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Die ZEIT/Literatur, Nr.43, 17.Oktober 1997, S.28

© 1997 DIE ZEIT und Dieter E. Zimmer

 

Meisterwerk der Schluderei

Die angebliche Nabokov-Biographie des Boris Nossik

Von Dieter E. Zimmer

 

NABOKOV UND die Biographen – ein Kapitel für sich, ein heikles, ein abgründiges.

Seit das Exil Vladimir Nabokov zwang, seine eigene russische Vergangenheit aus dem Gedächtnis auf das Genaueste zu rekonstruieren, beschäftigten ihn die Möglichkeiten und Grenzen der Biographie. Wie kann der Biograph je einem fremden Leben gerecht werden? Kann er es überhaupt? Immer wieder taucht die Frage in seinen Romanen und Erzählungen auf; von nichts anderem handelt sein Roman Sebastian Knight. Wiederholt malte Nabokov sich entsetzt aus, wie die Einmaligkeit eines Lebens in der Hand eines banausischen Biographen zu purer poschlost wird, einem grauenhaften Schundroman.

Als Gegenstand einer Biographie sah er sich selbst höchst ungern. Sein eigenes Privatleben, fand er, gehe niemanden etwas an. Genug, daß er, dem Selbstoffenbarungen zuwider waren, nicht umhin konnte, sich in seinem Werk immer wieder zu offenbaren. Erträglich war es ihm nur, weil er sich dort gleichzeitig auch immer verstecken konnte.

Als ihm jedoch gegen Ende seines Lebens klar wurde, daß er den Biographen nicht entgehen würde, ließ er schließlich einen der Aspiranten gewähren, den Literaturwissenschaftler Andrew Field, der sich durch ein dickes Werk über seine Romane empfohlen hatte. Nabokov stellte ihm privates Material aus seinem Archiv zur Verfügung, ließ sich von ihm ausführlich befragen – um dann, als Field ihm 1972 sein 650-seitiges Manuskript schickte, seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet zu sehen. Er las es als Travestie seines Lebens. Sicher wurmte ihn auch, daß Field eine Liebesaffäre ausplauderte, die vor Jahrzehnten Nabokovs legendär glückliche Ehe kurz gefährdet hatte. Zu derlei Subtilitäten aber drang ihre Auseinandersetzung gar nicht vor, denn Fields Manuskript wimmelte von sachlichen Fehlern aller Art, und wenigstens die gröbsten von ihnen wollte Nabokov, der ein großes Faible fürs richtige Detail hatte, behoben sehen.

Fünf Jahre lang schlug er sich mit seinem Biographen herum. Sein letzter Roman, Sieh doch die Harlekine!, läßt sich auch als Versuch lesen, den Albtraum Field abzuschütteln, indem er sein eigenes Leben nun einmal so erzählte, daß rein gar nichts stimmte, kein Name, kein Datum, kein Titel, nicht das kleinste Faktum. Field leistete Widerstand bis hin zum Erpressungsversuch (... dann verrate ich der Welt, daß Sie Ihre Mutter ‚Lolita‘ genannt haben... – eine so perfide wie haltlose Anschuldigung, die er sich schlicht aus den Fingern gesogen hatte). Sein Fall war ernster als der eines seiner Fehlbarkeit bewußten Historiographen. Er hielt seine erbarmungslos affektiert geschriebene Biographie für ein Kunstwerk und damit für hoch erhaben über alle platten Fakten. Daß er den Beginn der russischen Revolution ins Jahr 1916 und die deutsche Inflation nach 1929 verlegte, die Chronologie der Werke gründlich durcheinanderbrachte, sich in dieser Konfusion dauernd in Widersprüche mit sich selbst verwickelte und fehlende Detailkenntnisse mit trüben Erfindungen auffüllte – was verschlug es, da er es doch alles so einmalig originell und witzig beschrieben hatte, geradezu, nicht wahr, nabokovisch. Kurz, Nabokov war an die schlimmste Sorte von Biographen geraten: die unbelehrbar eitle.

Die Sache kam erst Anfang 1994 zum Abschluß. Field hatte in Nabokovs Todesjahr 1977 eine stark gekürzte und oberflächlich reparierte Fassung veröffentlicht und 1986 eine weniger manierierte, aber boshaftere Langfassung, mitsamt dem „Mutter-Lolita“-Vorwurf. Diese rezensierte 1992 der Literaturredakteur des Sunday Telegraph, David Sexton. Er kam zu dem nicht weither geholten Schluß: „Fields Inkompetenz und Boshaftigkeit haben [Nabokov] die letzten Tage seines Lebens vergällt und nach dem Tod seinem Ruf geschadet.“ Inzwischen Dozent an einer australischen Universität, reichte Field Verleumdungsklage ein. Die Verhandlung vor einem Londoner Gericht dauerte nicht lange. Schon bei der ersten Befragung des Klägers glänzte dieser durch Ignoranz; nach wie vor hielt er Tatsachen für unter seiner Würde. Um sich weitere Blamagen zu ersparen, zog Field seine Klage schleunigst zurück, ließ seine Nabokov-Sammlung versteigern und verschwand von der Bildfläche.

Inzwischen aber hatte sich jemand anders die Arbeit gemacht, für die sich Field zu gut gedünkt hatte, der neuseeländische Literaturwissenschaftler Brian Boyd. Seine 1990/91 erschienene Nabokov-Biographie (die deutsche Übersetzung bereitet der Rowohlt Verlag vor[1]), zwei schwere Bände von 1400 engbedruckten Seiten, brachte die wünschenswerte Ordnung in das von Field angerichtete Tohuwabohu, mit einer herkuleischen Kraftanstrengung, denn Nabokovs russische und exilrussische Vergangenheit, immer nur dünn dokumentiert, war inzwischen noch ferner gerückt als zu Fields Zeiten, und der Protagonist war lange tot und konnte nicht mehr befragt werden. Boyd suchte und fand, was Field verachtet hatte: Tatsachen. Ihre Zahl und ihre Härte geben seinem Werk etwas durchaus Definitives. Die Latte für Nabokov-Biographen in spe liegt seitdem sehr hoch. Entweder müßten sie mit neuen Tatsachen von Gewicht aufwarten oder die alten auf radikal neue Art interpretieren können; beides ist extrem unwahrscheinlich. Wenn es mit rechten Dingen zugeht, kann es auf absehbare Zeit also eigentlich keine weitere Nabokov-Biographie geben.

Trotzdem liegt da plötzlich etwas in den Buchhandlungen, das sich „Vladimir Nabokov – Die Biographie“ nennt. Nicht „eine“, „Die“. Ihr Verfasser ist ein in Paris lebender russischer Literat, Boris Nossik, der Nabokovs Witwe einmal durch eine schlechte russische Raubübersetzung aufgefallen war. Der Aufbau-Verlag hat’s übersetzen lassen.

„Die Biographie“ führt vor, daß man mit einer hoch liegenden Latte auch ganz anders fertig werden kann. Man muß ja gar nicht drüber weg. Man kann auch unbekümmert unten durch. Stolzer Blick in die Runde. „Da bin ich!“ Und mit rechten Dingen muß es auch nicht zugehen. Man muß ja gar nicht selber recherchieren, da reichen ein paar Plauderstunden mit Anverwandten und Bekannten des Opfers; alles andere kann man irgendwo abschreiben.

Nossiks Opus ist von vorne bis hinten abgeschrieben, wahllos mal bei Field, mal bei Boyd. Die einzige Neuigkeit, die Nossik mitzuteilen hat, ist soweit ich sehe die, daß Nabokov 1923 seine spätere Frau Véra nicht auf einem Wohltätigkeitsmaskenball in Berlin kennen gelernt haben soll; vielmehr habe sie, eine Bewundererin seiner jugendlichen Verse, ihn zu dem ersten Rendezvous auf eine Brücke im Tiergarten gebeten. Nossik behauptet es nicht wirklich, er hält es nur für denkbar, und es ist nur alter Emigrantenkolonieklatsch, vielleicht richtig, vielleicht nicht, egal.

Das Buch hat keine Bibliographie und nur ganz wenige Quellennachweise. Schon an der Oberfläche eklatant falsch wie Fields Urmanuskript ist es nur darum nicht, weil Nossik, eher auf Verunklärung bedacht, falsifizierbaren Faktenbehauptungen von vornherein möglichst aus dem Weg geht. Meist weiß der Leser nicht genau, in welchem Jahr er sich befindet, manchmal ist nicht einmal das Jahrzehnt zu erahnen. Manches steht doppelt und dreifach da, zum Beispiel, daß 1940, bei der Ankunft in New York, niemand die Familie Nabokov von der Pier abgeholt hat. Dafür fehlt Wichtiges ganz. Zum Beispiel sagt Nossik über Nabokovs Wechsel vom Russischen zum Englischen, immerhin das wichtigste Ereignis in Nabokovs Schriftstellerleben, nur, daß er „plötzlich“ seine Muttersprache aufgegeben habe und daß das „frappierend“ sei. Tatsächlich zog sich der Prozeß der Loslösung vom Russischen über Jahre hin. Er ist genau belegbar, und frappierend daran ist nur, daß er gelang.

Immer wieder gerät der Leser ins Zweifeln, ob Nossik wenigstens Nabokovs Bücher gelesen hat. Manche seiner Inhaltsangaben sind so geartet, daß selbst der Kenner hinterher garantiert nicht mehr begreift, wovon das betreffende Buch eigentlich handelte. Zwei als Erzählungen veröffentlichte Fragmente eines letzten russischsprachigen Romans hält er für eine Fortsetzung des Romans Die Gabe, die Kurzgeschichte ... daß in Aleppo einst für eine „Erzählung über Aleppo“ (es ist eine Erzählung über die Eifersucht, mit einem Othello-Zitat, in dem der Ortsname Aleppo fällt). Nossik zitiert ausgiebig aus Nabokovs Autobiographie, deren Titel er mal mit Schlüssige Beweise, mal mit Glaubhaftes Zeugnis angibt, während die Übersetzer, die wenigstens diese langen Zitate nachgeprüft haben, aus Erinnerung, sprich zitieren. Der Leser muß denken, er habe es mit drei verschiedenen Memoiren zu tun. Offenbar haben Nossik, seine Übersetzer und der Aufbau-Verlag es nicht einmal für nötig befunden, einen Blick auf eine simple Zeittafel und Titelliste zu werfen, wie sie sich etwa am Ende von Rowohlts kleiner Monographie findet. (Des Rätsels Lösung: die amerikanische Urfassung der Memoiren hieß 1951 Conclusive Evidence; seit der britischen Ausgabe im gleichen Jahr heißt das Buch Speak, Memory, nichts sonst.)

Wo ihn Nabokovs Memoiren im Stich lassen, zitiert Nossik aus dessen Romanen, und genau das dürfte ein Nabokov-Biograph nicht. Mit Sicherheit enthalten die Romane und Erzählungen Reflexe eigenen Erlebens, aber das Privatleben eines Verschlüsselers und Verwandlers aus Prinzip, wie Nabokov es war, läßt sich beweiskräftig niemals aus seinen Romanen erschließen.

Auch wenn sie nicht die schlüssigen Beweise sind, für die Nossik sie hält, sind alle diese Zitate für den Leser immerhin eine Erholung. Sonst stößt er in dem Buch nur auf Nossik und ein paar ausgewürfelte und teilweise nicht einmal identifizierte Kommentatoren, etwa die wiederkehrenden „Lolita- [oder Nabokov-]Forscher und Neuropsychologen“, so als wäre die Nabokov-Forschung ein eigenes wimmelndes Universitätsfach. Die Neuropsychologen wiederum sind in Wahrheit nur Elizabeth Klosty Beaujour, von Nossik durchweg „Costly Beaujour“ genannt, die 1989 ein Buch über zweisprachige russische Exilschriftsteller geschrieben hat und im übrigen gar keine Neuropsychologin ist, sondern Slawistin mit neurolinguistischen Interessen.

Hätte Nossik nur abgeschrieben, so wäre sein Elaborat aber noch relativ harmlos, denn seine Quellen wußten zumeist wenigstens Bescheid. Leider schreibt er immer wieder so schlecht oder rundheraus falsch ab, daß neben seiner, Der Biographie also, sogar die beiden von Field nunmehr geradezu wie Muster an Solidität wirken. Er bedankt sich auch nicht bei jenen, die er hemmungslos ausgeschlachtet hat. Boyd wird einmal leutselig als „der gutinformierte neuseeländische Nabokov-Biograph“ bezeichnet – etwa so, als sagte der Putzerfisch über den Wal: Der hat sich aber dick gefressen! Field wird so vorgestellt: „Das ganze Jahr über [welches?] kam ein bärtiger junger Australier zu den Nabokovs.“ Nun, der Australier war Amerikaner. Mit 33 war er fast so alt wie Humbert, den viele ja als „älteren Mann“ betrachten. Einen Bart trug er damals auch noch nicht. Schließlich kam er kein ganzes Jahr über, sondern ein Dutzend mal im Januar 1971. Die bloße Vorstellung, daß sich Nabokov in seiner Schweizer Altersabgeschiedenheit ein ganzes Jahr lang von irgendeinem bärtigen jungen Australier ausquetschen läßt, ist so haarsträubend abwegig, daß man getrost sagen kann: Dieser Biograph hat von seinem Opfer nicht das geringste verstanden.

 

Ein paar Beispiele für Nossiks Methode werden genügen. Ihr absurder Humor erschließt sich leider nur, wenn man die Wahrheit danebenhält.

„Die Nabokovs mußten die Generalswohnung, die für sie zu teuer geworden war, aufgeben und sich eine billigere suchen.“ Die ungenannten Quellen: Boyd und Nabokov selbst (Nachwort zum Roman Die Mutprobe). Bei Nossik erfährt man nicht, wann dieser Umzug in Berlin stattfand (es war 1932). Er vermerkt nirgends den Einzug in jene Generalswohnung, nur den Auszug. Jener „einbeinige General“ hieß im übrigen nicht Berdeleben, sondern v. Bardeleben. Er war wohl auch kein General, wie Nabokov meinte, sondern Oberstleutnant a.D. Und Nabokovs „Wohnung“ war gar keine; es handelte sich – wie in Nabokovs fünfzehn Berliner Jahren durchweg – um zwei möblierte Zimmer zur Untermiete, in einer „riesigen und düsteren“ Schöneberger Wohnung. Der unscheinbare, aber komplette Irrtum zeigt, daß Nossik keine Ahnung von Nabokovs katastrophalen finanziellen Verhältnissen bis weit in seine amerikanische Zeit hat. Aus dem Humus dieser Ahnungslosigkeit aber läßt er dann andeutungsweise den Vorwurf sprießen, Nabokov sei knauserig gewesen.

„Während der Krankheit sah Nabokov in der Zeitung das Photo eines Schimpansen, und da begann, wie er zwanzig Jahre später erklärte, ‚die erste kleine Pulsation der ‚Lolita‘...‘” Nanu? Lolita angeregt von einem Schimpansenphoto? Das hat Nossik abwechslungshalber nicht von Field oder Boyd falsch abgeschrieben, sondern von Nabokov selbst, und zwar direkt aus Lolita, dem Nachwort: „Der erste leise Pulsschlag von Lolita durchlief mich Ende 1939 oder Anfang 1940 in Paris, zu einer Zeit, als ich mit einem schweren Anfall von Interkostalneuralgie darniederlag. Soweit ich mich erinnern kann, wurde der initiale Inspirationsschauer von einem Zeitungsartikel über einen Menschenaffen im Jardin des Plantes ausgelöst, der, nachdem ihn ein Wissenschaftler monatelang getriezt hatte, die erste je von einem Tier hingekohlte Zeichnung hervorbrachte: Die Skizze zeigte die Gitterstäbe des Käfigs der armen Kreatur.“ Es war also gar kein Photo, sondern ein Artikel; und was Nabokov angeregt hatte, war der Umstand, daß das erste Tier, das je etwas Kunstartiges hervorgebracht hatte, anscheinend den eigenen Käfig zeichnete (so wie nämlich Humbert mit all seiner Kunst dann auch nur den Käfig abbildet, in dem er sein Leben zugebracht hat.)

Gänzlich verloren ist Nossik, als es sein Opfer nach Amerika verschlagen hat. Was soll der Leser aus der Mitteilung machen, Nabokov habe stolz erklärt, „nicht minder amerikanisch zu sein ‚als der Apfelpudding‘ oder als ‚der Frühling in Arizona‘“? Apfelpudding? Frühling in Arizona? Der Ursprung des sinnlosen Gebabbels ist eine Interviewbemerkung Nabokovs: Er sei so amerikanisch wie der „April in Arizona“. Auf die Alliteration kam es an, denn damit wurde die Bemerkung als Nabokovs Variante einer Standardredensart kenntlich, „as American as apple-pie“ – die auch kein Pudding ist.

Mit Mitteln der Ford-Stiftung wurde 1951 in New York ein russischsprachiger Buchverlag (Chekhov) gegründet. Endlich gab es damit wieder einen Verlag, dem Nabokov das seit 1938 im Gepäck schlummernde, als Ganzes ungedruckte Manuskript seines letzten russischen Romans Die Gabe anbieten konnte; es wurde noch im gleichen Jahr veröffentlicht. Den Tip hatte er von dem im Verlagswesen beschlageneren Exilautor Mark Aldanov. Nossik macht daraus: „Der edle Aldanov hatte die reichen Fords gebeten, für die Herausgabe des großen russischen Buches zu spenden. Die Fords kauften die Rechte...“

Field: „1948 nahm Vera Fahrunterricht, und sie kauften ein Auto. Die Entfernungen und das Fehlen öffentlicher Verkehrsmittel machten Autofahren zur Notwendigkeit.“ Nossik schreibt es apart um: „Nach der Ankunft in Ithaca legten sie sich das erste Auto zu. Nabokov setzte sich nicht ans Lenkrad, aber Vera lernte chauffieren. Der Wagen war natürlich ‚kein Luxus, sondern ein Verkehrsmittel‘ – andere gab es nicht in Ithaca.“ Ein Luxus war das Auto übrigens nicht darum nicht, weil es in New York, diesem barbarischen, „schwer begreiflichen Staat New York“, wo Nossik zufolge 1940 „noch nie jemand von Puschkin gehört“ hatte, keine Luxusschlitten oder keine Verkehrsmittel gab, sondern weil es sich um einen acht Jahre alten, schrottreifen beigen viertürigen Plymouth handelte, der es nicht einmal bis Chicago schaffte.[2]

Gut läßt sich Nossik beim ungekonnten Klauen auch an dieser Stelle beobachten: „In diesem ersten Jahr wurde Nabokov eine Amerikanerin vorgestellt, die den Wunsch geäußert hatte, sich in der russischen Sprache zu vervollkommen ... Miss Dorothy Leytold war es beschieden, die lange Hauslehrerkarriere Nabokovs abzuschließen und zum Wiedererwachen seiner Schmetterlingsjagd beizutragen. Jemand sagte Nabokov, es wäre gar nicht schlecht, mit dem Wagen nach Stanford zu reisen. Nabokov besaß keinen Wagen, und Miss Dorothy bot den Eheleuten ihren nagelneuen Pontiac an. Da stellte sich heraus, daß weder Nabokov noch seine Frau fahren konnten. ‚Kleinigkeit‘, sagte Miss Dorothy, ‚ich fahre Sie hin.‘ Diese Idee gefiel ihr sogar: Sie würde ihnen Amerika zeigen und unterwegs noch eine Handvoll russischer Wörter lernen. Sie selbst suchte die Strecke aus und richtete es so ein, daß sie am Südende des Grand Canon rasteten. Es war ein kühler Frühlingstag in Arizona, als Nabokov, der auf einem Pfad in die Schlucht hinunterstieg, eine ganz neue Schmetterlingsart entdeckte. Voller Dankbarkeit gab er dem Falter den Namen seiner letzten Schülerin.“

Das stammt von Field und ist nicht nur fast wörtlich abgekupfert, sondern dabei wundersam verballhornt: „Auf ihrer ersten Reise quer durch Amerika hatten die Nabokovs glücklicherweise eine Fahrerin. Ihr Name war Dorothy Leuthold, und sie war Nabokovs letzte Privatschülerin, eine ledige Amerikanerin, die jahrelang an der New York Public Library gearbeitet hatte. Nabokov hatte sie zufällig kennen gelernt, und sie hatte den Wunsch geäußert, ihre Russischkenntnisse zu erweitern ... Als die Nabokovs ihr erzählten, daß sie nach Kalifornien wollten, bot sie ihnen ihren Wagen an, einen nagelneuen Pontiac, den sie sich gerade gekauft hatte. Aber sowohl Nabokov wie seine Frau hatten genauso wenig Gelegenheit gehabt, Autofahren zu lernen, wie einen Kontoauszug zu lesen – theoretisch war beides simpel genug, aber zwei Jahrzehnte lang war es in ihrem Leben einfach nicht aktuell gewesen. Als ihrer Bekannten und Schülerin das klar wurde, sagte sie: ‚Na, dann fahre ich Sie.‘ Sie fuhr sie nicht nur, sie plante auch die Strecke, die sich südlich hielt und einen besonders einprägsamen Zwischenhalt in Arizona einschloß, denn dort, an einem sehr kalten Junitag am Südrand des Grand Canyon, ging Nabokov einen Pfad die Schlucht hinunter und fing einen neuen Schmetterling, dem er ritterlich den Namen ihrer Fahrerin gab ... Mit den Jahren wurden zahlreiche Schmetterlinge nach Nabokov selbst benannt.“ Ganz richtig war auch das nicht. Der Schmetterling im Grand Canyon war nicht eigentlich neu, sondern wurde von Nabokov, der damals bereits beim Amerikanischen Naturkundemuseum in New York arbeitete und die ganze Reise als Sammelreise angelegt hatte (von wegen „Wiedererwachen seiner Schmetterlingsjagd“!), schließlich als eine noch nicht beschriebene (Unter-)Art identifiziert. „Nach“ ihm (nabokovi) wurden später nur zwei Insekten benannt, und das eine war kein Tag-, sondern ein Nachtfalter. Aber welche Wohltat neben Nossiks Version mit ihrem hochnäsigen „Miss Dorothy“ (als wäre sie Nabokovs Gouvernante), ihrem unwahrscheinlichen „Kleinigkeit!“ und ihrer absurden „ganz neuen“ Schmetterlingsart (offenbar soeben am Südende der großen Kanone entstanden)!

 

Was dieser Pseudobiograph und sein deutscher Verlag dem arglosen Leser als „Die Biographie“ andienen, ist, knapp gesagt, eine so naive, triviale und stümperhafte Schluderei, daß jeder Ärger darüber zuviel der Ehre wäre. Nossiks Dilettantismus neutralisiert geradezu seine Chuzpe. Kenner werden das Werk allerdings als Quell unfreiwilliger Komik zu schätzen wissen.

 

Boris Nossik: ”Vladimir Nabokov – Die Biographie”; aus dem Russischen von Renate und Thomas Reschke. Berlin: Aufbau-Verlag, 1997. 463 S., 68,00 DM.


[1] Inzwischen ist sie erschienen: Brian Boyd Vladimir Nabokov – Die russischen Jahre 1899-1940, Reinbek: Rowohlt, 1999, 944 S. und Vladimir NabokovDie amerikanischen Jahre 1940-1977, Reinbek: Rowohlt, 2005, 1132 S.

[2] Zum Thema „Nabokov und das Auto“ gibt es inzwischen ein Buchkapitel: Ulf Geyersbach „… und so habe ich mir denn ein Auto angeschafft“ – Schriftsteller und ihre Automobile, Berlin: Nicolai, 2006, S.88-97.

 

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