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DIE ZEIT/Literatur, Nr.8, 15.Februar 1980, S.30

Titel: "ZEIT 100 Bücher, 67: Franz Kafka Das Schloß"

© 1980 DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer

  

 

Kafkas Schloß

Von Dieter E. Zimmer

 

EINE DORNENHECKE: wenige Bücher haben die Exgeten so unwiderstehlich angezogen wie Franz Kafkas Schloß, um wenige ist eine so stachelige Barriere aus Sekundärliteratur gewachsen, die jedem, der das Buch heute aufschlagen will, bedeutet, er habe sich zunächst auf die Höhe der Schloß-Forschung zu begeben. Hartmut Binders imposantes neues zweibändiges Kafka-Handbuch, das deren aktuellen Stand resümiert, beruft sich dabei auf nahezu einhundertsiebzig einzelne Arbeiten. Unbefugten, so scheint es, ist die Lektüre des Schlosses, nicht mehr erlaubt.

Dabei ist doch, im Unterschied zu den anderen großen Mysterienwerken der Weltliteratur (Goethes Faust etwa oder Joyces Finnegans Wake), das Schloß an der Oberfläche gar nicht schwierig ‒ es ist höchst konkret und "ohne Experimente" in einem gleichmäßig-ruhigen Parlando erzählt, und keine geheimnisvollen Sachhintergründe bedürfen erläuternder Fußnoten. Diese Diskrepanz zwischen zugänglicher Oberfläche und schwer zugänglichem Inneren: sie macht einen sicher ganz besonderen Anreiz für das Dechiffriergewerbe aus.

Was Das Schloß beschreibt: sein Leser muß beim Lesen etwas ganz ähnliches an sich selber erleben: Er kommt nicht hinein. Dem Leser ergeht es mit dem unauslotbaren Roman Das Schloß wie Kafkas Held K. mit dem Schloß selber: Wenn er kam, das Schloß zu besiegen und einzunehmen, wird er zurückverwiesen auf eine ewige Annäherung; die anfängliche Einfachheit ist bodenlos; dem Ziel, dem "Verständnis" bleibt er fern, und jeder Schritt darauf zu, jeder kleine Erfolg ist nicht nur höchst bescheiden im Vergleich zu der gesamten Wegstrecke, die zurückzulegen wäre und in ihren ferneren Etappen nicht mehr abzusehen ist, sondern stellt sich möglicherweise als trügerisch heraus.

Ein Mann, ein Fremder, ein auf sein Initial (K.) reduzierter Schemen, trifft in einem Dorf  "zu Füßen eines gräflichen Schlosses ein. Er behauptet; er sei vom Schloß als Landvermesser in dieses Dorf berufen worden; aber ob er wirklich Landvermesser ist oder sich nur als einer ausgibt, ob er wirklich berufen wurde oder seine Berufung nur behauptet, ob

er nur zufällig eintraf oder in bestimmter Absicht, und was diese Absicht sein könnte ‒ das alles wird endgültig nie klar. So fragwürdig seine Qualifikationen und Motive sind, er ist eines Tages da und läßt sich mit dem Schloß ein, und was der Roman beschreibt, ist die Geschichte dieses Einlassens, die eine Geschichte verlorener Illusionen ist und einem deutlichen Muster folgt: Je mehr K. versucht, um so mehr wird er abgewiesen.

Was wäre leichter und alltäglicher, als in einem Dorfgasthaus um Logis nachzusuchen? Nun, dazu ist die Genehmigung des Schlosses erforderlich. Was wäre leichter, als den Grafen darum zu bitten? Nun, schon an den Grafen zu denken, seinen Namen auszusprechen, ist vermessen. Was ware leichter, als den zuständigen Schloßbeamten aufzusuchen? Nun, die Schloßbeamten sind nicht zu sprechen, und das Schloß ist unbetretbar. Aber man wird doch mit dem Zuständigen telephonieren können? Allerdings; nur es antwortet kein Beamter, nicht einmal der Kastellan, sondern nur ein Unterkastellan, einer von unzählig vielen, und was er antwortet, ist vielleicht unverbindlich, oder es bedeutet das Gegenteil von dem, was es zu bedeuten scheint, und vikelleicht ist es gar nicht gesagt worden, sondern nur ein Geräusch gewesen, das sich das Interesse des Hörers unten am Telephon seinen Wünschen entsprechend zurechtlegt.

Unter K.s neugierigem Blick entfaltet die Schloßbehörde eine fiebertraumhafte Kompliziertheit, die jede Zuversicht, sie könnte irgend etwas zugunsten des Petitenten regeln, zu einem naiven Kinderglauben degradiert. Als K. in dem Dorf eintrifft, hat er noch irgendwie hochfliegende Pläne. Es scheint, er fordere sogar das Schloß zum Kampf heraus. Das Leben im Dorf interessiert ihn zuerst gar nicht; dann interessiert es ihn, soweit er es für seine Auseinandersetzung mit dem Schloß glaubt nutzen zu können; später interessiert ihn seine Auseinandersetzung mit dem Schloß vor allem, um im Dorf eine "Aufenthaltsgenehmigung", das heißt eine Existenzberechtigung zu bekommen: Unterkunft, Arbeit. Gegen Ende des (unvollendeten) Romans ist aus dem tatsächlich oder vermeintlichen oder vorgeblich berufenen, hochmütigen Landvermesser der Allergeringste geworden, ein versteckt lebender Knecht der Gasthof-Mägde. Je mehr er über das Schloß wissen wollte, desto intensiver bekam er seine Ohnmacht und Ahnungslosigkeit zu spüren; je heftiger seine Unternehmungen ausfielen, desto starker prallte er ab. Das eben ist es, was Das Schloß beschreibt: eine Bemühung, die langsam aufdeckt, welche schwindelerregenden Widerstände ihr entgegenstehen. Je mehr K. weiß, um so ferner rückt sein Ziel. Sieht man in diesem Verlauf selber den Gegenstand des Romans, so büßt die unabweisliche, aber nie voll beantwortete Frage, was das Schloß bedeute und was K.s Kampf gegen das Schloß, an Dringlichkeit ein.

Max Brod, der Das Schloß 1926 gegen die Anweisungen seines toten Freundes aus dem Nachlaß veröffentlicvhte und dem wir somit seine Erhaltung verdanken, eröffnete die Reihe der allegorisierenden Deutungen. Er nahm an, das Schloß bedeute den "Himmel" und Ks. Kampf die Bemühung um die göttliche "Gnade". Unfähig einzusehen, wieso die albtraumhafte Schloß-Bürokratie ausgerechnet den Himmel meinen sollte, kehrte Siegfried Kracauer diese Deutung um und erkannte in den Schloß-Behörden die "Hölle". Später wurde die gesamte religiöse Deutung aufgegeben: nun war das Schloß ein Zeichen eben für die Religionslosigkeit, die "inhaltslose Transzendenz". Andere rückten von jeder religiösen Deutung ab und lasen den Roman als eine sozialgeschichtliche Allegorese des jüdischen Kampfes um gesellschaftliche Anerkennung. Marxisten sahen mit Lukácz Das Schloß als Darstellung auswegloser Entfremdung im Spätkapitalismus und verwarfen es, oder sie entdeckten darin eine (wenn auch individuelle, wenn auch erfolglose) Revolte gegen unzuträgliche Herrschaftsverhältnisse und Machtstrukturen und verteidigten es.

Nicht zuletzt läßt sich das Verhältnis zwischen "Schloß" und "Dorf" als das Verhältnis zwischen "Kunst" und "Leben" verstehen und K.s Kampf als ein Gleichnis für Kafkas eigene Anstrengung um die Ermöglichung einer höheren, künstlerischen Existenzform, ein Kampf, der teilweise lebensunfähig macht. Und die allermeisten Leser schließlich dürften immer der schlichten Meinung gewesen sein, im Schloß eine radikale Satire auf die Bürokratie, ihre verzweiflungsvolle Umständlichkeit, ihre Willkür, ihre unentrinnbare Allmacht, ihre labyrinthischen Dienstwege vor sich zu haben. Oder sollte Das Schloß das eigene Unbewußte symbolisieren und K.s Anstrengung also eine Art Psychoanalyse, oder ist sie das Aufbegehren gegen die Figur des Vaters, überhaupt gegen jene Instanzen, die Kafka ständig als "die Erzieher" gegenwärtig waren, bedrohlich und umworben, geachtet und gehaßt? Wäre K. ein Lucien de Rubempré des zwanzigsten Jahrhunderts, besessen von einem tollkühnen, unbestimmten gesellschaftlichen Ehrgeiz, der ihn ins Elend bringt? Sicherheit besteht nicht einmal darüber, ob K. nun als positiver oder als negativer Held zu sehen ist: Ist er einer, der nur sein primitivstes Recht verlangt, wo alle anderen sich längst mit der Ungerechtigkeit abgefunden haben, oder ist er ein rücksichtslos berechnender Egoist, der gegen eine ehrwürdige, wenn auch absonderliche Ordnung aufbegehrt, wo nur ihre demütige Respektierung ihm ein volles mitmenschliches Leben erlaubte?

Gläubige, Nihilisten, Existentialisten, Strukturalisten, Bürger und Revolutionäre, linientreue Kommunisten und Dissidenten: Jeder fand im Schloß, was er suchte, bereitwillig schien der Roman jedem nachzugeben. Albert Camus hatte bemerkt, daß die Realität, die der Roman schildert, nichts anderes sein mag als K.s Projektion, und K. also der moderne Mensch, der überall nur Projektionen wahrnimmt und keinen Halt an der Wirklichkeit findet: Er erfährt nicht die Welt an sich, er erfährt in der Welt immer nur sich selber. Auf ganz ähnliche Weise hält der Roman jedem Leser genau das bereit, was er hineinlegt.

Es scheint mir vermessen, Kafka zu unterstellen, er hätte diese nahezu unendliche Auslegbarkeit seines Vexierbildes nicht gesehen und nicht gewollt und vielmehr eine bestimmte Bedeutung in dem Buch nahezu unauffindbar verschlüsselt, die eines Tages herauspräpariert sein wird. Ich möchte lieber alle überhaupt nur möglichen Auslegungen auch für "richtig" halten ‒ solange man sich nur bewußt bleibt, daß man diesen Roman mit keiner von ihr ganz besitzt und daß jede mindestens ebensoviel über ihren Urheber aussagt wie über das Buch.

Es zeichnet die Spur einer elementaren menschlichen Bewegung, der Bewegung auf ein Ziel, das sich während dieser Bewegung als immer unerreichbarer erweist, so wie jeder Fetzen der Wirklichkeit selbst sich unter dem forschenden Blick abenteuerlich kompliziert und immer uneinnehmbarer wird. Die Tücke des Objekts: Kafkas trauriger Held trifft auf einen Gegenstand, der sich für das Interesse des Neugierigen rächt, indem er wächst und dem Herausforderer seine Kleinheit beweist.

Dieses Verlaufsmuster lädt ein, ihm Bedeutungen anzuprobieren; wie Schatten kommen sie, legen sich über das Buch, lösen sich wieder von ihm. Das Schloß nicht als vertrackte Verschlüsselung dieser oder jener Idee, die es ausfindig zu machen gilt, sondern als eine aus einem Zustand, den Kafka selber vollkommene "Ergriffenheit" nannte, gewonnene autonome Phantasie, die ein grundlegendes menschliches Erlebnismuster abbildet und es dem Leser überläßt, in welcher konkreten menschlichen Aktivität er dieses Muster am ehesten wiederzufinden bereit ist: ein Roman, der gleichzeitig den Leser unwiderruflich zurückweist und ihm ein Spiegel ist.

Ich kenne kein Buch, das ihm vergleichbar wäre. Wenn alle großen Bücher Sonderfälle sind, wie Benjamin sagte, die eine Gattung begründen oder auflösen, ist Das Schloß mehr als ein großes Buch: so sehr ein Sonderfall, daß es selbst eine Gattung nicht auflöst und nicht begründet, eine Gattung für sich.

Franz Kafka: Das Schloß; FT 900, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1976; 358 S., 5,80 DM

 

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