»Home

DAS GEDÄCHTNIS

Im Kopf die ganze Welt (4)

Von Dieter E. Zimmer

DIE ZEIT/ ZEITmagazin, Nr. 19, 1. Mai 1987, Seite 46, 48, 52, 54, 58-59, 60-61

© 1987 DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer

 

Merken wir uns von klein auf alles Erlebte – selbst wenn es uns später nicht immer einfallen will? Oder bauen wir uns unsere Erinnerungen aus erhaltenen Bruchstücken und sonstigen Kenntnissen bei Bedarf jeweils neu zusammen?

Ein Wissenschaftsreport von Dieter E. Zimmer

 

UNSER GESAMTES ERLEBEN – es werde vom Gedächtnis getreu aufgezeichnet. Diese Aufzeichnungen blieben immer erhalten, nur dass wir etliche von ihnen später nur schwer oder gar nicht zurückrufen können. Jeder trüge also seine gesamte Lebensgeschichte in vollem konkretem Detail, in all ihrer Fülle und Farbe in sich. Das Problem sei nur, dass er oft nicht an sie herankomme. Das ist in kurzen Worten, was hier die Videorecorder-Theorie des Gedächtnisses heißen soll. Die meisten Menschen sind bis heute von ihrer Richtigkeit überzeugt (bei einer amerikanischen Umfrage waren es genau 69 Prozent der Laien und sogar 84 Prozent der Psychologen). Wie zu erwarten, behauptet ein dürftig, aber populär psychologisierendes Computerprogramm, welches "die falschen Bits in Ihrem Unterbewusstsein löschen" will, bei "unserm geistigen System" handle es sich "um einen endlosen Speicher, der in jeder Sekunde unseres Lebens alles speichert, was wir erleben, und, noch wichtiger, was wir fühlen", den fünften Geburtstag wie sogar die Zeit vor der Geburt.

Die Videorecorder-Theorie hatte immer sehr prominente Fürsprecher. Bei dem französischen Philosophen Henri Bergson liest man es 1896 so: Das Gedächtnis "würde in Form von Erinnerungsbildern alle Ereignisse unseres täglichen Lebens, wie sie sich nacheinander abspielen, registrieren; es würde nicht die mindeste Einzelheit vergessen; jede Tatsache, jede Gebärde behielte es mit Ort und Datum".

In ehemals einflussreichsten aller psychiatrischen Lehrbücher, dem von Eugen Bleuler, findet sich von der ersten Auflage von 1916 bis zur vorerst letzten von 1983 die lapidare Feststellung: "Alles, was psychisch erlebt wird, hinterlässt eine dauernde Spur." (Bleulers vorsichtigen Zusatz, dass dies eine ihm zwar plausibel vorkommende, aber unbeweisbare Annahme sei, haben seine späteren Bearbeiter getilgt.)

Und natürlich hing Sigmund Freud der Videorecorder-Theorie an, übersteigerte sie sogar noch. Er brauchte sie für sein Lehrgebäude. Es behauptete ja, dass für spätere neurotische Störungen vergessene Erlebnisse verantwortlich wären, meist solche aus frühesten, erinnerungslosesten Kindertagen. Was krank machte, sollten "verdrängte", "unbewusst" gewordene, aber auf jeden Fall unverwüstlich vorhandene Erinnerungen sein. "Alle Eindrücke", schrieb er 1904, "(sind) in der nämlichen Art erhalten, wie sie aufgenommen wurden, und überdies noch in all den Formen, die sie bei den weiteren Entwicklungen angenommen haben … Der Theorie zufolge ließe sich also jeder frühere Zustand des Gedächtnisinhaltes wieder für die Erinnerung herstellen, auch wenn dessen Elemente alle ursprünglichen Beziehungen längst gegen neuere eingetauscht haben."

Wenn Bleuler die Videorecorder-Theorie plausibel vorkam, so darum, weil unter ungewöhnlichen Umständen, vor allem unter Hypnose, Episoden zum Vorschein kommen, die ganz und gar verschollen schienen. Aber erstens ist es fraglich, ob das, was da zum Vorschein kam, wirkliche Erinnerungen waren oder unabsichtliche Fabrikationen. Heute weiß man, dass viele der Erinnerungen, die sich in der Hypnose so wunderbar reichlich einstellen, bloße Pseudo-Erinnerungen sind, auch wenn sie von den Betreffenden mit vollster Überzeugung für authentisch gehalten werden. Vor allem aber folgt aus dem unbezweifelbaren Umstand, dass unser Gedächtnis mehr enthält, als wir jeweils erinnern können, noch lange nicht, dass es alles verwahrt, und das auch noch unverändert.

Darum traf es sich für die Videorecorder-Theorie sehr günstig, als in den 50er und 60er Jahren auch objektive Beweise für sie aufzutauchen schienen: die Hirnstimulationsversuche des kanadischen Neurologen Wilder Penfield.

Penfield versuchte schweren Epileptikern zu helfen, indem er die Anfallsherde aus dem Gehirn herausschnitt. Da das Gehirn selbst schmerzunempfindlich ist, kann die Operation bei örtlicher Betäubung vor sich gehen. Der Patient bleibt bei Bewusstsein und kann also auch Auskunft über sein Befinden geben. Um sicher zu sein, dass er keine lebensnotwendigen Bereiche, vor allem keine Sprachzentren verletzte, tastete Penfield, bevor er das Skalpell ansetzte, einzelne Gehirnregionen mit einer winzigen Elektrode ab. Und dabei zeigte es sich: Wenn er bestimmte Punkte des Schläfenlappens reizte, hatten einige seiner Patienten ganz bestimmte, sozusagen szenische Vorstellungen. Sie waren so lebhaft, dass sie ihnen gar nicht wie Vorstellungen erschienen – es war ihnen, als durchlebten sie jene Episoden gerade. Penfield war von vornherein überzeugt, sein elektrischer Griffel habe verschüttete Erinnerungen freigelegt. Vorhanden also sei alles; man müsse es nur zu finden wissen. Seine Experimente beeindruckten nicht nur Fachkollegen tief.

In den letzten Jahren sieht man sie indessen sehr viel skeptischer. Erstens trat das Phänomen bei 1132 operierten Patienten überhaupt nur vierzigmal auf. Von diesen 40 Patienten meinten selber nur zehn, es handele sich um Erinnerungen. Einige sagten, die Vorstellungsbilder seien ihnen vorgekommen wie ein Traum. Meist hörten sie Stimmen, Gesang, Musik, manchmal wie von fern, manchmal überlaut, oft "wie aus dem Radio", und dazu sahen sie irgendwelche Menschen. Dass sie ihnen auch nur bekannt vorkamen, sagten die meisten nicht; oder wenn, dann konnte es in der Form "vielleicht die Mutter" sein. Einige Male waren ihnen die Gestalten ausdrücklich unbekannt. Bei den wenigen Vorstellungen, die sich tatsächlich wie Erinnerungen ausnahmen, wurde in keinem Fall nachgeprüft, ob es sich wirklich um solche handelte (die Nachprüfung wäre auch schwer). Hier und da kann man dem Bericht entnehmen, dass es keine waren. "Fall 36. (Sie sagte:) Ich hörte etwas Vertrautes, ich weiß nicht, was. (Ohne Ankündigung [die Stimulation] wiederholt:) Ja, mir war, als rufe eine Mutter irgendwo ihren kleinen Sohn. Es war wie etwas, das vor Jahren vorgefallen ist ... Jemand in der Nachbarschaft ... (18 Minuten später wiederholt:) Ja, ich höre die gleichen vertrauten Laute. Es scheint eine Frau zu sein, die ruft. Dieselbe. Aber jetzt nicht in der Nachbarschaft. Es schien in der Holzhandlung zu sein. (Hinzugefügt:) Ich bin nie in einer Holzhandlung gewesen." Dieser Zusatz machte klar, dass es eine Erinnerung jedenfalls nicht gewesen war. Im Übrigen waren alle diese elektrisch herausgekitzelten Szenen völlig banal. Keine einzige hatte auch nur entfernte Ähnlichkeit mit jenen wegen ihrer Ungeheuerlichkeit verdrängten kindlichen Erlebnissen, die nach Ansicht der Freudianer unser "Unbewusstes" bevölkern.

Heute neigen viele Wissenschaftler darum eher zu der Ansicht, Penfields Elektrode habe überhaupt nicht das Gedächtnis aufgeschlossen. Sie meinen, es habe sich gar nicht um Erinnerungen gehandelt, sondern um Halluzinationen, wie sie etwa in der "Aura" eines epileptischen Anfalls auftreten.

Ist die Videorecorder-Theorie auch nicht widerlegt (und wohl überhaupt nicht widerlegbar), so ist sie also erst recht nicht bewiesen. Und es gibt eine lange psychologische Tradition, die das Gedächtnis völlig anders versteht. Besonders eng ist sie verbunden mit dem Namen des Cambridger Psychologen Sir Frederick Bartlett.

Bartlett interessierte sich vor allem für eine Frage, die uns alle gelegentlich quält, nämlich dann, wenn wir wieder einmal feststellen, dass uns von irgendeinem Roman, den wir einmal gebannt gelesen, von dem wir sogar gemeint haben, er habe unser Leben verändert, fast nichts geblieben ist, nicht die Handlung, nicht die Figuren, keine Situation, erst recht kein einziger Satz - er ist zu einem fernen Lichtschimmer in unserer Vergangenheit geworden. Bartlett wollte wissen: wie genau behalten wir Geschichten in Erinnerung?

Zu diesem Zweck legte er einer Reihe von Leuten die eine oder andere kurze Geschichte vor. Mit Bedacht wählte er solche, die leicht fremdartig wirkten; er meinte, dass sich einige Verfahrensweisen des Gedächtnisses deutlicher zeigen würden, wenn es mit ungewohntem Material zu tun hätte. Seine Versuchspersonen mussten die Geschichte zweimal aufmerksam durchlesen. Nach einer Viertel- oder halben Stunde und danach in wechselnden Zeitabständen bat er sie dann, genau aufzuschreiben, was sie davon in Erinnerung behalten hatten. So konnte er verfolgen, wie sich eine Geschichte mit der Zeit verformte und zersetzte.

Tatsächlich, von Mal zu Mal veränderte sie sich mehr. Bartlett studierte, welche Gesetzmäßigkeiten diese Veränderungen regierten.

In keinem Fall, auch kurz nach dem Durchlesen nicht, wurde der Wortlaut der Geschichte wiedergegeben. Alle Nacherzähler erzählten sie mit ihren eigenen Sätzen. Dabei normalisierten sie Stilelemente, die merkwürdig gewirkt hatten, glichen die Sprache ihrer gewöhnlichen Sprache an. Einigen blieb vom Stil aber in Erinnerung, wenn er irgendwie eigentümlich gewesen war. Dann versuchten sie, solche Eigentümlichkeit mit ihren eigenen Mitteln zu imitieren. Von auffälligen Ausnahmen abgesehen, behält man den Wortlaut also nie. Man entnimmt ihm seine Bedeutung, dann zerfällt er hinter dem Sprecher oder Schreiber wie der Kondensstreifen hinter dem Flugzeug. Leser können nicht unterscheiden, ob ein Satz, den man ihnen vorlegt, identisch ist mit einem, den sie nur wenige Minuten vorher gelesen haben, oder nur gleichbedeutend.

Ohne Ausnahme war die nacherzählte Geschichte nicht so lang wie die ursprüngliche, und mit der Zeit wurde sie immer kürzer. Das heißt, es war ein fortgesetzter Schwund an Einzelheiten zu verzeichnen. Gar nicht selten wurden aber auch neue Einzelheiten in sie eingefügt. War das einmal geschehen, so blieb es dabei – sie wurden bei späteren Nacherzählungen zu festen Bestandteilen. Gerade solche Hinzuerfindungen wirkten auf die Nacherzähler wie besonders glückliche Funde ihres Gedächtnisses. Wurde ein Detail erfunden oder ausgewechselt, so wurden alle davon abhängigen Details mitverändert. In einer der Geschichten war von Indianern in Kanus die Rede gewesen. Wer statt der "Kanus" des Originals "Boote" in seine Nacherzählung aufnahm, bei dem wurde auch "gerudert" und nicht mehr "gepaddelt".

Die Nacherzählungen fielen meist dramatischer aus - ihre Linie wurde geglättet, vereinfacht, zugespitzt. Die Geschichten wurden rationalisiert, teilweise recht brachial. Was an ihnen seltsam und schwer verständlich gewirkt hatte, wurde in den Nacherzählungen klar und durchsichtig. Das Ungewöhnliche wurde gewöhnlich. Gingen im Original zwei Indianer zum Fluss, um Robben zu jagen, so gingen sie in den Nacherzählungen oft einfach angeln. Wir behalten offenbar in der Regel nur, was uns erstens bekannt und zweitens sinnvoll vorkommt; das Befremdliche verwandeln wir, bis es uns vertraut ist.

Unabsichtlich, unbemerkt wurden die Geschichten im Einklang mit den Interessen, Kenntnissen, Vorlieben, Abneigungen, Gemütsverfassungen der Nacherzähler umfrisiert: Sie wurden ihnen immer ähnlicher.

Was bleibt von ihnen übrig? Keine Rede davon, dass wir irgendwo, irgendwie eine getreue und vollständige Aufzeichnung des ursprünglichen Eindrucks verwahren und dann nur mehr oder weniger fehlerhaft zurückrufen. Die unausbleiblichen Umformungen und die Tendenzen, die den Nacherzählungen zugrunde liegen, deuten auf einen ganz anderen Sachverhalt. Was bleibt, ist nur ein sehr allgemeiner Umriss, ein schwer beschreibbarer "Kern" ("irgend etwas über ein paar Indianer – Wasser – Kampf – einer stirbt"), manchmal nur der Kern, und es sind ein paar besonders ins Auge stechende Details ("das Schwarze, das ihm aus dem Mund kommt"), manchmal nur diese. Und um diese relativ dauerhaften Bestandteile herum, so fand Bartlett, konstruieren wir im Licht unserer Interessen und unseres sonstigen Wissens unsere Erinnerungen jeweils neu.

Unsere Erinnerungen liegen nicht fix und fertig bereit, abgerufen und abgespielt zu werden – wir bauen sie vielmehr neu zusammen. "Was angeblich aus dem Gedächtnis reproduziert wird, ist – viel allgemeiner als gewöhnlich zugegeben – in Wahrheit eine Rekonstruktion mit dem Zweck, den vom Original zurückgelassenen Eindruck zu rechtfertigen. Dieser kaum je genau definierte 'Eindruck' überdauert am ehesten. Solange die um ihn herum aufgebauten Einzelheiten nur einigermaßen plausibel wirken, sind die meisten von uns durchaus zufrieden und meinen, sie hätten buchstabengetreu erinnert, was sie doch aufgebaut haben ... Erinnern ist nicht die Wiederbelebung unzähliger starrer, lebloser und fragmentarischer Spuren. Es ist eine imaginative Rekonstruktion ... Darum ist es kaum je wirklich genau, selbst in den primitivsten Fällen von Auswendiglernen."

Manche Kinder – etwa fünf Prozent – sind sogenannte Eidetiker. Sie haben fast das, was wir mit dem legendären "fotografischen Gedächtnis" meinen: die Gabe, sich ein gesehenes Bild in einer großen Fülle von Einzelheiten vors innere Auge zu rufen, so, als sähen sie immer noch das Bild selbst vor sich. Nach dem elften Lebensjahr verliert sich die Fähigkeit meist. Aber auch Eidetiker, für die ja die Videorecorder-Theorie noch am ehesten zuzutreffen scheint, rekonstruieren, wie man festgestellt hat. Sinnlose oder für sie unverständliche Details (zum Beispiel Wörter in einer fremden Sprache) erscheinen in ihren Vorstellungsbildern nur verstümmelt oder fehlen ganz, oder das ganze Bild gerät in Bewegung – ein Auto fährt weg und verschwindet.

Den englischen Psychologen Ian Hunter, der eines der besten Bücher über das Gedächtnis geschrieben hat, haben derlei Befunde dazu gebracht, Bartlett emphatisch zuzustimmen: "Nirgendwo bei Mensch und Tier kommt es je vor, dass ein Individuum zweimal das gleiche tut oder erlebt. Oft tut es etwas Ähnliches, aber nie exakt dasselbe ... Die Schritte eines Tanzes, die Rezitation eines Gedichts, der Schlag in einem Tennisspiel – beobachtet man sie genau, bemerkt man ohne Schwierigkeit, dass die 'gleiche' Tätigkeit beim einen Mal eine andere ist als beim nächsten. Dasselbe gilt fürs Erinnern: Niemals stellt es eine vergangene Erfahrung oder Handlung wieder her. Und tatsächlich gibt es keinen biologisch guten Grund, warum es das tun sollte … Seine primäre Aufgabe ist es nicht, die Vergangenheit zu konservieren, sondern die Anpassung an die Erfordernisse der Gegenwart zu ermöglichen."

Bartlett ging auch schon der Frage nach, was geschieht, wenn eine Geschichte oder eine Zeichnung nicht nur ein einziges fehlbares Gedächtnis passiert, sondern deren mehrere – Vorstudien zu einer Psychologie des Gerüchts. Er ließ seine Versuchsperson eine Art "Stille Post" spielen. Einer las eine Geschichte oder betrachtete eine Zeichnung, erzählte oder zeichnete sie aus dem Gedächtnis nach, ein Zweiter las oder betrachtete das Ergebnis und gab an einen Dritten weiter, was bei ihm angekommen war, und so fort. Die Entstellungen fielen hierbei noch krasser aus. "Die serielle Wiedergabe führt zu verblüffenden und radikalen Veränderungen. Adjektive werden ins Gegenteil verdreht; Ereignisse werden vertauscht; Namen und Zahlen überstehen mehrere Wiedergaben selten intakt; Meinungen und Folgerungen werden ins Gegenteil verkehrt – fast alles kann dem Material zustoßen." Das "Hörensagen" hat zu Recht den Ruf größter Unverlässlichkeit. Was am Ende – gefiltert durch mehrere trügerische Gedächtnisse – ankommt, hat oft mit dem originalen Sachverhalt nicht mehr das mindeste zu tun.

Was sich dem mühelosen Verständnis entzieht, wird vom Gedächtnis entweder so lange umfrisiert, bis es angepasst ist, oder es wird übergangen. Zu den unheimlich anmutenden Fähigkeiten meisterlicher Schachspieler gehört ihr Gedächtnis für Spielstellungen. Ganze Spiele in großer Zahl können sie vor ihrem inneren Auge Zug um Zug ablaufen lassen. Aber dieses Gedächtnis funktioniert nur unter einer Bedingung: Die Figuren müssen sinnvoll stehen. Sinnlose Stellungen merkt sich der Schachmeister nicht leichter als ein blutiger Anfänger.

Wenn dies so ist, lässt sich wohl auch die Frage nach dem Verbleib der Erinnerungen an die frühere Kinderzeit beantworten. Die späteren Erinnerungen der meisten Menschen gehen nicht weiter zurück als ins vierte bis sechste Lebensjahr; aus der ganzen Zeit davor ist nichts im Gedächtnis. Freudianer nehmen an, Säuglinge und Kleinkinder erinnerten ihre Erlebnisse sehr wohl, hätten die Erinnerungen aber – da zu schmerzlich – "verdrängt", Neurophysiologen weisen darauf hin, dass die Schnelligkeit und Sicherheit der Impulsübertragung zwischen den Nervenzellen davon abhängt, ob sich die Nervenfasern mit einer Hülle aus Myelin versehen haben. Erst nach der Myelinisierung ist das Gehirn voll funktionsfähig. Sie aber kommt nur langsam voran; im Thalamus ist sie erst im achten oder neunten Lebensjahr, in den Assoziationsgebieten der Rinde mit zehn Jahren noch nicht abgeschlossen.

Aber es gibt neben dem physiologischen auch einen psychologischen Grund für die sogenannte infantile Amnesie: Das Kind merkt sich nur, was es versteht. Was sich aus seinem Blickwinkel sinnlos ausnimmt, bewahrt es auch nicht auf. Ganz deutlich wird das, wenn man Kinder beobachtet, die Sprache lernen. Sagt man ihnen Dinge, die über ihren Horizont gehen, so sind sie völlig außerstande, sie zu wiederholen. Normalerweise weigern sie sich, auch nur richtig zuzuhören.

Erinnerungen als Konserven, die man nur auffinden muss; Erinnerungen als (re)konstruktive Prozesse: der Unterschied ist von erheblicher praktischer Bedeutung.

Alle Kenntnisse, die wir unseren Erfahrungen entnehmen, so meinen viele Psychologen heute, werden zu großen Packen gebündelt, die "Schemas" oder auch "Skripte" genannt werden. Als Schemas verwahrt unser Gedächtnis sie. Wir besitzen unzählige solcher Schemas: eins zum Thema "Weihnachtsfeier", eins zum Thema "Taschendieb", eins zum Thema "Experiment", eins zum Thema "Demonstrationen" ... Neue Informationen, die uns zu diesen Themen erreichen, werden entweder in das Schema eingebaut, das sich mit der Zeit also stark verändern oder erweitern kann, oder als zu schemafremd zurückgewiesen – und vergessen.

Angesichts eines neuen Eindrucks versuchen wir, ihn einem der Schemas zuzuweisen, die wir schon in unserem Besitz haben. Ehe das gelungen ist, erscheint er uns vieldeutig - wir wissen nichts Rechtes mit ihm anzufangen, er bleibt uns auch nur bruchstückhaft und verzerrt in Erinnerung.

In einem von vielen Experimenten zu diesem Thema wurde den Versuchspersonen, folgender Satz vorgelesen: "... die Augen täuschen / hatte er gesagt / ein Ei / nicht ein Tisch / bildet diesen unerkundeten Planeten richtig ab / jetzt wollten drei entschlossene Schwestern es wissen / während sie sich zuweilen durch stille Weiten / öfter jedoch über rasende Gipfel und Täler vorankämpften / wurden Tage zu Wochen / indes viele Zweifler ängstliche Gerüchte über die Kante ausstreuten / schließlich erschienen geflügelte Wesen / aus dem Nichts / und bedeuteten Erfolg." Wer diese Sätze ohne ihren Titel gehört hatte, hatte kaum etwas verstanden – und konnte sich dann auch nur schlecht an sie erinnern. Anders jene, bei denen der Titel das richtige Schema angesprochen hatte: Kolumbus entdeckt Amerika.

In einem klassischen Versuch wurde eine Zeichnung gezeigt, auf der, offenbar in einem U-Bahnwagen, ein Schwarzer und ein Weißer nebeneinander stehen; der Weiße aber hält ein aufgeklapptes Rasiermesser in der Hand. Dann musste die Szene anderen beschrieben werden, die sie wiederum anderen weitererzählten, welche die Zeichnung nicht gesehen hatten. Über kurz oder lang fand sich dabei das Rasiermesser in der Hand des Schwarzen wieder – die neue Information war dem vorhandenen Schema angepasst worden.

Man sieht, worauf das hinausläuft. Schemas tendieren dazu, sich selber zu verstärken und zu verewigen. Informationen, die nicht ins Schema passen oder ihm gar widersprechen, werden häufig gern übersehen und sofort vergessen. Registriert und aufgehoben wird vorzugsweise, was sich in das bereits vorhandene Schema einbauen lässt. Klischees pflegen sich selber zu verstärken.

Eine rühmliche Richtung in der deutschen Psychologie hat schon in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts begonnen, Misstrauen gegen Augenzeugenberichte zu säen. Ihr Pionier war der Hamburger Psychologe William Stern. Kurz nach 1900 machte er einige Experimente, die so schlagend ausfielen, dass mancher Professor der Psychologie und der Rechtswissenschaften sie später gern vor seinen Studenten wiederholte.

Zum Beispiel dies. Wie vorher abgesprochen, kommt während eines Seminars ein Mitarbeiterin den Raum, stellt dem Professor eine Frage, geht zum Bücherbord, nimmt einen Band heraus und geht mit ihm hinaus. Dann forderte Stern seine Studenten auf, die Szene und ihre Akteure zu beschreiben. Ihre Beschreibungen strotzten von Fehlern. Nur Größe und Alter des "Täters" stimmten einigermaßen; in jeder anderen Hinsicht war "die Unzuverlässigkeit erschreckend", schrieb Stern. "Die meisten Fehler werden bei den Farbenangaben begangen. Das Haar, welches in Wirklichkeit braun ist, wird 3-mal schwarz, l-mal dunkelblond und l-mal blond genannt. Das in Wirklichkeit graue Jaquet wurde 2-mal als blau und 4-mal als braun bezeichnet; und der in Wirklichkeit braune Hut erhält (4-mal) die Charakteristik schwarz. Die Bedeutung dieser Farbenfehler wird dadurch noch größer, dass die richtigen Farben bei Anzug und Hut überhaupt nicht erwähnt werden." Wenn Versuchs-Zeugen ein Bild aus der Erinnerung beschreiben mussten, kamen vollständige und richtige Beschreibungen buchstäblich gar nicht vor. Sterns Schlussfolgerung war darum eher noch eine Untertreibung: "Die fehlerlose Erinnerung ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme."

Diese Forschungen trugen viel dazu bei, den Zeugenbeweis in Misskredit zu bringen. Vor allem jugendlichen Zeugen glaubten die Gerichte kaum noch etwas, und ganz besonders misstrauten sie den Aussagen von pubertie- renden Mädchen, die Opfer von Sittlichkeitsverbrechen geworden waren (meist waren sie selber die einzigen, die die Tat bezeugen konnten; und wenn das Gericht ihre Aussage nicht akzeptierte, gab es auch keine Verurteilung).

Aber solch totales Mißtrauen ist ebenfalls unfair dem menschlichen Gedächtnis gegenüber. Wohl stimmt es, dass ihm Einzelheiten in großer Zahl entfallen, dass es falsche Einzelheiten hinzuerfindet und von ihrer Richtigkeit überzeugt ist, dass es die Episode, um die es geht, leicht in vielfacher Hinsicht entstellt, bis sie eher mit den eigenen Vorurteilen und Erwartungen übereinstimmt. Aber wie auch Bartletts Nacherzählversuche demonstrierten: der allgemeine Umriss, der Kern bleibt in der Regel recht getreu erhalten. Wer Zeuge oder gar Opfer eines Raubüberfalls oder einer Vergewaltigung ist, ist in dem Moment besonders unfähig, alle Einzelheiten der Situation nüchtern aufzunehmen und sich einzuprägen. Wenn man seine Glaubwürdigkeit davon abhängig macht, wie viele Einzelheiten er richtig wiedergeben kann – ob das Fahrrad blau war und der Schuh spitz –, tut man seinem Gedächtnis Unrecht. In noch so vielen Details kann es sich täuschen, ohne dass doch der Kern der Erinnerung eine Täuschung gewesen sein muss.

Bei den Untersuchungen der Watergate-Affäre fiel Nixons ehemaliger Berater John Dean wegen seines exorbitanten Gedächtnisses auf. Er wurde der "Mann mit dem Tonbandgedächtnis" genannt, da er sich an viele Gespräche im Weißen Haus fast wörtlich erinnern konnte. Dann kamen eines Tages die Tonbandaufzeichnungen dieser Gespräche zum Vorschein, und man konnte sein Gedächtnisprotokoll mit dem Original vergleichen. Der Psychologe Ulric Neisser hat es getan. Er stellte fest, dass Dean den Wortlaut durchweg falsch wiedergegeben hatte. Seine genaue Erinnerung hatte ihn getrogen, war eine Pseudoerinnerung gewesen. "Sein Ehrgeiz hatte seine Erinnerungen reorganisiert: Selbst wo er die Wahrheit zu sagen bemüht ist, kann er nicht umhin, seine eigene Rolle hervorzuheben." Aber Neisser stellte auch fest, dass Dean zuweilen durchaus auch in Details nicht irrte – und dass er darüber hinaus in gewissem Sinn fast immer recht hatte. "Selbst wenn Dean den Gang eines Gesprächs völlig falsch wiedergab, konnte seine Schilderung der Tatsachen hinter jenem Gespräch doch im wesentlichen richtig sein – seine Schilderung langanhaltender, invarianter Sachverhalte, die in vielen einzelnen Episoden zutage getreten waren." Eben da wir unsere Erinnerungen nicht fertig vorfinden, sondern jeweils neu rekonstruieren, können sich verheerende Entstellungen einschleichen. Aber ihren Kern tasten wir nicht so leicht an.

***In den letzten Jahren haben sich amerikanische Psychologen des Themas angenommen, vor allem Elizabeth Loftus. Unter anderem führte sie ihren Versuchs- Zeugen Dias oder Filmszenen von Verkehrsunfällen vor. Dabei zeigte sich nicht nur ein weiteres Mal, wie unvollständig und unrichtig unsere Erinnerungen oft sind. Es zeigte sich auch, wie verblüffend fragil sie sind. Schon behutsame Suggestivfragen hatten die Macht, sie ein für allemal abzuändern. Kam in der Frage das Wort "raste" vor, so schätzten die Zeugen die Geschwindigkeit des betreffenden Wagens viel höher ein als nach dem Wort "fuhr". War in der Szene ein Vorfahrtschild zu sehen gewesen und wurden sie dann gefragt, ob sie das Halteschild bemerkt hätten, so erinnerten sich die Zeugen felsenfest an ein Halteschild und waren selbst durch Warnungen vor ausgestreuten Fehlinformationen nicht mehr davon abzubringen.

"Viele Versuche", schrieb Loftus, "die originale Erinnerung hervorzulocken, nachdem sie abgeändert worden ist, sind fehlgeschlagen. Das könnte bedeuten, dass eine Erinnerung von Ereignissen geändert werden kann, die nach der Einspeicherung der ursprünglichen Erinnerung stattgefunden haben. Wird jemand neuen Informationen ausgesetzt, so scheinen diese ältere unwiderruflich zu ersetzen ... Die Erinnerung scheint nicht von Dauer zu sein. Vielmehr haben wir einen Mechanismus für die Aktualisierung von Erinnerungen, der manchmal die originale Erinnerung intakt lässt, manchmal aber nicht."

Auch in dieser Hinsicht arbeitet das Gedächtnis offensichtlich nicht unähnlich einem Computer. Auch der hebt in der Regel nicht sämtliche Zustände auf, die eine Datei im Laufe einer längeren Bearbeitungsgeschichte durchlaufen hat. Was er normalerweise verwahrt, ist immer nur der letzte, aktuellste – und dazu, als Sicherheitsduplikat, vielleicht noch der vorletzte.

Wer diese Beschaffenheit unseres Gedächtnisses in Betracht zieht, wird auch weniger rätselhaft finden, welche Lücken und Tücken der Erinnerung in NS- Prozessen regelmäßig offenbar wurden.

Sachbeweise waren in diesen Verfahren nach so langer Zeit und nach Lage der Dinge kaum noch vorhanden. Ihr Ausgang hing nahezu vollständig ab von Zeugenaussagen – und damit vor allem von der Leistungsfähigkeit des menschlichen Gedächtnisses.

Die Gepeinigten waren seinerzeit kaum in einer Situation gewesen, in der man kühl registriert und memoriert, was einen Strafrichter Jahrzehnte später interessieren mag. "Man verlangt von uns", schrieb ein Zeuge einmal an den Staatsanwalt, "dass wir, wenn wir dabei gewesen sein wollen, auch alles gesehen und alles gehört haben müssen. Dabei waren wir vor Angst und Schrecken nahezu gelähmt, und unsere Sinne nahmen kaum etwas wahr. Man fordert von uns, die Stunden, den Tag zu nennen; aber wir besaßen im Lager keine Uhr, keinen Kalender, wir wussten oft nicht einmal, ob es ein Sonn- oder Feiertag war. Wir sollen das Aussehen unserer Henker beschreiben. In ihren Uniformen aber sahen sie für uns alle gleich aus. Wenn wir uns dann ... in einem Punkt irren, werden unsere Aussagen in Bausch und Bogen abgetan."

Oft hatten die Opfer immer wieder ähnliche Situationen erlebt, und mit der Zeit waren diese in ihrer Erinnerung verschmolzen. Jetzt musste es ihnen entsprechend schwer fallen, bestimmte Vorkommnisse genau zu datieren und mit ganz bestimmten Personen zu verbinden.

Dazu kam, dass die Opfer sich oft jene Ereignisse jahrzehntelang immer wieder vergegenwärtigt, mit anderen Leidensgefährten darüber gesprochen, viele zum Verwechseln ähnliche Geschichten zu hören bekommen und sich dabei lebhaft vorgestellt hatten – alles Umstände, sehr dazu geeignet, die ursprünglichen Erinnerungen durch Pseudoerinnerungen zu ersetzen. Adalbert Rückerl, als Leiter der Zentralstelle in Ludwigsburg ein Sachkenner wie kaum ein anderer, schreibt dazu: "Zeugen, die sich in den Jahren nach dem Kriegsende häufiger ... mit ehemaligen Leidensgefährten getroffen haben, (haben) heute Schwierigkeiten, Selbsterlebtes und nur Gehörtes sicher auseinander zu halten, zumal sich in diesen Fällen der äußere Rahmen der eigenen Erlebnisse mit dem des lediglich Gehörten deckt ... Dies gilt weniger für den Kern des Geschehens, sondern mehr für Details, die zur Tatzeit für den Zeugen belanglos waren, aber heute von prozessentscheidender Bedeutung sein können."

Alles dies ist genauso zu erwarten, wenn nicht die Videorecorder-Theorie, sondern die Theorie vom Gedächtnis als rekonstruktivem Prozess richtig ist. Es ist das Los vieler Erinnerungen, mit der Zeit entstellt und verformt zu werden. Aber an der Zahl richtig behaltener Einzelheiten darf man ihre Glaubwürdigkeit nicht messen. Vieles kann verfälscht sein, ohne dass doch der Kem der Erinnerung unrichtig ist.

Wenn auf der anderen Seite ihre Peiniger von einst von nichts mehr etwas wissen wollen, so ist der erste Verdacht natürlich der, dass sie aus durchsichtigen Gründen und angesichts der mit der Zeit zunehmenden Beweisschwierigkeiten schlichtweg planvoll lügen, nach der Devise "Das sollen die mir erst einmal nachweisen". Man darf das so deutlich behaupten, da starke Erlebnisse in der Regel besonders gut im Gedächtnis haften. An die wenigen Greuelszenen, die Eichmann selber mitangesehen hat (ihm wurde dabei schlecht), konnte er sich sogar hervorragend entsinnen. (Wo das Morden allerdings zur Routine wird, kann es aber wohl dahin kommen, dass selbst die nach Normalmaßstäben unerhörtesten Vorfälle nur noch blasse Spuren im Gedächtnis hinterlassen.) Anders als ihre Opfer, werden sich die Täter mit jenen Szenen später auch seltener innerlich beschäftigt, sich seltener mit anderen darüber unterhalten haben, so dass sie auch weniger Gelegenheit hatten, die alten Erinnerungen zu redigieren. All das spricht dafür, dass sie sehr wohl noch wissen, was sie so kategorisch zu wissen abstreiten.

Trotzdem könnte es auch bei ihnen einmal vorkommen, besonders dann, wenn sie es mit ihrem Stolz schwer vereinbar finden, einmal Handlanger einer Mordindustrie gewesen zu sein: dass sie weder schlichtweg lügen noch etwas in das mysteriöse "Unbewusste" verdrängt haben, sondern sich jene Szenen immer wieder vorgestellt, sie immer wieder retuschiert haben, manche Passagen auslassend, andere ausbauend, bis sie, subjektiv ehrlich, eine Erinnerung ihr eigen nannten, die mit den tatsächlichen Vorgängen nicht mehr viel zu tun hatte.

 

Unsere Gedächtnisse sind manchmal leider ein Sieb, aber immer ein Filter, der uns vor Fluten irrelevanter Informationen schützt. Sie verfügen über wunderbar aufnahmefähige Speicher, aus denen wir uns in der Regel durchaus im Kern verlässlich bedienen. Indem sie festhalten, was wir einmal durchgemacht haben und gewesen sind, geben sie uns unsere Identität. Aber weil sie keine starren Erlebniskonserven stapeln, sondern sich flexibel auf wechselnde Ansprüche und Erwartungen einstellen, ist ihren Produktionen gegenüber Misstrauen angezeigt –  und den selbstgewissesten gegenüber das größte. •

 

 

Der Geisterkrieg

Wie durch Nacherzählen Gerüchte entstehen

Eines Nachts gingen zwei junge Männer aus Egulac hinunter zum Fluss, um Robben zu jagen, und als sie dort waren, wurde es neblig und ruhig. Dann hörten sie Kriegsrufe und dachten: "Das ist vielleicht ein Kriegszug." Sie flohen zum Ufer und versteckten sich hinter einem Stamm. Jetzt erschienen Kanus, und sie hörten die Geräusche von Paddeln und sahen, dass ein Kanu zu ihnen herankam. Es waren fünf Männer im Kanu, und sie sagten:

"Was meint ihr? Wir wollen euch mitnehmen. Wir fahren flussaufwärts, um gegen die Leute Krieg zu führen."

Einer der jungen Männer sagte: "Ich habe keine Pfeile."

"Pfeile sind im Kanu", sagten sie.

"Ich komme nicht mit. Es könnte mich ja das Leben kosten. Meine Verwandten wissen nicht, wo ich hingegangen bin. Aber du", sagte er und wandte sich an den anderen, "kannst mitfahren."

Einer der jungen Männer ging also, und der andere kehrte heim.

Und die Krieger fuhren flussaufwärts zu einer Stadt jenseits von Kalama. Die Leute kamen zum Wasser herunter, und der Kampf begann, und viele verloren das Leben. Aber bald darauf hörte der junge Mann einen der Krieger sagen: "Schnell, gehen wir nach Hause: Dieser Indianer da ist getroffen." Jetzt dachte er: "Ach, das sind Geister." Er fühlte sich nicht krank, aber sie sagten, er sei erschossen.

So fuhren die Kanus denn zurück nach Egulac, und der junge Mann ging an Land und zu seinem Haus und machte ein Feuer. Und er erzählte allen und sagte: "Seht, ich begleitete die Geister, und wir fuhren zum Kampf. Viele unserer Genossen fanden den Tod, und viele unserer Angreifer fanden den Tod. Sie sagten, ich sei getroffen, und ich fühlte mich gar nicht krank."

Er erzählte es alles, und dann wurde er still. Als die Sonne aufging, stürzte er. Etwas Schwarzes kam ihm aus dem Mund. Sein Gesicht verzog sich. Die Leute sprangen und riefen. Er war tot.

*

Nacherzählung nach knapp zwei Monaten

Da waren Geister. Da fand ein Kampf zwischen ihnen statt. Einer von ihnen fragte: "Wo sind die Pfeile?" Der andere sagte: "Sie sind im Kanu." Etliche von den Kämpfern wurden verwundet oder getötet. Einer von ihnen wurde verwundet, war aber nicht tot. Sie ruderten ihn im Kanu zu seinem ein paar Meilen entfernten Dorf. Am Tag darauf kam etwas Schwarzes aus seinem Mund, und sie riefen: "Er ist tot."

*

Nacherzählung (anderer Erzähler) nach über vier Monaten

Titel weiß ich nicht mehr.

Da waren zwei Männer in einem Boot, die zu einer Insel fuhren. Als sie sich der Insel näherten, kamen ihnen einige Eingeborene entgegengelaufen und erzählten ihnen, dass auf der Insel ein Kampf im Gange sei, und luden sie ein, mitzumachen. Der eine sagte zum andern: "Besser, du gehst. Ich kann nicht gut, denn ich habe Verwandte, die mich erwarten, und sie würden nicht wissen, was aus mir geworden ist. Aber du hast niemand, der dich erwartet." So begleitete einer die Eingeborenen, und der andere kehrte zurück.

Jetzt kommt etwas, woran ich mich nicht erinnere. Was ich nicht weiß, ist, wie der Mann zum Kampf kam. Auf jeden Fall war der Mann mittendrin und wurde verwundet. Die Eingeborenen bemühten sich, den Mann zu überzeugen, dass er zurückkehrte, aber er versicherte ihnen, dass er nicht verwundet war.

Es kommt mir so vor, als habe sein Kämpfen die Bewunderung der Eingeborenen erregt.

Schließlich fiel der Verwundete in Ohnmacht. Die Eingeborenen brachten ihn vom Kampf fort.

Dann, so war es, glaube ich, beschreiben die Eingeborenen, was passiert ist, und sie scheinen sich vorgestellt zu haben, dass sie gesehen haben, wie ihm ein Geist aus dem Mund kam. In Wirklichkeit war es eine Art Materialisation seines Atems. Ich weiß, dieser Satz stand nicht in der Geschichte, aber so kommt es mir vor. Schließlich starb der Mann am Tag darauf bei Sonnenaufgang.

*

Nacherzählung (anderer Erzähler) nach knapp vier Monaten

Zwei Jünglinge gingen zum Fluss hinunter, um Robben zu jagen. Sie versteckten sich hinter einem Felsen, als ein Boot mit einigen Kriegern herankam. Die Krieger sagten aber, dass sie Freunde wären, und luden sie ein, mit ihnen gegen einen Feind drüben am anderen Ufer zu kämpfen. Der Ältere sagte, er könne nicht mitkommen, weil seine Verwandten so beunruhigt wären, wenn er nicht nach Hause käme. So fuhr der Jüngere mit den Kriegern im Boot mit. Am Abend kehrte er zurück und erzählte seinen Freunden, dass er in einem mächtigen Kampf gekämpft habe und dass auf beiden Seiten viele ums Leben gekommen waren.

Nachdem er ein Feuer entzündet hatte, zog er sich zum Schlafen zurück. Als am Morgen die Sonne aufging, wurde er krank, und seine Nachbarn kamen zu Besuch. Man hatte ihm gesagt, er sei im Kampf verwundet worden, habe dabei aber keine Schmerzen gefühlt Aber bald ging es ihm schlechter. Er zuckte und brüllte und fiel tot zu Boden. Etwas Schwarzes kam aus seinem Mund.

Die Nachbarn sagten, er müsse mit Geistern gekämpft haben.

*

Nacherzählung (gleicher Erzähler) nach zweieinhalb Jahren

Einige Krieger zogen aus, um gegen die Geister Krieg zu führen. Sie kämpften den ganzen Tag, und einer von ihnen wurde verwundet.

Am Abend kehrten sie nach Hause zurück und trugen ihren kranken Kameraden. Als der Tag zur Neige ging, ging es ihm zusehends schlechter, und die Leute aus dem Dorf umringten ihn. Bei Sonnenuntergang seufzte er; etwas Schwarzes kam ihm aus dem Mund. Er war tot.

 

»Folge 5

»Literaturnachweise

»Home