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DIE ZEIT/Feuilleton, Nr.24, 6.Juni 1980, S.35-36

Titel: "Ich bin, also denke ich – Eine kopernikanische Wende unserer Zeit: die evolutionäre Erkenntnislehre"

© 1980 DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer

 

 

 

Ich bin, also denke ich

 

Von Dieter E. Zimmer

 

ES HAT SICH in unserer Lebenszeit etwas ereignet, was manche ohne Zögern eine kopernikanische Wende nennen; und die meisten haben sie nicht bemerkt.

Kopernikanische Wende? Vielleicht sollten wir mit dem Begriff sparsam umgehen; die Beschleunigung des Erkenntnisgewinns durch die Wissenschaften könnte uns sonst leicht eine kopernikanische Wende nach der anderen bescheren, zu viele, als daß ihnen jemand folgen könnte. Aber auf die Etikettierung kommt es nicht an. Es kommt nur darauf an, daß uns tatsächlich eine grundlegend neue Einsicht zugänglich geworden ist. Und gerade weil das Wort gewöhnlich Ereignissen einer ganz anderer Ordnung vorbehalten ist, möchte ich es hier verwenden: Es hat sich eine stille Sensation zugetragen.

Auf einige der Grundfragen, die die Philosophie seit Jahrhunderten unentschieden hin und her debattiert, sind Antworten möglich geworden, und zwar erstmals Antworten nichtspekulativer Art. Die Antworten betreffen die Position des Menschen innerhalb der Welt, und sie betreffen die Natur seiner Erkenntnis: Woher er sie hat und wie verläßlich sie ist.

Die neue Einsicht kommt aus der theoretischen Biologie. Sie wurde gewonnen in der Ausarbeitung von Darwins Theorie von der Evolution der Lebensformen durch den Mechanismus von zufälliger Mutation und notwendiger Selektion der zweckmäßigsten Zufallserfindungen. Vielen Geisteswissenschaftlern wird es unwahrscheinlich vorkommen, daß eine Naturwissenschaft überhaupt einen Beitrag zur Philosophie leisten kann. Sie haben verschlafen, was da geschehen ist.

Denn geschehen ist eben dies: Die Vernunft braucht sich nicht mehr nur aus sich selber zu erklären und zu begründen. Der Geist braucht sich nicht mehr als einen wunderlichen Fremdkörper in der Welt der Naturerscheinungen zu sehen. Er kann die Kluft zwischen sich und der Natur überbrücken. Die Philosophie kann, wo sie dieser Spur folgt, mehr tun, als sie traditionellerweise immer getan hat: sich an ihrer eigenen inneren Schlüssigkeit zu messen; sie erhält, was die Naturwissenschaften so unwiderstehlich macht: "externe Konsistenz", nämlich Bestätigung aus nichtphilosophischen objektiven Gegebenheiten.

 

Der Geist fiel nicht vom Himmel

Der biologisch-philosophische Denkansatz, von dem hier die Rede ist, läßt sich am knappsten unter dem Stichwort "evolutionäre Erkenntnislehre" zusammenfassen. Sie läßt sich bis zu Herbert Spencer und Georg Simmel zurückverfolgen. Das große Verdienst, sie in ihrer modernen Form zum erstenmal systematisch und ausdrücklich aufs Tapet gebracht zu haben, kommt jedoch dem Verhaltensforscher Konrad Lorenz zu.

In seiner Königsberger Zeit, 1941, veröffentlichte er den Aufsatz Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie (er liegt neugedruckt vor in dem Band Das Wirkungsgefüge der Natur und das Schicksal des Menschen, 1978). Zwei Jahre später nahm er den Grundgedanken wieder auf in der langen Abhandlung Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung, eben jener, deren Schlußteile leider eine höchst fatale politische Wendung nahmen und der nazistischen Rassenpolitik in die Hände arbeiteten. Ganz ausgeführt hat ihn Lorenz erst viel später, im Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens mit dem Titel Die Rückseite des Spiegels (1973).

Es war ein so zwingender Gedanke, daß er sicherlich auch ohne Lorenz gedacht worden wäre, und diejenigen, die ihn weiterdachten, vor allem die Philosophen Karl Popper, Donald Campbell und Gerhard Vollmer und die Biologen Ludwig von Bertalanffy und Rupert Riedl, knüpften gar nicht unbedingt an Lorenz an. Aber bei Lorenz findet er sich nicht nur zum erstenmal durchformuliert, sondern vielfach auch noch immer am klarsten und bestechendsten. Wenn, was nicht unbedingt sinnvoll ist, die "kopernikanische Wende" mit einem Namen verknüpft werden soll, dann am ehesten mit dem von Konrad Lorenz.

Was ist das: evolutionäre Erkenntnislehre? Der Mensch, wissen wir seit Darwin, ist nicht von irgendeiner Macht fertig auf die Welt gesetzt worden; er ist ein Produkt der Evolution aller Lebensformen, seine Ahnenreihe reicht zurück bis zu einer Urzelle im Urozean, und über seine Ahnen ist er allen anderen Lebensformen verwandtschaftlich verbunden. Auch wurde er im Laufe dieser stammesgeschichtlichen Entwicklung nicht irgendwann durch den Eingriff einer außenstehenden Macht mit seinem Geist erleuchtet. Der Geist ist ebenfalls ein Ergebnis der Evolution.

Alle Lebewesen standen vor der Aufgabe, sich im Rahmen ihrer Zwecke ein möglichst zutreffendes Bild von der Welt zu machen, wenn sie in ihr nicht untergehen wollten. Genauer gesagt: Jene überlebten und pflanzten sich in einem stärkeren Maße fort, die sich (auf Grund einer zufälligen Mutation in ihren Genen) ein jeweils etwas richtigeres Bild von der Welt machen konnten. So entstanden "Weltbildapparate", wie Lorenz sie nannte: Strukturen, die Daten über die Außenwelt sammelten und sie zu zweckmäßigem Verhalten verarbeiteten. Sie entstanden wie Organe und als organische Funktionszusammenhänge. Was wir Geist nennen, ist Teil des stammesgeschichtlich entwickelten menschlichen Weltbildapparats. "Der Geist fiel nicht vom Himmel" (es ist dies auch der Titel von Hoimar von Ditfurths allgemeinverständlicher Einführung in die Materie). "Geist" ist ein Produkt des Lebensprozesses, und darum darf und muß die Biologie in der Philosophie mitreden.

 

Woher wir wissen, was wir wissen

Eine der ältesten philosophischen Fragen ist: Woher wissen wir etwas über die Welt? Und wie wahr ist das, was wir von ihr wissen? In welcher Weise passen unsere Erkenntnisstrukturen und die Strukturen der Realität aufeinander? Solange die Philosophie noch ganz auf sich selber angewiesen war, schwankten die Antworten zwischen: Was wir über die Welt wissen, wissen wir allein durch das Denken – es ist dies der Standpunkt des "Rationalismus". Oder: Was wir wissen, wissen wir aus unserer Erfahrung – da spricht der "Empirismus". Jahrhundertelang lagen der von Hume und Locke begründete Empirismus und der eher deutsche Rationalismus (in der angelsächsischen empiristischen Tradition auch kurzerhand "Metaphysik" genannt) miteinander in Streit.

Die eindrucksvollste Antwort auf jene Frage hat Kant gegeben. Sie lautet: Wir haben keine Ahnung, wie die Dinge "an sich" sind. Wir kennen sie nur in unseren eigenen "Kategorien". Diese Kategorien sind Wahrnehmungs- und Denkformen, Erkenntnisstrukturen, die nichts mit den Dingen an sich zu tun haben, sondern erst von uns an sie herangetragen werden. Die Welt selbst ist uns nicht zugänglich; wir haben es immer nur mit einer von uns interpretierten Welt zu tun. Diese Denkformen existieren, ehe wir zu denken und zu urteilen beginnen – sie sind die allem Denken zu Grunde liegenden Vorurteile, uns vor jeder Erfahrung, "a priori", gegeben. Solche apriorischen Denkformen sind etwa: Raum, Zeit, Kausalität, Substantialität.

 

Was sieht eine Pythonschlange?

Woher wir diese Denknotwendigkeiten haben, die alle unsere Wahrnehmungen und Gedanken von vornherein in einer bestimmten Weise ordnen, wußte Kant nicht zu sagen. Er hielt sie jedoch für absolut und unveränderlich – jedes denkende Wesen, sogar ein Engel, müßte in eben diesen Kategorien denken, meinte er.

Die evolutionäre Erkenntnistheorie bestätigt, und sie widerlegt Kant. Sie bestätigt, daß es apriorische Denkformen vor jeder individuellen Erfahrung gibt. Sie widerlegt, daß diese Denkformen in keinerlei logischer, natürlicher Beziehung zu der Wirklichkeit an sich stehen; und daß diese Denkformen absolut und für jedes erkennende Wesen gültig sind.

Diese Denkformen nämlich sind stammesgeschichtlich entstanden, sie sind geworden. Sie haben nichts Endgültiges – einem Engel kämen sie vermutlich so primitiv vor, wie sie sich vom Standpunkt eines Frosches aus, hätte der einen, raffiniert ausnähmen. Während Kants Vertrauen, daß unsere Erkenntnisformen die einzig möglichen sind, damit hinfällig ist, erweist sich sein Mißtrauen hinsichtlich einer Erkennbarkeit der Welt an sich als unbegründet. Es ist wahr, daß wir die Welt selbst, die Welt an sich, nicht erleben, sondern immer nur die von uns vorbewußt gedeutete Welt; daß wir also nicht zu sagen wissen, wie die Welt ohne uns beschaffen ist. Aber was unser Weltbildapparat uns zeigt, kann andererseits auch nicht rundheraus falsch sein oder ohne logische Beziehung zur Realität: Es mußte sich ja in Jahrmillionen der Evolution dem Test eben der Realität an sich stellen, es wurde an ihr erprobt und mußte sich in ihr bewähren. Ein Lebewesen, dessen Weltbildapparat ihm ein falsches Weltbild liefert, wäre ganz einfach nicht lebensfähig gewesen und von der Selektion verworfen worden. "Unsere vor jeder individuellen Erfahrung festliegenden Anschauungsformen und Kategorien passen aus ganz denselben Gründen auf die Außenwelt, aus denen der Huf des Pferdes schon vor seiner Geburt auf den Steppenboden, die Flosse des Fisches, schon ehe er dem Ei entschlüpft, ins Wasser paßt" (Lorenz 1941).

Und: "Leben selbst ist ein erkenntnisgewinnender Prozeß." Schon die Amöbe, die nur eins kann, nämlich vor einem Hindernis umkehren, hat etwas Richtiges über die Welt "erkannt": Es kommen Dinge in der Welt vor, da geht es für etwas wie sie einfach nicht weiter. Es ist ein sehr begrenztes Weltbild, das nur fest und durchlässig unterscheidet, und bildet keineswegs die Welt an sich ab. Aber es ist auch nicht falsch. Wie sich die Geruchswelt eines Hundes ausnimmt, können wir bei unserem verkümmerten Geruchssinn allenfalls noch ahnen. Wie ein Frosch, der nur Bewegungen und ungerade Kanten wahrnimmt, die Welt sieht oder das Facettenauge eines Insekts, wissen wir nicht. Noch weniger vorstellbar ist für uns, was das Infrarotauge einer Pythonschlange wahrnimmt oder der Fisch, der elektrische Felder erzeugt und ein Sensorium für ihren Empfang hat.

Die Farbe Rot ist keine Eigenschaft der Welt an sich; es gibt weder Farben noch Hellwerte, sondern nur Frequenzen des elektromagnetischen Spektrums – einige wenige von ihnen fängt unser Auge auf, und einigen der aufgefangenen Schwingungen legt unser Gehirn die Qualität "Rot" bei sowie einen bestimmten Helligkeitswert. Nichts ist an sich rot, und jemandem, der Rot nicht sieht, läßt sich unmöglich erklären, was Rot ist. Wir nehmen nur einen kleinen Ausschnitt der Welt an sich wahr, wir ordnen unsere Daten nach unserer Weise; aber daß sich diese unsere Weise im Lebensstrom erhalten konnte, zeigt, daß sie in ihrer beschränkten Art richtig sein muß. Leben ist ein erkenntnisgewinnender Prozeß, und das ist es darum, weil Erkenntnis nützlich ist. Die evolutionäre Perfektionierung der Weltbildapparate ergab sich, weil richtigere Weltbilder vorwiegend auch die nützlicheren sein werden. Auch der Geist entstand aus dem Opportunismus des Lebens.

Der Streit zwischen Empirismus und Rationalismus ist damit entscheidbar geworden. Es ist eine salomonische Antwort: Beide hatten sie ein bißchen recht. Es gibt Denkformen vor jeder individuellen Erfahrung, wie der Rationalismus meinte. Aber auch diese verdanken sich der Erfahrung, allerdings nicht der individuellen Erfahrung, sondern der angesammelten stammesgeschichtlichen Erfahrung – und damit hatte auch der Empirismus auf eine unvermutete Weise recht. Unsere Denkformen sind Aprioris für das Individuum; für den Stamm sind sie Aposterioris.

So formulierte Gerhard Vollmer den Kernsatz der evolutionären Erkenntnislehre: "Unser Erkenntnisapparat ist ein Ergebnis der Evolution. Die subjektiven Erkenntnisstrukturen passen auf die Welt, weil sie sich im Laufe der Evolution in Anpassung auf diese reale Welt herausgebildet haben. Und sie stimmen mit den realen Strukturen (teilweise) überein, weil nur eine solche Übereinstimmung das Überleben ermöglichte … Der 'Passungscharakter' erstreckt sich nicht nur auf die physischen, sondern auch auf die logischen Strukturen der Welt (wenn solche existieren)."

Die Philosophiegeschichte hat einige Grundpositionen für das Verhältnis von erkennendem Geist und Welt hervorgebracht. Der Solipsismus hält die ganze Welt für einen Traum des Bewußtseins und glaubt nicht an ihre Existenz. Der Agnostizismus behauptet, es lasse sich nichts über die Welt wissen. Der Realismus findet, daß die Welt durchaus existiert. Als naiver Realismus glaubt er, die Welt an sich sei identisch mit der Art, wie sie uns erscheint. Als kritischer Realismus findet er, die Welt sei teilweise so, wie sie uns erscheint, teilweise aber auch nicht so. Solipsismus und Agnostizismus sind logisch nicht widerlegbar; vielleicht, daß ihr Vertreter sie aufgäbe, wenn man ihn nachdrücklich genug kniffe und er es irgendwann unpraktisch fände, weiter zu behaupten, das Kneifen sei nur ein Traum, oder er könne nicht mit Gewißheit sagen, ob er gerade gekniffen oder vielleicht doch gestreichelt würde.

Der Standpunkt der evolutionären Erkenntnislehre ist selbstverständlich ein Realismus. Sie geht davon aus, daß es eine vom Bewußtsein unabhängige – objektive – Außenwelt gibt, daß diese Außenwelt nicht irgendein Chaos ist, sondern strukturiert, und daß es keine Sprünge in dieser strukturierten Welt gibt – ihre Gesetze sind überall gültig. Ihre Position ist die des kritischen hypothetischen Realismus (Campbell). Realismus, weil sie von einer ordentlichen Außenwelt ausgeht. Hypothetisch, weil unser evolutionär entstandener Erkenntnisapparat keine absoluten, unverrückbaren Wahrheiten erkennt und beweisen kann, sondern wie jeder Erkenntnisapparat jedes so entstandenen Wesens nur Hypothesen hervorbringen kann, nämlich begründete Vermutungen, die sich dann als richtig oder falsch erweisen. Und kritisch, weil der Prozeß der Wissenschaft in der rigorosen Überprüfung solcher Hypothesen besteht. Absolute Wahrheiten sind uns nicht erreichbar. "Nichthypothetisches Wissen und nichthypothetischer Erkenntnisgewinn sind uns nicht möglich" (Campbell). Wir können Hypothesen aufstellen und sie prüfen.

Wenn wir letzte Gründe suchen, geraten wir in das, was Hans Albert "Münchhausens Trilemma" genannt hat: entweder den "infiniten Regreß", bei dem das eine immerfort aus dem anderen begründet wird und so unendlich weit zurück, oder den logischen Zirkel, der auf Aussagen zurückführt, die ihrerseits bereits begründungsbedürftig waren, oder drittens die Kapitulation: den Abbruch der Begründungskette an irgendeinem willkürlichen Punkt.

 

Tiere sind dümmer

Auch der Realismus ist natürlich nur eine Hypothese, die sich etwa gegenüber dem Solipsismus nicht beweisen kann. Aber nach der Art einer Hypothese kann sie sagen: Gut, die letzten Wahrheitsbeweise lassen wir einmal; versuchen wir statt dessen, ob uns nicht die Annahme einer bewußtseinsunabhängigen, strukturierten, kontinuierlichen Außenwelt weiter bringt als die Annahme, alles sei nur Einbildung – ob sie uns nicht mehr erklärt und uns damit handlungsfähiger macht.

Die Tiere sind "dümmer" als die in ihrem Körper und in ihren Instinkten enthaltenen Erkenntnisse. Der Mensch dagegen hat sich, um sehr unmittelbare Überlebensprobleme lösen zu können, in seiner eigenen Stammesgeschichte die bewußte Rationalität erfunden, die sich selbständig gemacht und ihn in die eigenartige und einmalige Position gebracht hat, daß heute sein Weltbild seinem Weltbildapparat voraus ist. Dieser wurde an mittleren, irdischen Dimensionen entwickelt. Er versagt vor makro- und mikrophysikalischen Strukturen. Einen mehr als dreidimensionalen Raum können wir uns ebensowenig vorstellen wie ein Raum-Zeit-Kontinuum, und doch sollen das, belehren wir uns, Gegebenheiten der Welt sein. Wäre für uns das Licht ferner Galaxien je überlebensnotwendig gewesen, so gäbe es uns entweder nicht mehr, oder wir hätten Augen dafür entwickelt und die Relativitätstheorie zu apriorischen Denkformen verinnerlicht. Daß unser Geist nicht der bestmögliche ist, zeigt sich ebenfalls daran, daß Kausalität für ihn etwas Lineares ist: Eine Ursache führt zu einer Wirkung, und die wird wieder Ursache für eine nächste Wirkung, und so weiter. Die System- oder Rückkoppelungskausalität, die doch überall in der Natur anzutreffen ist, macht ihr Schwierigkeiten: also eine Kausalität, bei der die Wirkung in die Ursache zurückwirkt und somit Ursache und Wirkung nicht mehr zu trennen sind.

Wer sich über die evolutionäre Erkenntnistheorie unterrichten will, dem sei Die Rückseite des Spiegels von Konrad Lorenz empfohlen (das Buch verfolgt die Evolution unserer Erkenntnisleistungen durch die Natur zurück bis zur Amöbe), vor allem aber die Evolutionäre Erkenntnistheorie von Gerhard Vollmer. Es ist das Buch eines Philosophen mit vielen Exkursen in Biologie und Wahrnehmungsforschung und Linguistik, ein bescheidener broschierter Band von vorbildlicher Klarheit und Umsicht, der nur einen Nachteil hat: Er scheint viel zu kurz.

 

Wir rechnen nicht mit dem Zufall

Viel zu lang dagegen wirkt eine Neuerscheinung, die tatsächlich gleich lange Biologie der Erkenntnis des Wiener Zoologen Rupert Riedl. Es liegt vor allein daran, daß Riedl in diesem Buch nun vollends zu einem Stil gefunden hat, den man eigenwillig nennen mag, den ich jedoch als völlig verkrampft empfinde – es kommt mir vor, als sei Riedl bis zum Sprachkrampf erschrocken über den Umstand, daß er als Biologe etwas zur Philosophie zu sagen haben sollte. Eins seiner irritierenden Lieblingsworte etwa ist "Unverträglichkeit", und öfter spricht er von der "Unverträglichkeit der Ideologien". Ob er meint, daß die Ideologien nicht miteinander zu vereinbaren sind, daß er Ideologien nicht leiden kann oder daß Ideologien nicht mit der evolutionären Erkenntnistheorie kompatibel sind, läßt sich nicht ergründen; klar wird nur, daß er den Marxismus falsch und gefährlich findet – was ja zutreffen mag, nur geht es aus seiner Biologie der Erkenntnis nicht hervor und, meine ich, aus keiner evolutionären Erkenntnistheorie.

Im übrigen gibt Riedl, dem interessante Interpretationen der Strategien der Natur zu verdanken sind, nicht so sehr einen Überblick über das ganze Gebiet wie Vollmer, sondern entwickelt vier bestimmte, aufeinander aufbauende Aprioris unseres Denkens.

Das erste Apriori ist die Wahrscheinlichkeits-Hypothese, unsere subjektive "Erwartung von Möglichkeit oder Unmöglichkeit, Zufall oder Notwendigkeit". Unser Gehirn enthält einen Apparat, der ständig Wahrscheinlichkeiten berechnet. Ziehen wir ein Herz-As aus einem Kartenspiel, so finden wir das völlig in Ordnung; ziehen wir ein zweites Herz-As, so stutzen wir; bei einem dritten befällt uns der Verdacht, die Karten seien gezinkt. Wenn wir aufwachen, und es ist dunkel, so werden wir nicht meinen, daß die Sonne erloschen ist, obwohl sie eines Tages bestimmt erlöschen wird; unsere unbewußte Wahrscheinlichkeitsverrechnung zwingt uns, andere Gründe zu suchen (Ist es noch Nacht? Herrscht Sonnenfinsternis? Sind wir erblindet?).

Das zweite Riedlsche Apriori ist unsere Erwartung, daß "das Ungleiche in der Wahrnehmung der Dinge ausgeglichen werden dürfe, und daß sich ähnliche Sachen, obwohl sie offenbar nicht dasselbe sind, auch in manchen noch nicht wahrgenommenen Eigenschaften als vergleichbar erweisen würden". Diese Hypothese hat unter anderem unsere wunderbaren vorbewußten Fähigkeiten hervorgebracht, auch völlig Unähnliches, zum Beispiel Umrißzeichnungen einer Katze, die keine einzige Linie gemein haben, immer als "Katze" zu identifizieren.

Unsere dritte Hypothese besagt: Ähnliche Zustände und Ereignisse führen zu ähnlichen Ereignissen; wir erwarten Kausalität.

In der vierten Hypothese schließlich drückt sich unsere Erwartung aus, daß gleiche Strukturen dem gleichen Zweck entsprechen werden. Die modernen Wissenschaften haben ja die Zweckursache aus der Natur verbannt: Die Welt, auch die organische, ist nicht auf Zwecke hin entstanden. Es kann nämlich, kurz gesagt, kein in der Zukunft liegendes Ereignis in seine Vergangenheit hinein wirken. Die Vorstellung einer zweckgerichteten ("teleologischen") Welt wurde zu dem Gerümpel vorwissenschaftlichen idealistischen Aberglaubens geworfen.

Nicht mehr von Teleologie, sondern von "Teleonomie" sprechen die Naturwissenschaften seit etwa 1960, wenn sie erklären, wieso alles in der Natur so gut zueinander paßt. Die Sonne scheint nicht, "damit" die Sonnenblume wächst (so konnte es aus der irrigen teleologischen Sicht erscheinen). Und der Giraffe hat sich der Hals nicht gestreckt, "damit" sie an das Futter auf den Bäumen herankam; auch kein Schöpfer hat ihn ihr in die Länge gezogen. Vielmehr sind unter den ungerichteten zufälligen Versuchen ihrer Ahnen jene als zweckmäßig bestätigt und somit erhalten worden, die ihr das höher wachsende Futter erschlossen. Jede Errungenschaft der organischen Systeme wird zufällig hervorgebracht und erst im nachhinein als passend bestätigt (oder wieder eliminiert). Die gesammelten Bestätigungen der Vergangenheit sind dem Einzelwesen dann in Form seines genetischen Programms aufgeprägt: Jeder einzelnen Giraffe wächst der Hals in der Tat den Baumkronen zweckgerichtet entgegen.

Meine Vorbehalte gegen Riedls Buch sollten ihm keine Leser abspenstig machen; aber wer erst einmal den Hintergrund kennenlernen möchte, auf dem es geschrieben wurde, wird besser zuerst zu dem von Vollmer greifen.

Wer sich dagegen verspricht, aus dem neuen Buch Gehirn und Geist von Hans Zeier und Sir John Eccles Genaueres über die Zusammenhänge zwischen Erkenntnisleistungen und dem für sie zuständigen Körperorgan zu erfahren, den möchte ich rundheraus warnen. Der erste Teil, verfaßt von dem Zürcher Verhaltensforscher Hans Zeier, ist in Ordnung: Im Telegrammstil resümiert er die Evolution, vom Urknall bis zu einer Ethik des Verzichts, die den Menschen davor bewahren soll, seinen Lebensraum zu zerstören, unter besonderer Berücksichtigung neuerer Erkenntnisse über die Entstehung tierischen Sozialverhaltens.

Der australische Gehirnforscher Sir John Eccles in seinem Teil dagegen versucht eine private und exzentrische Theorie auszubauen, die von den meisten Kollegen wahrscheinlich gar nicht als wissenschaftliche Theorie akzeptiert würde. Es ist die Hypothese, daß der "Geist" (oder das, was er immer und immer wieder als den "sich seiner selbst bewußten Geist" bezeichnet und niemals definiert oder auch nur so erkennbar beschreibt, daß der Leser wüßte, bei welchen Lebewesen und in welchen Situationen er vorkommt) kein materielles Substrat habe, sondern etwas Immaterielles sei, was über die Funktionssäulen im linken Großhirn "fährt" und "streicht" und sie "liebkost" und dabei erregt oder dämpft. Dieses fahrige Etwas, meint Eccles, sei dem Gehirn von einem Schöpfer eingepaßt und taste wohl auch weiter, wenn das Gehirn tot ist. Hans Zeier hätten eigentlich die Haare zu Berge stehen müssen: Was vor allem seine Wissenschaft an Klarheit gewonnen hat, gibt Eccles wieder preis.

Eccles hat seine Theorie wohl darum entworfen, weil seine Wissenschaft noch weit davon entfernt ist, eine Theorie des Denkens (und seiner materiellen Grundlage) zu haben. Und weil er sich vor jenen Implikationen der Evolutionstheorie fürchtet, die unter anderem zur evolutionären Erkenntnistheorie geführt haben. In Vollmers Worten : "Hier ist der Mensch nicht Mittelpunkt oder Gesetzgeber der Welt, sondern ein unbedeutender Beobachter kosmischen Geschehens ... Was das heliozentrische Weltbild für die Physik leistet, die Abstammungslehre für die Biologie und die vergleichende Verhaltensforschung für die Psychologie, das leistet die evolutionäre Erkenntnistheorie für die Philosophie."

Das Schlußwort möchte ich keinem Biologen und keinem Philosophen geben, sondern einem Schriftsteller. Er hat mindestens Jacques Monod gelesen, und es ist keine Belletristik. In seinem neuen Buch Rumor schreibt Botho Strauß: "Wir haben zu wissen, daß sich die Evolution der Arten nicht nach einem vorausbestimmten Plan erfüllt, an dessen Endpunkt das Wesen Mensch erschien, sondern daß vielmehr jede Entwicklung in der Biosphäre aus Tippfehlern der genetischen Übertragung entstanden ist … Alle Veränderungen sind im Grund Versehen, die durch Mutation ausgelöst und durch Selektion erprobt wurden. Und wenn der Mensch – mit den berühmten Worten Monods  –, wenn der Mensch die Wahrheit, diese Wahrheit seiner Biosphäre annähme, dann müßte er aus dem tausendjährigen Schlaf aller Ideologien und Religionen endlich erwachen und seine totale Verlassenheit, sein totales Außenseitertum erkennen. Er muß wissen, daß er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden und Verbrechen."

Mit der evolutionistischen Erkenntnislehre wird der Mensch wieder etwas erwachsener.

 

Donald T. Campbell: Evolutionary Epistemology; in P.A. Schilpp (Hrsg.): The Philosophy of Karl Popper; Open Court, LaSalle, 1974, S., 413-463

Hoimar v. Ditfurth: Der Geist fiel nicht vom Himmel; Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg, 1976; 340 S., 34,– DM

John C. Eccles und Hans Zeier: Gehirn und Geist; Kindler Verlag, München, 1980; 210 S., 29,80 DM

Konrad Lorenz: Die Rückseite des Spiegels; Piper Verlag, München, 1973; 353 S., 16,80 DM (dtv 1249, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1977; 318 S., 9,80 DM)

Konrad Lorenz: Das Wirkungsgefüge der Natur und das Schicksal des Menschen – Gesammelte Arbeiten, herausgegeben und eingeleitet von Irenäus Eibl-Eibesfeldt; Piper Verlag, München, 1978; 367 S., 28,– DM

 

 

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