

 

VON EINEM Darsteller der Bürgerrolle wird vermutlich erwartet, daß er sich von den Thesen zum Thema "Kunst als Ware der Bewußtseinsindustrie", in der vorigen Ausgabe der ZEIT von der Berliner SDS-Gruppe "Kultur und Revolution" vorgelegt, getroffen zeigt und sie samt und sonders zurückweist.

Ganz im Gegenteil aber scheinen mir eine Reihe dieser Thesen durchaus stichhaltig: so die über die gesellschaftlichen Implikationen des Phänomens Kunst auf allen drei Ebenen, der des Produzenten, der der Vermittlung und der der Rezeption ‒ ja, das sind in dieser Allgemeinheit Truismen; was nicht heißen soll, daß ihre nochmalige Konstatierung überflüssig wäre.

Schon aus diesem Grund kann ich den Thesen keine runde Gegenkonzeption entgegensetzen. Ich möchte nur versuchsweise, in gleichfalls gefährlicher Allgemeinheit, auf ein paar dünne Stellen aufmerksam machen.

Die allgemeinste und weitreichendste Vorentscheidung, auf der die SDS-Thesen beruhen, ist die, daß nicht etwa dieses oder jenes näher zu qualifizierende Schlechte besteht, sondern daß "das Bestehende" überhaupt schlecht ist. Impliziert ist damit die Zuversicht, daß die Beseitigung des Bestehenden (ein sonderbares Abstraktum das: Chemiekonzerne? Turnvereine? Telephonbücher?) das Gute schaffen würde. Woraus für alle Kunstübung eine einzige Aufgabe erwächst: die Beseitigung des schlechten Bestehenden zu befördern.

Einziges Kriterium für die Kunst wird damit ihre "Progressivität", nämlich das Maß, in dem sie alle absichtlich oder auch nur versteckt "affirmativen" Züge ablegt und unmittelbar der Revolution dient. Einen Schritt weiter heißt das: Wo sie Zweifel an ihrer Progressivität zuläßt, ist jede Kunst nicht nur keine Hilfe für die geplante oder zumindest herbeigewünschte Revolution, sondern "konterrevolutionär" und damit ein Übel. Wer sich nicht ausdrücklich zum Bündnis versteht, wird zum Feind erklärt.

Den Bürger in mir, wen anders, stört daran nicht allein die Aufforderung, auf alle Kunst zu verzichten, deren Progressivität zweifelhaft ist, und das heißt: eine Selbstamputation vorzunehmen; auch nicht nur der Umstand, daß eine derart radikale Theorie dem größten Teil aller Kunst, die je hervorgebracht wurde, den Kampf ansagen muß. Es stört mich auch, daß eine derart hochmütige lkonoklastik so wenig zu sagen weiß über den Zustand nach der Beseitigung des schlechten Bestehenden, um dessentwillen sie doch stattfinden soll.

In der radikalen Linken mag das noch so sehr zu einem Vorzug hinaufstilisiert werden: Es bleibt dennoch ein Manko, das entscheidende, daß eine Bevölkerung zur Rebellion angehalten, aber nicht darüber aufgeklärt wird, inwiefern sie sich damit einen besseren Zustand einhandeln würde; daß nicht bestimmte Verbesserungen in Aussicht gestellt werden, sondern ‒ quasi theologische Komponente! ‒ die totale Verbesserung, auch wo das kleinste Quantum Phantasie ausreicht für den Schluß, daß vieles Entscheidendes sich gar nicht ändern kann.

So ist es, meine ich, eine verstiegene Illusion, sich von der Revolution, also der Vergesellschaftung der Produktionsmittel, zu versprechen, sie werde die Kunst von ihrem Warencharakter erlösen. Selbst unter den günstigsten Voraussetzungen ‒ wenn die Revolution ihre Intentionen nicht selber wieder zunichte macht ‒ werden Bücher weiter gedruckt, verkauft, gekauft und gelesen, also "konsumiert" werden; wird man Schallplatten industriell fertigen und irgendwie verpacken.

Tatsächlich verändert die Verpackungsästhetik der Schallplattenindustrie das Kunstwerk vollständig, hieß es; aber ein Kampf für die sozialistische Schallplattenhülle erscheint mir so wenig lohnend, wie ich einen prinzipiellen Unterschied zwischen Supraphon- und RCA-Hüllen sehe und meine Musikrezeption von der Hülle nicht festgelegt fühle.

Nicht die Nachfrage bestimmt das Angebot, sondern das Angebot bestimmt die Nachfrage, nach der es sich dann scheinbar richten kann. Dies eine andere These. Die Frage, was in dem Konsumzirkel zuerst da ist, das Angebot oder die Nachfrage, ist damit eindeutig beantwortet. Aber auch richtig? Braucht es also zum Beispiel nur den Einsatz ausreichender marktstrategischer Mittel, und schon kaufen die Leute Neruda, wie sie bisher Malpass gekauft haben?

Mir scheint demgegenüber der Markt der Kulturwaren zwar ebenfalls kritikwürdig, aber nicht, weil er Bedürfnisse aus dem Nichts erzeugt, wo keine waren, sondern weil er jedem Bedürfnis, das er irgendwo zu wittern glaubt, ein Angebot gegenüberstellt, völlig unbekümmert um Kriterien der Vernunft und Moral; weil in den Konsumzirkel keine solchen Widerstände eingebaut sind.

Die kapitalistische Kulturindustrie ist sogar so nachgiebig, daß sie ohne weiteres durchlässig wird für antikapitalistische Ideen, sobald diese einen Markt haben. Wenn ein ähnlicher Markt für faschistische Ideen bestünde, würde sie sich auch dagegen nicht sperren (auch wenn sich das Geschäft vielleicht teilweise auf andere Firmen verlagern müßte). Diese Blindheit ist es, die mir gefährlich scheint. Der Niveaurutsch auf dem Frauenzeitschriftenmarkt, den der Erfolg von Jasmin eingeleitet hat, ist ein aktuelles Beispiel.

Daß sich der Kulturmarkt insgesamt nicht noch viel verheerender ausnimmt, als er es tut, verdankt er vor allem der Tatsache, daß manche, die auf ihm mitbieten, sich absichtlich oder aus Naivität marktwidrig verhalten. Marktgerecht sähe ein Rowohlt-Programm so aus: auf der einen Seite lauter geschenkfertig verpackte Malpasse, auf der anderen billige linke rororo-aktuells. Den Platz für Musil oder Jouhandeau dazwischen räumt nur marktkonträres Verhalten frei. Der Einwand, das scheinbar marktwidrige Verhalten sei mittelbar nur allzu marktgerecht, denn es versehe den Verleger sich selber gegenüber mit einem Alibi und erhöhe nach außen hin sein Prestige, das sich schließlich auch bezahlt macht, könnte einen mit dem Kulturmarkt fast versöhnen: wenn er sogar Charakter zu erzeugen imstande ist!

Die hohe Kunst gerät, unbeschadet ihres objektiven Gehalts, in die Zahnräder der Verwertungsindustrie und wird zum Mittel der Einschüchterung, stellte der SDS fest. Nichts wäre einzuwenden, wenn das einfach hieße: "Hohe Kunst" wirkt offenbar einschüchternd. Aber Mittel der Einschüchterung: das bedeutet, daß irgendein Subjekt "hohe Kunst" produzieren lasse, um die eigenen Herrschaftsprärogativen zu sichern.

Auch die hohe Kunst kritischer SDS-Theorie wirkt einschüchternd in wessen Interesse wohl? Was spricht denn gegen die näherliegende Auffassung: daß es nämlich dem schlechten Bestehenden absolut gleichgültig ist, ob die hohe Kunst einschüchtert oder nicht, daß sich die Herrschenden von sagen wir Beckett oder Kafka ebenso eingeschüchtert fühlen wie die Beherrschten, also so gut wie gar nicht, weil die Einschüchterung verhindert, daß sie deren Werke überhaupt zur Kenntnis nehmen, daß die Frage, ob eingeschüchtert oder nicht, überhaupt nicht unmittelbar eine Frage der "Klassenlage" ist, sondern eine der Begabungsunterschiede, des Intelligenzgefälles ‒ eines Intelligenzgefälles, das allerdings anders aussähe, wenn Bildung kein Klassenprivileg mehr darstellte, das aber damit keineswegs verschwunden wäre.

Eine Kunst, die niemanden mehr einschüchtert: das wäre eine, die nicht klüger wäre als das gedankenleerste Gesellschaftsmitglied ‒ etwas frustrierend für die nicht so Gedankenleeren.

Einschüchternd, oder rundheraus "repressiv", wirke auch die Schönheit des leider unfunktional gebauten Märkischen Viertels in Berlin, hören wir. Wohingegen mir scheinen will, es sei der Spannungsfall zwischen Ästhetik und Bewohnbarkeit eines Gebäudes ein technisches Problem, das sich unabhängig vom Gesellschaftssystem stellt.

Oder soll behauptet werden, im Kapitalismus baue man notwendig schön, aber unbewohnbar? Es wäre genauso unsinnig, wie an Hand irgendeines speziellen Falles zu behaupten, die sozialistische Architektur wirke "repressiv", weil sie zwar funktioniere, aber in ihrer Häßlichkeit deprimiere.

Keine Theorie dürfte es zulassen, daß die Tatsachen zu leicht über sie triumphieren. Ich sehe in der SDS-These nur das Bemühen, um jeden Preis eine spezielle und berechtigte Unzufriedenheit, hier die der Bewohner des Märkischen Viertels, auszunutzen, zu "politisieren", auf ein größeres Ziel zu lenken: "das System". Aber was, wenn der Berliner Senat nächstens ein Viertel baut, das ästhetischen und funktionalen Ansprüchen gleichermaßen gerecht wird? Dann wird (mir klingen die Argumente von vergleichbaren Fällen her in den Ohren) der SDS sagen: Der Senat erzeuge Zufriedenheit, um die Massen in politischer Apathie zu halten, die sogenannten Demokratisierungsmaßnahrnen im Bereich der Architektur fügten sich ein in die Strategie der Beherrschung. So oder so, das eine oder sein Gegenteil, es ist alles gleich schlecht. Das ist Dialektik. Allerdings haben "die Massen" Gründe für die Unzufriedenheit mit ihren Verhältnissen; aber ich beneide niemanden um die Aufgabe, ihnen klarzumachen, daß selbst, wenn sie einmal auch im Sinne des SDS Grund zur Zufriedenheit hätten, dies Grund zur Unzufriedenheit wäre. "Die Massen" denken positivistischer.

Das Licht, das am Ende dieser SDS-Thesen brennt, heißt: progressive Kunstproduktion, Beseitigung der Trennung Produzent-Konsument. Ich wünschte auch hier, ich könnte mir hinter solchen gestanzten Fertigprodukten von Sätzen etwas Deutliches vorstellen. Daß manche Künste heute Anstrengungen unternehmen, das Publikum, die "Konsumenten" also, zu involvieren und nicht in der Rolle passiver Abnehmer zu belassen, ist mir nicht entgangen. Jedoch handelt es sich dabei bisher nur um marginale Erscheinungen, über deren Zukunftschancen Prognosen noch nicht abgegeben werden können. Hier, denke ich, werden etliche Hoffnungen schwer enttäuscht werden - wenn alle Konsumenten zu Produzenten werden, wird niemand mehr hinhören wollen.

Im übrigen ist der Künstler nach wie vor, was er immer war und was abzuschaffen ich keine Notwendigkeit sehe: ein Hersteller von Objekten, der Realisator von privaten Visionen (die nichts Mystisches sein müssen und "relevant" für dies und jenes sein können und natürlich unter anderem auch gesellschaftlich vermittelt sind). Daß das Individuum heute angesichts immer komplexer werdender Zusammenhänge für schlechthin unzuständig erklärt wird, erledigt meiner bürgerlichen Meinung nach diese individualistische Kunstübung noch ganz und gar nicht. Alle Erfahrungen laufen doch immer wieder im einzelnen zusammen, als einzelner, und sei man noch so sehr ein Massenfabrikat, hat man sich durch sie hindurchzuschlagen; der Künstler tut es exemplarisch. Wenn die Unzuständigkeit des Individuums sein beherrschendes Erlebnis ist, dann wird er individualistische Kunst über die Unzuständigkeit des Individuums hervorbringen.

Drei Kategorien hat sich, laut SDS, die bürgerliche Ästhetik gebastelt, damit die kapitalistische Kulturindustrie nicht nur auf dem Profit, sondern auf einem Fundament ruhen kann: Originalität, Spontaneität, Virtuosität.

Die Kategorie der Spontaneität, soweit sie benutzt wird, um unter Berufung auf das spontane Erlebnis bei Kunstproduzent oder -empfänger alle weiteren Fragen abzuschneiden, ist tatsächlich nur antirational; wenn sie verschwände, wäre es gut.

Die Kategorie der Originalität desgleichen, aber nur, wo sie eingesetzt wird, um das Neue zu feiern, einzig weil es neu ist ‒ obwohl es hier schon schwierig wird, denn die Umkehrung des Satzes von der Originalität wird auch der SDS nicht wünschen; die bloße Wiederholung des schon Gesagten wird selbst auf Delegiertenkonferenzen niemanden interessieren.

Aber Virtuosität? Auch wenn das Wort verbannt wird - und es spricht ja viel dafür, solche verbrauchten Wörter hin und wieder zu suspendieren - : das, was es bezeichnet, wird aus dem Verhältnis zwischen Künstler und Publikum schwerlich beseitigt werden können. Es ist keine typisch bürgerliche Kategorie; bürgerlich ist allenfalls der Gebrauch, der ideologische wie der merkantile, der von ihr gemacht wird.

Kunst ‒ man weiß, von welchem Verbum das Wort kommt. Die Leute können nun einmal verschieden gut singen. Diesem Sachverhalt verdankt Kunst doch ihre Existenz? Es ist ein undemokratischer Sachverhalt, aber alle Demokratisierungsmaßnahmen, ob scheinbar oder tatsächlich, werden daran nicht rütteln. Der Kunst ist immer ein artistisches Element eigen: "Virtuosität". Es vertreiben, weil es undemokratisch ist, hieße die Kunst überhaupt vertreiben.

"Die Massen" mögen entscheiden, welche Kunst ihnen brauchbar erscheint; anzustreben sind Verhältnisse, unter denen sie das verständiger entscheiden können als heute. Aber sosehr ihr Recht, zu verwerfen, ausgebaut werden soll, so wenig darf das Recht des Individuums beschnitten werden, selbst an den Wünschen der Massen vorbei oder ihnen entgegen artistische Objekte herzustellen. Wenn die Aufhebung der Trennung Produzent-Konsument heißen soll, daß der Künstler bei seinen Werken den Massen Mitbestimmung einräumen muß (Beckett, der seine Werke erst vor Renault-Arbeitern oder Polizeieinheiten zu rechtfertigen hätte!), sehe ich eine trostlose Ödnis heraufziehen. Das Wort "repressiv" wäre dann wirklich gerechtfertigt. 

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